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EU-Deal: 50 Milliarden Euro für Ukraine sind ein Rettungsring – keine "blühenden Landschaften"

David Goeßmann

Zerstörte Industrie in der Ukraine. Bild: armyinform.com.ua

Lange wurde mit Orbán gerungen. Die EU-Hilfe wird nun als Stabilisierung der Ukraine gefeiert. Die Realität sieht anders aus. Eine Einschätzung.

Die Medien in Europa atmen erleichtert auf: Viktor Orbán hat endlich nachgegeben. Seit Dezember hatte er die Freigabe von 50 Milliarden Euro als EU-Hilfspaket für die Ukraine verhindert.

Eine gute Nachricht – gewissermaßen

Bei einem zweiten Sondergipfel kam es gestern zum Durchbruch [1] – nach, wie berichtet wird, elf Stunden Druck von Orbáns EU-Amtskollegen, angeführt von Giorgia Meloni aus Italien, Emmanuel Macron aus Frankreich und natürlich Olaf Scholz aus Deutschland. Zuvor waren auch Wirtschaftssanktionen gegen Ungarn [2] im Gespräch. Die Gelder können nun fließen.

Das ist sicherlich eine gute Nachricht, da Kiew das Geld ausging und mit dem EU-Paket sichergestellt werden soll, dass Krankenhäuser, Schulen sowie die Angestellten im öffentlichen Dienst ihre Löhne und Renten erhalten können.

Aber trotz des politischen Showdowns in Brüssel, der dramatischen Zuspitzung und der Erleichterung danach, des Auf-die-Schulter-Klopfens angesichts der "Einigkeit der EU" sollte man sich klarmachen, worüber dort eigentlich entschieden worden ist.

Meist keine Geschenke, sondern Kredite

Denn wenn deutsche Medien wie Tagesschau.de [3] oder in Großbritannien The Guardian [4] nun unkommentiert die Aussage des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj übernehmen, dass mit der Zusage die "langfristige wirtschaftliche und finanzielle Stabilität" der Ukraine gestärkt worden sei, ist das nur die halbe Wahrheit, wenn überhaupt.

50 Milliarden hört sich viel an, aber die Summe wird über vier Jahre gestreckt, also durchschnittlich pro Jahr gut zwölf Milliarden Euro.

Zweidrittel der Hilfen werden als Darlehen gegeben. Das heißt, die Ukraine muss sie irgendwann zurückzahlen. Sicherlich sind die Konditionen günstig, Reuters spricht [5] von "billigen Krediten", es muss auch erst ab 2034, also in zehn Jahren, mit der Rückzahlung begonnen werden [6]. Aber ein großer, überwiegender Teil der EU-Unterstützung ist keineswegs ein Geschenk und "for free".

Die Wirtschaftsindikatoren auf Talfahrt

Bei allem Tamtam um den "Durchbruch" sollten wir ehrlich bleiben: Die Gelder halten die Ukraine mehr oder weniger am Laufen, retten sie vor dem Bankrott bzw. der Zahlungsunfähigkeit in der absehbaren Zukunft. Mehr nicht. Die Wirtschaft wird nicht gestärkt, sondern vielleicht vor dem Kollaps bewahrt.

Das wissen die Entscheidungsträger in den EU-Mitgliedsländern und die Medien auch. In einem Papier des EU-Parlaments [7] von Januar 2024, das die Hilfen für die Ukraine untersucht, werden zum Beispiel die verheerenden Folgen der russischen Invasion auf die ukrainische Wirtschaft zusammengefasst:

- 6,3 Millionen Flüchtlinge haben die Ukraine seit dem Überfall verlassen;

- Kontraktion der Wirtschaft allein im Jahr 2022 um fast 30 Prozent;

- die Arbeitslosigkeit ist auf 24,5 Prozent hochgeschossen;

- die Konsum-Inflation (Verbraucherpreisindex) erhöhte sich auf 20,2 Prozent (2022).

Und so weiter.

Nach Angaben des Finanzministeriums in Kiew [8] ist es der größte Verlust an wirtschaftlicher Aktivität, den das Land seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 erlebt hat.

Zwei Rezessionen, ein Schock

Und dieser wirtschaftliche Zusammenbruch kommt nach zwei Rezessionsperioden in jüngerer Zeit. Der erste Abschwung ereignete sich im Zuge der Donbass-Krise 2014 bis 2015, die zweite Rezession folgte dann im Jahr 2020 während der Covid-19-Pandemie.

