EU-Außenbeauftragter Borrell: Israel setzt in Gaza Hunger als Kriegswaffe ein

Vor allem Neugeborene und Kinder im Kriegsgebiet sind von Unterernährung betroffen. Bild: Democracy Now

Ton aus EU wird schärfer: "Größter Open-Air-Friedhof". Experten sehen Hungersnot in Gaza ähnlich wie in Somalia und Südsudan. Ziehen USA die Reißleine?

Warnungen, dass sich die humanitäre Krise aufgrund von blockierter Versorgung des Gazastreifens in eine Hungerkatastrophe entwickeln werde, haben den Krieg Israels schon seit Beginn im Oktober letzten Jahres begleitet. Nun, nach 23 Wochen Bombardierungen durch Tel Aviv und dem Einmarsch der israelischen Armee in den Norden, scheint sich die Prognose zu bewahrheiten.

Die hergestellte Katastrophe

"Eine Hungersnot steht in den nördlichen Bezirken unmittelbar bevor und wird voraussichtlich irgendwann zwischen Mitte März und Mai 2024 eintreten", heißt es in dem am Montag veröffentlichten Bericht der globalen Initiative Integrated Food Security Phase Classification (IPC).

Die Gruppe, die 2004 von UN-Organisationen und internationalen Hilfsorganisationen gegründet wurde, hat bisher nur zweimal humanitäre Krisen als Hungersnot eingestuft: 2011 in Somalia und 2017 im Südsudan.

Die IPC erklärte zudem, dass den Warnungen, die man seit Dezember ausgesprochen habe, nicht gefolgt und die Bedingungen, um die Katastrophe zu verhindern, nicht erfüllt worden seien. Die Organisation hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass, wenn die Kämpfe nicht eingestellt würden, eine Hungersnot eintreten werde. Die Organisation stellt fest:

Nach dem wahrscheinlichsten Szenario werden sowohl der nördliche Gazastreifen als auch andere Bezirke, ausreichend durch Evidenz belegt, in die IPC-Phase 5 (Hungersnot) eingestuft, wobei 70 Prozent (rund 210.000 Menschen) der Bevölkerung in die IPC-Phase 5 (Katastrophe) fallen.

23 Kinder bisher an Unterernährung gestorben

Die Gruppe verwendet die Einstufung als Hungersnot, wenn mindestens eine der drei Bedingungen erfüllt ist:

- mindestens 20 Prozent der Haushalte haben einen extremen Mangel an Nahrungsmitteln;

- mindestens 30 Prozent der Kinder leiden an akuter Unterernährung; und

- mindestens zwei Erwachsene oder vier Kinder pro 10.000 Menschen sterben täglich an Hunger oder an Krankheiten, die auf Unterernährung zurückzuführen sind.

Nach Angaben der örtlichen Behörden sind in den letzten Wochen mindestens 27 Bewohner, davon 23 Kinder in Gaza an Unterernährung gestorben, während Israel mehrfach Zivilisten angriff, die humanitäre Hilfe abholten, und Lieferungen blockiert hat.

Die EU teilte am Montag mit, dass nur noch 100 Tonnen Hilfsgüter pro Tag den Gazastreifen erreichen, während vor dem israelischen Bombardement täglich 500 Tonnen in die Enklave gelangten.

Wir können nicht zusehen, wie Palästinenser verhungern

Ärzte in Krankenhäusern vor Ort sprechen insbesondere von Dehydrierung und Unterernährung, die vor allem Kinder und ältere Menschen schwer treffen, während das medizinische Personal selbst unter physischer Erschöpfung leidet.

Der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell, verwies am Rande des Außenministertreffens in Brüssel auf die jüngsten Äußerungen von Bundeskanzler Olaf Scholz gegenüber dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, in denen Scholz warnte: "Wir können nicht tatenlos zusehen, wie die Palästinenser verhungern". Borrell sagte daraufhin:

Diese Hungersnot ist keine Naturkatastrophe. Sie ist kein Unfall. Es handelt sich nicht um ein Erdbeben. Die Not ist gänzlich vom Menschen verursacht. … Bundeskanzler Scholz sagt, dass die Europäer nicht tatenlos zusehen können, wie die Palästinenser verhungern, wenn auf der anderen Seite der Grenze Lebensmittel für Monate in Vorräten lagern, während gegenüber auf der Straße Menschen vor Hunger sterben.

