Dunkle Materie als permanente Überraschung

Seite 2: "Das wirkliche Problem ist: Dunkle Materie ist nicht falsifizierbar"

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Unerkannte Schieflage in der Methode

Es gibt viele Gruppen, die hochpräzise Daten aus teuren Großexperimenten gewinnen, und dies aus rechtfertigen müssen. Gerade wegen ihrer Präzision können diese Daten die verschiedensten winzigen Effekte enthalten. Zur Extraktion des gewünschten Signals ist nicht nur das fehlerfreie Herausrechnen nötig, sondern überhaupt die Kenntnis aller Mechanismen. Die Wahrscheinlichkeit von systematischen Fehlern nimmt somit stetig zu und ist prinzipiell nicht quantifizierbar.

Wie Nassim Taleb in seinem Bestseller "The Black Swan" ausführt, sind es eben die unbekannten Unbekannten, die einen Strich durch die Rechnung machen können. Fast zwangsläufig gibt es daher früher oder später Abweichungen von den erwarteten Ergebnissen. In Kombination mit den zahlreichen Möglichkeiten, die von den Theoretikern für die Dunkle Materie vorgeschlagen wurden, ist dies aber gefährlich. Denn es gibt kaum eine unerwartete Beobachtung, die nicht mit entsprechenden Annahmen als Evidenz für dunkle Materie interpretiert werden könnte.

Dass es zu vorläufigen Fehlinterpretationen kommen kann, ist natürlich. Aber erschreckend ist, wie wenig sich Wissenschaftler der Mängel ihrer eigenen Urteilsfähigkeit bewusst sind. Denn ersehnte Entdeckungen wie die Dunkle Materie sind einfach spannender als Fehlersuche. Das Prüfen und Testen bei der Auswertung, das Erwägen eines Irrtums, ist ein frustrierendes Geschäft, die Erwartung des Durchbruchs dagegen, die Vorstellung, die Ersten zu sein, eine süße Frucht. Niemand kann behaupten, davon unbeeinflusst zu bleiben.

Fehlende Selbstreflexion

Es gibt eine grundlegende Asymmetrie, die die Forschung zur Dunklen Materie derzeit methodisch fragwürdig macht. Alle nehmen prinzipiell für sich in Anspruch, den sensationellen Nachweis der Dunklen Materie führen zu können. Dass ein Experiment einen ebenso sensationellen Nachweis der Nichtexistenz erbringt, ist dagegen undenkbar. Denn es gibt sehr viele Arten von Dunkler Materie, über die man spekulieren kann. Eine zu finden, würde für eine Weltsensation reichen. Alle ausschließen kann man nie. Robert Sanders kommt zu dem resignierenden Schluss:

Das wirkliche Problem ist: Dunkle Materie ist nicht falsifizierbar. Der Einfallsreichtum der theoretischen Physiker kann jeder astronomischen Nicht-Detektion mit der Erfindung neuer Kandidaten begegnen.

Robert Sanders

Und so besteht nicht nur die reale Gefahr, dass durch Artefakte eine oder mehrere Arten von Dunkler Materie "etabliert" werden, die dann jede Beobachtung "erklären" können, sondern auch, dass grundsätzlich Alternativen nicht mehr erwogen werden. Denn Dunkle Materie kann auch durch permanente Hinweise, die sie "immer wahrscheinlicher" machen, den Status einer physikalischen Realität erlangen. Man könnte hier die Forschungen von Harry Collins, Peter Galison oder Andrew Pickering zitieren, aber ganz praktisch gesprochen: Eine Behauptung, sei sie auch oberflächlich begründet, prägt sich viel mehr ein als eine Monate später erscheinende Relativierung - sind uns diese Mechanismen aus den Tagesnachrichten nicht allzu bekannt?

Wirkliche Entdeckungen waren in der Wissenschaftsgeschichte dagegen regelmäßig Dinge, die sich niemand wünschte.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" wurde 2010 von "Bild der Wissenschaft" als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet, zwei seiner Bücher sind auch auf Englisch erschienen. In seiner Kolumne "Hinterfragt" bei Telepolis greift er mit einem kritischen Blick Themen rund um die Physik auf.

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