EU-Diplomatie: Interne Dokumente zeigen wachsende Spannungen mit USA

Harald Neuber

EU ringt um Rolle in der Welt. Vertrauliche Protokolle belegen Entfremdung von USA. Was die Dokumente enthüllen, stellt die Ordnung seit 1945 infrage.

Es sind bewegte Zeiten für Europa: Inmitten globaler Krisen und geopolitischer Umbrüche ringen die Europäische Union und Großbritannien um ihre Rolle in der Welt. Die transatlantische Partnerschaft mit Washington ist auf Jahre hin unterbrochen, wenn nicht gänzlich beendet. Eine gemeinsame Perspektive oder womöglich sogar Sicherheitsarchitektur mit der Türkei und erst recht mit Russland ist derzeit kaum vorstellbar.

Und während in Brüssel die Sorge vor einem Auseinanderdriften des Westens wächst, dessen politischer und militärischer Einfluss die Welt nach 1945 maßgeblich geprägt hat, versucht der britische Premierminister Keir Starmer die Beziehungen zu den USA und der EU neu auszubalancieren. Ob ihm dieser Drahtseilakt gelingt, ist derzeit nicht auszumachen.

Hinter den Kulissen der Macht laufen die diplomatischen Drähte heiß. Insiderberichte zeichnen das Bild einer EU, die um Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit ringt, während Großbritannien seinen Kurs zwischen den Großmächten zu finden sucht. Stehen wir vor einer Zeitenwende in den internationalen Beziehungen?

Drei Jahre nach Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine stehen die transatlantischen Beziehungen vor einer Zerreißprobe. Interne Protokolle aus EU-Ratsarbeitsgruppen, die Telepolis einsehen konnte, zeichnen das Bild einer Europäischen Union, die um Zusammenhalt und Eigenständigkeit ringt, während die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten immer stärker infrage steht.

UN-Generalversammlung im Blick

Anlässlich des dritten Jahrestags des russischen Angriffs traf sich der Rat für Außenbeziehungen (RfAB) am 24. Februar 2025 in Brüssel. Laut einem vertraulichen Bericht der Ständigen Vertretung der EU warb der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha bei dieser Gelegenheit eindringlich für eine fortdauernde Unterstützung seines Landes – finanziell, militärisch und politisch. Dazu gehöre auch eine geschlossene Haltung bei der anstehenden Abstimmung zu einer Resolution der Ukraine im Rahmen der UN-Generalversammlung.

In der anschließenden internen Aussprache forderte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas, der Quelle zufolge eine enge Abstimmung mit den USA, eine andauernde Unterstützung der Ukraine, verstärkte Investitionen in die europäische Sicherheit inklusive der Abwehr hybrider Bedrohungen sowie vermehrte Anstrengungen in der globalen Diplomatie. Doch hinter den Kulissen wachsen die Zweifel am transatlantischen Schulterschluss.

"Ein entscheidender Zeitpunkt für die Zukunft Europas ist erreicht, an dem sich die EU dringend in einer einigen und koordinierten Weise positionieren muss", heißt es aus der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der EU Februar.

Viele Mitgliedstaaten hätten gefordert, dass bei möglichen Friedensverhandlungen nichts über die Köpfe der Ukraine und der Europäer hinweg entschieden werden dürfe. Bloß: Niemand in Brüssel und den Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten hat eine Idee, wie diese Position gegenüber der Regierung von Donald Trump durchgesetzt werden kann.

Deutscher EU-Diplomat zu Ungarn und Slowenien

Nach Angaben eines hochrangigen deutschen EU-Diplomaten unterstützen Ungarn und die Slowakei in zunehmender Offenheit den Kurs der USA, die auf einen schnellen Friedensschluss drängen. Fürsprecher dieser Position argumentierten mit der "Vergeblichkeit der bisherigen EU-Unterstützung für die Ukraine". Die Slowakei habe zudem eine vorzeitige Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland ins Spiel gebracht.

Die große Mehrheit der EU-Staaten besteht darauf, den Druck auf Moskau aufrechtzuerhalten. "Der Sanktionsdruck, auch mit Listungen außerhalb der regulären Pakete, muss hochgehalten werden", zitiert der interne Bericht über das Afet-Treffen in Brüssel Staatsminister Tobias Lindner. Deutschland werde sich zudem bei der UN-Resolution enthalten, solange diese den Aggressor Russland nicht beim Namen nenne. Man stimmt aber eben auch nicht dagegen.

Um unabhängiger von Washington zu werden, müsse die EU laut dem Bericht dringend mehr Verantwortung übernehmen. Dazu gehöre eine deutliche Aufstockung der Militärhilfen für die Ukraine. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) habe dazu Vorschläge vorgelegt, die beim Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs am 6. März auf der Tagesordnung stehen. Laut Dokumenten werde dabei eine zusätzliche Unterstützung von bis zu 20 Milliarden Euro anvisiert.

Zugleich müsse die EU massiv in die eigene Sicherheit und Verteidigungsindustrie investieren, heißt es weiter. Solche Ausgaben sollten nicht unter die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts fallen. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik plane außerdem Gespräche mit seinem US-Kollegen und dem US-Sondergesandten für die Ukraine, um für die europäische Sichtweise zu werben.

Doch nicht alle ziehen mit. Ungarn beharrt laut Bericht darauf, dass ein Aktionsplan zum Schutz nationaler Minderheiten in der Ukraine Bedingung für die Eröffnung von EU-Beitrittsverhandlungen sein müsse. Die Slowakei zeige sich "unbeeindruckt" von Appellen zur Geschlossenheit und unterstütze den US-Kurs.

Die Differenzen traten auch bei einem Treffen von Diplomaten und Experten für die Beziehung der EU mit der Asien-Pazifik-Region am 20. Februar offen zutage. Mehrere Mitgliedstaaten äußerten sich besorgt über einen "Wandel in der indonesischen Außenpolitik hin zu Russland", wie es in einem vertraulichen Bericht heißt. Polen, Tschechien, Lettland, Litauen, Schweden, Spanien, Rumänien, Finnland und die Slowakei forderten demnach, dieses Thema beim anstehenden EU-Indonesien-Treffen direkt anzusprechen.

Auch der Brexit wirft seine Schatten. Zwar arbeite man mit London bei der konkreten Unterstützung der Ukraine noch eng zusammen, doch wachse die Befürchtung, dass sich Großbritannien außen- und sicherheitspolitisch eher an den USA als an Europa orientiere.

Die EU stehe vor einer Richtungsentscheidung, heißt es in den Dokumenten. Staatsminister Lindner wird mit den Worten zitiert: "Europa darf seine eigene Rolle und Hebel nicht kleinreden." Deutschland werde die Ukraine weiterhin zuverlässig unterstützen. Doch dafür brauche es eine eigenständige und selbstbewusste EU. Ob dieser Appell in Washington, London und Budapest ankommt, ist fraglich. Und spätestens dann steht Deutschland ziemlich alleine da.