"Du sollst nicht funktionieren"
Seite 2: Selbstoptimierung und Lebenskunst
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Wenn die Philosophin, Psychologin und Soziologin - kommt die Kombination zufällig noch jemandem bekannt vor? - Ariadne von Schirach also ein Buch darüber schreibt, dass man nicht mehr funktionieren soll (Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst. 2016. J. G. Cotta'sche Buchhandlung), dann kenne ich mich auf diesem Gebiet also aus; und zum Enhancement/Gehirndoping forsche ich ja nun auch schon seit über zehn, bald fünfzehn Jahren.
Dementsprechend war ich interessiert, als mir von Schirachs Vortrag auf einer Tagung über Meditation und Wissenschaft Ende November/Anfang Dezember in Berlin auffiel. Ihre Festrede, wohlgemerkt, die den Titel des Buches trägt. Also schnell bestellt und dieses an Stelle des Laptops mit auf eine Reise genommen und im Zug gelesen. Man ist ja ein lernfähiges Wesen.
Spätestens im zweiten Kapitel (von fünfen) erwies sich das aber als ziemlicher Fehlgriff. Und was macht man dann im Intercity Express, so ohne Laptop? Sich ärgern und vornehmen, eine Rezension über das Buch zu schreiben, sobald man wieder zuhause angekommen ist.
Problemanalyse: So weit so gut
Von Schirach knöpft sich die Leistungsgesellschaft und den Selbstoptimierungswahn vor. So weit so gut. Ihre Problemanalyse in der Einleitung und im ersten Kapitel liest sich gut, sogar fetzig. Das Wort "Hungermädchen" (S. 19) für Frauen, die vielleicht nicht die Kriterien für eine Anorexie erfüllen, aber doch so aussehen, werde ich mir merken. Ob ich es auch verwenden würde, lasse ich einmal im Raum stehen (Stichwort: Stigmatisierung). Diese Damen als "Kleiderständer" zu bezeichnen, wenn sie in der Modebranche arbeiten, ist sicher witzig. So geht es dann weiter mit vielen literarischen Schönheiten.
Ein anderes Beispiel: "Aus Angst vor dem Tod sterben immer mehr Menschen schon zu Lebzeiten. Man nennt sie dann Untote. Oder Zombies" (S. 168). Ob dieser Stil einem Sachbuch gerecht wird, als welches es der Verlag ausdrücklich vertreibt, steht auf einem anderen Blatt. Aber wir wollen hier ja keine Haarspalterei betreiben. Zumal wir weiter oben schon einmal vom Haarausfall sprachen, der übrigens, wie auch die anderen Symptome, nach meinem Wechsel in die Niederlande nach und nach verschwand.
Der Spaß hörte dann aber doch in von Schirachs zweitem Kapitel ("Schöpferische Geschöpfe") allmählich auf. Ich gewann den Eindruck, dass dem Buch neben all den witzigen Formulierungen vor allem eines fehlte: echte Substanz. Die Autorin wirft zudem die ganze Zeit Fragen auf, ohne sie richtig zu beantworten; und sie verheddert sich ständig in Widersprüche. Zum Beispiel geht es um die Frage, ob der Mensch nun Teil der Natur sei oder nicht, die wir auch vor ein paar Monaten diskutierten (Wie ähnlich sind Tiere und Menschen?).
Natur oder Kultur?
Von Schirach schreibt nun, das könne man so oder so sehen. Sie entscheidet sich dann aber für ein "intuitives" Verständnis von Natur. Demnach sind wir und das, was wir selbst erschaffen, nicht Natur; Natur hingegen "umschließt alles, was mit und neben uns lebt und ein eigenes Dasein hat" (S. 56). Aha. Den Menschen unterscheide vom Tier, dass er sich seine eigenen Lebensumstände schaffen könne. Was Tiere tun, die sich ihren eigenen Bau, ihr eigenes Nest und so weiter erschaffen, erklärt die Autorin nicht.
