Droht die totale Überwachung im digitalen Kapitalismus?

Daten als Mega-Produkt im digitalen Kapitalismus könnten den Traum von totaler Kontrolle durch Konzerne und Regierungen wahr werden lassen. Bild: John Voo / CC BY 2.0

Die digitale Kontrolle dringt immer tiefer in die Gesellschaft ein. Es ist längst keine kommerzielle Spielerei mehr. In den Händen von Konzernen und Staaten werden Daten zum neuen Disziplinar- und Unterdrückungsinstrument. Ein Buchauszug.

Die Weiterführung von COINTELPRO (Das Counterintelligence Program war ein geheimes Programm des FBI, das ab 1956 politisch aktive Organisationen überwachte) wurde in den 1970er Jahren per Gerichtsbeschluss untersagt und soweit wir wissen, blieb es auch dabei. Ich persönlich vermute, dass wir in vorhersehbarer Zukunft weniger drastische Maßnahmen sehen werden, und zwar aus demselben Grund, aus dem heute keine Interventionen von der Art des Vietnamkriegs mehr durchführbar sind. Der Widerstand in der Bevölkerung ist einfach zu groß. Das Land, oder zumindest große Teile davon, ist heute zu zivilisiert.

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik in den USA, politischer Dissident und einer der meist zitierten Intellektuellen. Er hat rund 150 Bücher verfasst.

Daher denke ich, dass künftige Maßnahmen eher dem entsprechen werden, was Shoshana Zuboff in ihrem Artikel »Früher suchten wir mit Google. Jetzt durchsucht es uns« darlegt, einem Auszug aus ihrem sehr interessanten 500 Seiten langen Buch über das Phänomen, das sie als »Überwachungskapitalismus« bezeichnet. Ihre Hauptaussage ist, dass derzeit Methoden entwickelt werden, um die gesamte Bevölkerung einer totalen Überwachung zu unterziehen. Alles, was man tut, wird aufgezeichnet, und die Daten gehen dann an Google und andere Tech-Unternehmen, die sie für kommerzielle Zwecke nutzen.

Ein Interview mit Noam Chomsky zum Buch "Konsequenzen des Kapitalismus" ist exklusiv auf Telepolis erschienen. Es besteht aus zwei Teilen. 1. "Wir können uns vom grausamen Staatskapitalismus befreien!" und 2. "Massenverehrung für Trump erinnert an Reichsparteitage unter Hitler".

Ein Beispiel dafür ist die Weitergabe von Verhaltensdaten, die für Werbeunternehmen zusammengestellt werden. Persönliche Profile, eine riesige Masse an Daten, die an diese Firmen geschickt werden, die dann ihre PR-Aktivitäten auf die persönlichen Interessen und Schwächen der betreffenden Person abstimmen und außerdem eine Kontrolle über das ausüben können, was diese Person dann tut.

So werden beispielsweise immer, wenn man Auto fährt, von den Autoherstellern massenhaft Daten gesammelt. Bis vor Kurzem wussten sie noch nicht, was sie damit anfangen sollten, aber jetzt arbeiten sie daran, sie gewinnbringend an Werbeunternehmen zu verkaufen. Das funktioniert etwa so: Der Autoverkäufer bietet einem irgendein Extra an und im Gegenzug stimmt man zu, dass das Anzeigegerät am Armaturenbrett Werbung bringen darf. Wenn man dann eine Straße entlangfährt und aus den persönlichen Daten, die über einen gesammelt wurden, hervorgeht, dass man japanische Restaurants mag, erscheint eine Anzeige, die einen darüber informiert, dass das nächste japanische Restaurant nur eine halbe Meile entfernt ist.

Bei all den Geräten, deren Name mit »Smart« beginnt, gehen die gesamten Daten in einen zentralen Speicher, in dem enorme Datenmengen über den Benutzer abgelegt werden. Was jetzt das »Internet der Dinge« genannt wird, ist für die Unternehmen eine gewaltige, aufregende Entwicklung, die es mit sich bringen wird, dass alles in der Nähe einer Person – der Kühlschrank, die Zahnbürste und was sonst noch ein Überwachungsgerät enthält – Informationen darüber sammelt, was diese Person tut.