Danach schaffte es die Ukraine lediglich, sich durchschnittlich mit gerade mal drei Prozentpunkten Wachstum zu erholen [9].

Nach Angaben des Economic Observatory wird die Ukraine schätzungsweise 13 Jahre benötigen, bevor sich ihre Wirtschaft von dem Schock erholen kann, sollte die Wachstumsrate weiterhin bei drei Prozent liegen. Das bedeutet, dass das Land eine Rekordwachstumsrate von mindestens vier Prozent erreichen muss, um nicht um ein Jahrzehnt zurückgeworfen zu werden, so das Center for Strategic & International Studies [10].

Dafür müssten wiederum zahlreiche Herausforderungen bewältigt werden. Dazu zählt unter anderem die Emigration und der damit verbundene Mangel an Arbeitskräften.

Die Schrumpf-Ukraine

Seit der russischen Aggression ist die Bevölkerung in der Ukraine dramatisch geschrumpft. Demografen schätzen [11], dass die Bevölkerung des Landes von rund 40 Millionen Bewohner in der Vorkriegszeit auf heute weit unter 30 Millionen gesunken [12] ist (durch Flucht sowie infolge der Abtrennung der Krim und des Donbass durch die russische Besetzung).

Tendenz mit voranschreitendem Krieg sinkend. Viele der Geflohenen werden angesichts der Schäden auch in Zukunft davon abgehalten werden, zurückzukehren.

Eine europäische Demografie-Studie [13] geht davon aus, dass die Anzahl von Ukrainern im erwerbsfähigen Alter weiter bis zum Jahr 2040 um ein Drittel zurückgehen könnte, wobei die Zahl der Kinder auf die Hälfte des Vorkriegsniveaus sinken würde. Das hätte sehr gravierende negative Konsequenzen für die Wirtschaft und die Gesellschaft.

Auch die bis heute grassierende Korruption ist ein drängendes Problem. 2021 wurde die Ukraine als das zweitkorrupteste Land der Welt eingestuft, ironischerweise hinter Russland. Es wird befürchtet [14], dass die Eliten im Staatsapparat und der Wirtschaft die Hilfs- und Wiederaufbaugelder zu ihren Gunsten missbrauchen könnten.

Bis zu 1,1 Billionen Dollar

Dazu kommt die notwendige Modernisierung der Infrastruktur [15], die meist noch aus Sowjetzeiten stammt. Auch das wird große Anstrengungen und finanzielle Mittel bedürfen. Allein die Stahlindustrie braucht fast sieben Milliarden Euro.

Und dann ist da der Wiederaufbau. Die Schäden durch die russische Invasion sind jetzt schon enorm.

Schätzungen [16] gehen davon aus, dass die direkten und indirekten Schäden durch die russischen Angriffe allein im Februar 2022 zwischen 564 und 600 Milliarden US-Dollar liegen. Es wird erwartet, dass der Wiederaufbau mindestens ein Jahrzehnt, wenn nicht länger, dauern wird. Die Gesamtkosten werden dabei auf 411 Milliarden bis 1,1 Billionen Dollar [17] taxiert.

Teufelskreis des Niedergangs

Jedes Jahr, das weiter gekämpft wird, verschärfen sich die diversen wirtschaftlichen Parameter – zuungunsten der Ukraine. Es ist ein gefährlicher Teufelskreis des Niedergangs, wie George Beebe vom Quincy Institute es einmal ausdrückte [18].

Je mehr Ressourcen das Land für sein Militär aufwenden muss, desto weniger hat es für die Gründung neuer Handelsunternehmen und den Aufbau einer produktiven Zivilwirtschaft zur Verfügung. Der Agrarsektor der Ukraine – eine der Grundlagen ihrer Wirtschaft – ist bereits dramatisch geschrumpft. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Ackerland wird durch Landminen und andere Schäden verloren gehen, deren Behebung Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Je kleiner die Wirtschaft des Landes ist, desto schmaler wird die Steuerbasis. In dem Maße, wie die Steuereinnahmen sinken, wird die Ukraine immer weniger in der Lage sein, den Bedarf ihrer alternden und durch den Krieg verkrüppelten Bevölkerung an sozialen Diensten zu decken, und noch abhängiger von der finanziellen Unterstützung durch die USA und Europa werden.