"In Gaza stehen wir nicht mehr am Rande einer Hungersnot, sondern wir befinden uns in einer Hungersnot, von der Tausende von Menschen betroffen sind", ergänzte Borrell. "Das ist inakzeptabel. Eine Hungersnot wird als Kriegswaffe eingesetzt. … Von wem? Trauen wir uns zu sagen, von wem. Von demjenigen, der verhindert, dass humanitäre Hilfe nach Gaza gelangt", sagte er und fügte hinzu, dass "Israel eine Hungersnot provoziert."

Oxfam: Israel behindert humanitäre Hilfe

Seit Beginn der Bombardierung durch die israelischen Streitkräfte wurden mindestens 31.726 Palästinenser getötet. "Vor dem Krieg war der Gazastreifen das größte Freiluftgefängnis", sagte Borrell. "Heute ist es der größte Friedhof unter freiem Himmel."

Der israelische Außenminister Israel Katz forderte Borrell in einer Antwort auf, "die Angriffe auf Israel einzustellen und unser Recht auf Selbstverteidigung gegen die Verbrechen der Hamas anzuerkennen".

Oxfam International veröffentlichte am Wochenende einen Bericht mit dem Titel "Inflicting Unprecedented Suffering and Destruction" ("Die Erzeugung von beispiellosem Leid und Zerstörung"). Darin wird dargelegt, wie die israelische Regierung absichtlich den Transport humanitärer Hilfe in den Gazastreifen behindert, indem man die Lieferungen einem langwierigen und dysfunktionalen Inspektionsverfahren unterwirft, willkürlich Güter blockiert, Hilfskonvois angreift und die Zahl der Grenzübergänge begrenzt, über die Lieferungen passieren können.

Damit werde gegen das humanitäre Völkerrecht und den Beschluss des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Januar gehandelt, worin Israel vorgeworfen wird, "plausibel Völkermord" zu begehen. Das israelische Vorgehen habe seit der Anordnung des IGH vor fast zwei Monaten sogar zu einer weiteren rapiden Verschlechterung der humanitären Situation geführt.

Kommt der Einmarsch nach Rafah?

Die Hungersnot-Warnungen werden ausgesprochen, während die israelische Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu plant, die Armee in die Stadt Rafah im Süden der Enklave einmarschieren zu lassen. Netanjahu soll die Pläne für den Angriff freigegeben haben. In der Stadt leben weit über eine Million Gaza-Bewohner, die aus allen Teilen von Gaza vertrieben worden sind und nirgendwo anders hingehen können.

Die deutsche Regierung hat deutlich gemacht, dass man die Invasion für nicht gerechtfertigt halte, wie Außenministerin Annalena Baerbock auf X mitteilte. Auch das Weiße Haus in den USA hält einen Einmarsch zum jetzigen Zeitpunkt unter den gegebenen Bedingungen für einen "Fehler".

Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, erklärte gestern nach einem Telefonat von US-Präsident Joe Biden mit Netanjahu, dass Israel ein Team nach Washington schicke, um die Angriffspläne zu diskutieren.

Die Kritik und Mahnungen an Israel von seinen Unterstützern zeigen immer deutlicher, dass es schwierig wird für die politischen Führungen in den USA und in der Europäischen Union, das sich entfaltende Desaster in Gaza im Zuge von Israels Krieg zu rechtfertigen, die Waffen weiter dafür zu liefern und die Netanjahu-Regierung diplomatisch zu schützen, während die innenpolitischen Kosten im Westen ansteigen und der Druck aus den Ländern des Globalen Südens zunimmt.

Für die deutsche Regierung insbesondere unangenehm: Der Internationale Gerichtshof teilte am Freitag mit, dass er am 8. und 9. April Anhörungen in der Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen der Gewährung von Militärhilfe an Israel und der Streichung von Mitteln für das Palästinensische Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) abhalten wird.