Zuboff argumentiert ganz plausibel, dies sei ein neues Stadium im Kapitalismus. Im Kapitalismus muss ja, wie Marvin in verschiedenen Kapiteln diskutiert hat, alles in eine Ware irgendeiner Art verwandelt werden. Zuerst wurde das menschliche Leben in Arbeit verwandelt, die gekauft und verkauft wird. Die Natur wurde durch Einhegung und andere Mechanismen in Land (also Privateigentum) verwandelt, das gekauft und verkauft werden kann. Der normale Austausch zwischen Menschen wird in Geld verwandelt. Nun haben wir ein neues Stadium erreicht: Menschliche Erfahrungen können in Verhaltensdaten verwandelt werden, aus denen, um Zuboff zu zitieren, »Vorhersagen erstellt werden können, die gekauft und verkauft werden«.

Den Managern des neuen Stadiums des Kapitalismus ist klar, dass die Befriedigung genuiner Bedürfnisse der Menschen oft weniger lukrativ ist als der Verkauf von Vorhersagen über ihr Verhalten. Daher haben wir jetzt eine neue Stufe des Kapitalismus, in der Geräte nicht für den optimalen Gebrauch des Kunden entwickelt werden, sondern für die optimale Nutzung der über ihn gesammelten Daten durch Unternehmen, die sie nicht zuletzt dazu verwenden, um Kontrolle über ihn auszuüben. Sie können sein Verhalten so modifizieren, dass für sie dabei der maximale Profit herausspringt.

Albtraum totale Kontrolle: Gewerkschaftsbewegung könnte dagegen halten

Außerdem kann diese Art von Verhaltensanalyse auch zur Bestrafung benutzt werden, und das ganz unmittelbar. Wenn jemand Auto fährt und die Versicherungsgesellschaft sieht, dass er bei Rot weitergefahren ist, kann sie ihn sofort warnen, dass sie seine Beiträge erhöhen wird oder sogar so weit gehen, ihm den Motor abzuschalten. Andererseits kann sie für Wohlverhalten Preisnachlässe, Rabatte und Fleißsternchen vergeben.

Obwohl es in Zuboffs Artikel nicht diskutiert wird, kann man sich auch gut vorstellen, dass diese Mechanismen sogar noch intensiver genutzt werden, wenn es darum geht, die Menschen innerhalb jener privaten Diktaturen zu kontrollieren, in denen sie den größten Teil ihres Lebens verbringen, nämlich an dem Ort, den wir als »Arbeitsplatz« bezeichnen.

Die Überwachung in der Industrie begann mit Aufsehern, die herumsaßen und beobachteten, was die Arbeiter taten. Das wurde mit dem sogenannten »Taylorismus« verfeinert, bei dem jede einzelne Verrichtung kontrolliert wurde. Henry Ford führte das Fließband ein, das sehr effizient war, aber eine extreme Form von Kontrolle über den Arbeiter ausübte.

Noam Chomsky im Gespräch mit Michael Schiffmann über »Konsequenzen des Kapitalismus«

Das Problem dabei war, dass die Arbeit dadurch so drückend wurde, dass die Leute nicht mehr mitmachten, weil sie es nicht aushalten konnten. Ford musste an die tausend Arbeiter in der Hoffnung einstellen, dass vielleicht hundert blieben. Das scheint der Hauptgrund für die Einführung des Fünf-Dollar-Lohns bei Ford gewesen zu sein, was meist als altruistische Tat hingestellt wird, aber offenbar Fords Versuch war, seine Arbeiter zum Bleiben zu bewegen.

Daneben betrieb das Unternehmen eine umfassende Überwachung der Arbeiter nicht nur am Arbeitsplatz selbst, sondern auch in ihrem Privatleben. Vertreter der Firma suchten die Arbeiter zu Hause auf, um sicherzustellen, dass sie sich einer angemessenen Lebensführung befleißigten. Da Henry Ford fand, die Arbeiter müssten ein gesundes und moralisch gefestigtes Leben führen, wurden sie sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause genau beobachtet.