Ferner wird ein über Jahre sich hinziehender Zermürbungskrieg die ukrainische Demokratie, Bürger- und Freiheitsrechte, weiter erodieren lassen. Das ist nicht die Schuld der Ukrainer, sondern lässt sich in allen Kriegen beobachten.

Sicherlich, auch die Weltbank und der Internationales Währungsfonds geben der Ukraine Gelder, Kredite, und einige Indikatoren wie das BIP und die Inflation haben sich verbessert [19]. Aber damit kann der Schaden, die ständig wachsende Kriegswirtschaftslücke, nicht gedeckt werden.

Das Märchen von der blühenden Demokratie

Und am Ende wird bei Krediten abgerechnet, denn die EU, der IWF und auch die Weltbank sind keine altruistischen Wohlfahrtverbände. Ab einem bestimmten Punkt, früher oder später, wird verlangt, dass die Ukraine wirtschaftlich auf eigenen Füßen steht.

Die afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Entwicklungsländer (und auch Griechenland) können ein Lied davon singen, wie die westlichen Schuldenregime sie später in sogenannte "Strukturanpassungsmaßnahmen" [20] (sprich: rigide Spardiktate) zwängten, die die Länder, auf Kosten der allgemeinen Wohlfahrt und des Wohlstands der Bevölkerungen, bis heute auspressen.

Das könnte der Ukraine noch bevorstehen. Es wäre zu hoffen, dass es anders kommt, der Westen das Land nicht fallen lässt und sich in ein, zwei Jahrzehnten noch an die Versprechen von damals erinnert.

Aber wer erwartet, dass in den nächsten Jahren mit den 50 Milliarden blühende Landschaften und eine blühende Demokratie in der Ukraine entstehen – zumal parallel zu einem Ressourcen und Menschen aufreibenden Krieg –, der kann das nur tun, wenn er eine ganze Reihe unangenehmer Realitäten ausblendet.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9616105

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/orban-eu-gipfel-104.html
[2] https://www.heise.de/tp/article/Finanzkrieg-in-Europa-EU-droht-Ungarn-mit-Wirtschaftssanktionen-9612071.html
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/orban-eu-gipfel-104.html
[4] https://www.theguardian.com/world/2024/feb/01/eu-agrees-50bn-package-for-ukraine-as-viktor-orban-bows-to-pressure
[5] https://www.reuters.com/world/europe/eu-leaders-propose-annual-debates-ukraine-aid-draft-summit-conclusions-2024-01-31/
[6] https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/IDAN/2023/733763/IPOL_IDA(2023)733763_EN.pdf
[7] https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/IDAN/2023/733763/IPOL_IDA(2023)733763_EN.pdf
[8] https://www.reuters.com/markets/europe/ukraines-economy-falls-304-2022-minister-2023-01-05/
[9] https://www.imf.org/en/News/Articles/2023/06/29/pr23249-ukraine-imf-exec-board-completes-1st-rev-eff-arrangement#:~:text=Despite%20the%20war%2C%20the%20economy,amid%20a%20stable%20FX%20marke
[10] https://www.csis.org/blogs/development-dispatch/road-recovery-ukraines-economic-challenges-and-opportunities
[11] https://www.telepolis.de/features/Der-Mythos-einer-starken-Nachkriegs-Ukraine-9286735.html?seite=all
[12] https://www.heise.de/tp/article/Die-Ukraine-in-der-EU-Traum-oder-realistische-Zukunft-9533156.html
[13] https://population-europe.eu/research/books-and-reports/war-and-future-ukraines-population
[14] https://www.theguardian.com/world/2023/jun/16/as-well-as-fighting-russia-ukrainians-are-battling-corruption-at-home
[15] https://www.csis.org/analysis/modernizing-ukraines-transport-and-logistics-infrastructure
[16] https://www.economicsobservatory.com/rebuilding-ukraine-how-will-policy-makers-shape-the-country-after-the-war
[17] https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-06-21/ukraine-reconstruction-may-cost-1-1-trillion-eib-head-says
[18] https://www.telepolis.de/features/Der-Mythos-einer-starken-Nachkriegs-Ukraine-9286735.html?seite=all
[19] https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/IDAN/2023/733763/IPOL_IDA(2023)733763_EN.pdf
[20] https://thetricontinental.org/dossier-63-african-debt-crisis/