Auf die Frage der Natürlichkeit kommt sie rund dreißig Seiten später noch einmal zurück. Dort finden sich Wendungen wie: "Doch die Natur des Menschen ist nicht natürlich" (S. 85). Echt jetzt? Eine unnatürliche Natur? Und zur Erklärung: "Die Natur ruht in sich. Der Mensch ist unruhig" (S. 86). Das sind typische Von-Schirach-Wendungen, deren Sinn sich jedenfalls mir nicht erschließt. Doch die größte Überraschung kommt erst ein paar Zeilen später: "Ist nicht das großzügigste Geschenk der Natur, dass man sich als Teil von ihr fühlen kann, geboren im Rhythmus ihres Werdens und Vergehens?" Mich überraschte vor allem, dass von Schirach, die das Problem der Natürlichkeit gerade noch intuitiv gelöst hat, den Menschen qua Gefühl doch wieder in die Natur einordnet.
Schamlose Beispiele
Zugegeben, ab dem dritten Kapitel ("Das bewohnte und das unbewohnte Ich") habe ich das Buch nur noch mit halber Aufmerksamkeit gelesen. Die Autorin setzt auch zunehmend auf persönliche Beispiele, deren Zusammenhang zum Thema mir nicht immer ganz klar war. Aber mich störte vor allem: Die Personen werden mit Vor- und Nachnamen genannt - und dann schamlos vorgeführt. Da ist etwa der erfolgreiche Werbetexter Bruno Rossi, dem es selten an einer Freundin mangelt. Und wenn doch, dann greift er eben auf eine "Edelprostituierte" (S. 58) zurück.
Der Computerfachmann Aram Kenobi hat hingegen keine Freundin, ist dafür aber pornosüchtig (S. 88) und, so die Autorin, ein "moderner Idiot" (S. 90). Über Mario Metzinger erfahren wir, dass sein Vater ihn für einen "Versager" (S. 152) hält; im Gegenzug halte der Sohn den Vater für einen "Egomanen". Nach und nach stellt sich zwar der Verdacht ein, dass von Schirach sich hier Fantasienamen ausgedacht hat. Aber ist dann von den Beispielen vielleicht noch mehr erfunden? Darüber sollte man den Leser in einem Sachbuch nicht rätseln lassen.
Jonglieren mit Werten
Die Analyse ökonomischer Sachverhalte hat mich auch nicht überzeugt. So schreibt die Autorin etwa: "Denn wenn der Wert des Lebens allein in seiner Verwertbarkeit besteht, dann ist es irgendwann gar nichts mehr wert. Kinder und alte Menschen leisten nichts, sie sind einfach, so wie die Natur einfach ist" (S. 76). Gerade wenn man der Konsumgesellschaft auf den Zahn fühlt, wie es in "Du sollst nicht funktionieren" immer wieder geschieht - und auch zu Recht! -, dann darf man doch Kinder und alte Menschen nicht so einfach aus der ökonomischen Gleichung streichen. Ganze Industrien zielen auf Kinder und Ältere als Konsumenten. Und um es einmal makaber auszudrücken: Ein Krebspatient kann schnell zehn- oder gar hunderttausende Euro "wert" sein.
Als letzten Themenkomplex will ich hier auf das Thema "Verantwortung" eingehen, das im Buch mehrmals auftaucht. So erfahren wir erst, das Wesen unserer Verantwortung sei das Wissen vom Leiden und Leben der anderen (S. 62). Warum? Verantwortung unterscheide uns vom Tier und mache uns als Menschen aus (S. 74). Auf der vorletzten Seite des Buchs wird dann darüber erklärt:
Und wir haben die Wahl. Der Mensch ist das Tier, das die Wahl hat, und dass diese Wahl so vielen Menschen auf der Erde immer noch genommen ist, ändert nichts daran. Es liegt am Verhalten jedes einzelnen Menschen, wie die Welt ist. Das ist die Antwort, die wir auf unser Hiersein geben, und das ist die Verantwortung, die es mit sich bringt, am Leben zu sein.
Halten wir fest: Die Philosophin schreibt erst, das Wissen sei das Wesen der Verantwortung; jetzt ist es das Wählen-Können, und zwar selbst dann, wenn einem Menschen die Wahl genommen ist. Von Schirach macht hier Menschen für etwas verantwortlich, für das sie gar nichts können. Meine Verantwortung ist es, die Wahl zu haben, die mir genommen wurde? Was bitte?! Das Prinzip "Sollen impliziert Können" aus dem Ethik-Grundkurs empfehle ich der Autorin noch einmal zu bedenken.