Der neue Überwachungskapitalismus geht darüber noch weit hinaus. Nun kann jeder Augenblick im Leben eines Menschen beobachtet werden und das kann man natürlich auch am Arbeitsplatz tun. So hat das Management in den Warenlagern von Amazon (wo die Arbeit ohnehin sehr hart ist) die kürzeste Distanz zwischen zwei gegebenen Positionen bestimmen lassen, und wenn ein Arbeiter, der dort hin und her rennt, zufälligerweise einmal von der kürzesten Strecke abweicht, bekommt er eine Verwarnung.

Wer zu viele Verwarnungen bekommen hat, wird entlassen. Wenn man ein bisschen zu viel Zeit auf der Toilette verbringt – Kündigung. Man unterhält sich ein bisschen zu lang und vielleicht noch mit den falschen Leuten, auch nicht gut. Wer mal schnell in seine E-Mail sieht oder mit jemand telefoniert, bekommt einen Strafpunkt. Das ist eine fabelhafte Technik zur Kontrolle.

Lieferfirmen wie UPS haben sich dieselben Praktiken zu eigen gemacht. Wenn also der Fahrer einmal zurückfahren muss oder die Geschwindigkeitsbeschränkung überschreitet oder irgendwo für einen Kaffee anhält, bekommt er sofort eine Warnung: Du tanzt hier besser nicht aus der Reihe, oder ...

Einige Studien deuten darauf hin, dass das tatsächlich die Produktivität erhöht. UPS konnte dadurch mit weniger Fahrern mehr Lieferungen bewerkstelligen. Das Ganze ist eine sanftere Version früherer Methoden der Sklaverei, bei denen eine Peitsche und eine Pistole die Produktivität ebenfalls beträchtlich erhöhen konnten. Derzeit wird diese Überwachung für die Wirtschaft, für die Werbung und zur Kontrolle der Arbeitskräfte genutzt. Aber wir können uns ziemlich sicher sein, dass dieselbe Art Information bald auch an den Staat gehen, und wenn nötig, auch benutzt werden wird.

Das Ideal hierbei ist vermutlich China, wo diese Methoden schon sehr weit vorangetrieben wurden. Dort wurde ein sogenanntes »Sozialkreditsystem« eingerichtet, bei dem jeder mit tausend Punkten beginnt und dann je nach Verhalten Punkte abgezogen oder dazu bekommt. Das begann als Experiment in einigen Städten und soll jetzt wohl auf das ganze Land ausgedehnt werden.

Überwachungskameras überall, Gesichtserkennung. Wenn man bei Rot über die Ampel geht, gibt es einen Strafpunkt. Wenn man einem alten Mütterchen über die Straße hilft, bekommt man vielleicht einen Fleißpunkt. Im Lauf der Zeit internalisiert man das alles dann. Sehr bald wird man das eigene Verhalten beobachten, weil so viel davon abhängt: internalisierte Disziplin.

Man sieht es schon jetzt in den Fabriken und wir werden es sehr bald auch mit dem Internet der Dinge sehen. Hast du zu lang geschlafen oder zu viel gegessen? Darauf folgt gleich eine Reaktion, entweder Belohnung oder Bestrafung. Das Ganze wird vermutlich zu einer internationalen Kontrolltechnik werden. Ich persönlich vermute, dass man künftig Techniken wie diese einsetzen wird, um für das erwünschte Verhalten zu sorgen.

Außerdem sondert diese Art der Kontrolle die Menschen voneinander ab, da sie hochgradig individualisiert ist, und Individualisierung ist eine weitere Kontrolltechnik, die in vielerlei Zusammenhängen eingesetzt wird.

Wenn wir uns vor einem Alptraum wie diesem schützen wollen, bedarf es dazu einer lebendigen und dynamischen organisierten Gewerkschaftsbewegung. Sie ist es, die im Verlauf der gesamten modernen Geschichte Fortschritte durchgesetzt hat. In den USA wurde der Arbeiterbewegung mit einem ungewöhnlichen Maß an Gewalt und Repression begegnet, mehr jedenfalls als in anderen, vergleichbaren Ländern. Aber sie ist immer aufs Neue wiederauferstanden.

Derzeit befindet sie sich in einer Phase des Rückzugs. Aber sie kann erneut zu einer starken Kraft werden und das wäre dann nicht die einzige, aber eine sehr wichtige Quelle der Hoffnung.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".