EU-Gipfel: Cameron wird gehätschelt, Farage abgekanzelt

Alles soft. Bild: The European Union

Die EU hat es nicht eilig mit dem Brexit. Wie üblich zieht Merkel die Fäden, doch eine Strategie hat sie nicht

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So viel deutsches Europa war nie. Kaum hatten die drei EU-Präsidenten Juncker, Tusk und Schulz am Freitag in Brüssel gemeinsam gefordert, die Verhandlungen über den Brexit so schnell wie möglich zu beginnen, trat Kanzlerin Angela Merkel auf die Bremse. Sie wolle sich für den Zeitplan "nicht verkämpfen" und nichts überstürzen, gab sie aus dem Kanzleramt den Ton an.

Kurz danach eilten Frankreichs Staatschef Francois Hollande und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi nach Berlin. Dort mühte sich Merkel auf einem Dreiergipfel erfolgreich, die Rufe nach einem Neustart in der EU zu entschärfen. Statt der Abkehr vom deutschen Sparkurs, den vor allem Renzi fordert, war danach nur noch vage von "neuen Impulsen" für die EU die Rede.

Und auch die werden auf die lange Bank geschoben. Schon zu Beginn des EU-Gipfel am Dienstag stellt Ratspräsident Tusk klar, dass es zwar einen Prozess "tieferer Reflexion" über die Zukunft Europas geben soll - zu 27, also ohne Großbritannien. Dieser Prozess soll aber erst auf einem informellen Sondergipfel im September beginnen. Eilig hat es Tusk offenbar nicht.

Auch bei den Austritts-Verhandlungen, die laut EU-Vertrag maximal zwei Jahre dauern können, aber durch eine offizielle Austritts-Erklärung ausgelöst werden müssen, zeigen sich einige EU-Chefs, allen voran Merkel, erstaunlich flexibel.

Vor dem EU-Referendum hatte es noch geheißen, die Scheidungs-Gespräche müssten im Brexit-Fall sofort gestartet werden, gleich beim ersten Treffen mit dem britischen Noch-Premier David Cameron. Alles andere würde die Populisten und Nationalisten stärken und könnte eine Kettenreaktion auslösen.

Diese harte Haltung vertrat am Gipfeltag auch noch das Europaparlament. Cameron solle eine Mitteilung über den Ausgang des Referendums machen, forderten die Europaabgeordneten in einer (nicht bindenden) Entschließung. "Durch diese Mitteilung wird das Austrittsverfahren eingeleitet", so die Parlamentarier. So wollten sie die EU-Chefs drängen, Nägel mit Köpfen zu machen.

Auftritt von David Cameron. Bild: The European Union

Doch die ließen sich nicht drängen. Cameron empfingen sie an diesem Abend herzlich lächelnd, wie einen alten Freund - und nicht wie den bösen Buben, der ganz Europa verzockt hatte. Dem griechischen Premier Alexis Tsipras war so ein netter Empfang nach seinem Referendum vor einem Jahr nicht zuteil geworden; damals hatten die EU-Chefs lauthals seinen Rücktritt gefordert.

Die weiche deutsche Linie: Die Briten können den Zeitpunkt frei wählen

Ganz anders ist die Lage nun. Schließlich geht es nicht um einen "Schuldensünder", sondern um ein ökonomisches Schwergewicht. Die Briten wollen unbedingt den Zugang zum EU-Binnenmarkt behalten, Deutschland möchte unbedingt weiter seine Waren auf die Insel exportieren. "Wir werden in jedem Fall enge Partner und Freunde bleiben", hatte Merkel schon vor dem Referendum erklärt.

Und so wird es eine freundschaftliche, nur selten bittere Aussprache mit Cameron an diesem denkwürdigen Abend. "Ich will, dass der Austritt so konstruktiv wie möglich verläuft", erklärt der Wahlverlierer. Davon, dass er die Verantwortung für einen europapolitischen GAU trägt, sagt er zumindest öffentlich nichts. Wie er sich den Prozess vorstellt, lässt er auch offen.

"Die EU ist erledigt", erklärt gleichzeitig Nigel Farage, der Führer der EU-feindlichen UKIP. "Jetzt lacht keiner mehr", hatte er am Morgen in einem provozierenden Auftritt im Europaparlament erklärt. Farage hat offenbar vor, die britisch-europäischen Scheidungsgespräche persönlich in Brüssel zu begleiten.

Eigentlich müssten die EU-Chefs nun mit ihm sprechen, nicht mit Cameron. Doch das hieße ja, den gefährlichsten und erfolgreichsten Gegner aufzuwerten. Merkel und die anderen EU-Granden verlegen sich daher auf eine andere Strategie: Cameron wird gehätschelt, Farage und seinesgleichen werden abgekanzelt.

Solange Großbritannien seine Austrittsabsicht nicht offiziell erklärt, werde es "keinerlei Verhandlungen über den Scheidungsprozess oder künftige Beziehungen" geben, sagt Gipfelchef Tusk. Kommissionspräsident Juncker verhängt sogar eine Art Kontaktsperre über die Wahlsieger aus dem Brexit-Lager.

Kein Mitarbeiter der Brüsseler Behörde darf sich bis zum Start der Scheidung auf Gespräche einlassen. "Es darf keine informellen, geheimen Verhandlungen geben", heißt die "Ordre de Mufti", wie Juncker selbst halb scherzhaft sagt. Auch "Rosinenpickerei" will man nicht dulden, betont Merkel.

Viele deutsche Medien, allen voran "Spiegel online", machen daraus eine harte Linie. "EU-Partner zeigen Härte", titeln die Hamburger. Doch diese vermeintliche Härte bezieht sich nicht auf den Loser Cameron, sondern nur auf die erfolgreichen EU-Gegner.

In der entscheidenden Frage, wann und wie die Verhandlungen ausgelöst werden, setzt sich dagegen offenbar die weiche deutsche Linie durch: Die Briten können den Zeitpunkt frei wählen, Druck auf Cameron und seine tief gespaltenen Tories - etwa ein Ultimatum oder Sanktionen - soll es nicht geben.

Wenn dahinter eine Strategie steckt, dann wohl jene, auf eine Wende in Großbritannien zu hoffen. Das Land müsse erst die negativen Folgen der Anti-EU-Entscheidung zu spüren bekommen, denkt wohl der der niederländische Regierungschef Mark Rutte. "England ist zusammengebrochen", mit seiner Politik ebenso wie der Währung, der Verfassung und der Wirtschaft, sagt er.

Guter Kontakt zwischen Rajoy, der auf der Suche nach einer Regierungskoalition ist, und Merkel, Bild: European Union

Eine andere, allerdings reichlich vage Hoffnung ist, dass die Briten ihre Wahl noch einmal überdenken und am Ende gar keinen Brexit-Antrag stellen. Das hoffen vor allem Polen und andere Osteuropäer, die eng mit UK verbunden sind. Auch der niederländische Kommissionsvize Frans Timmermans setzt auf ein Comeback: London sei jederzeit "Welcome".

Und was denkt Merkel, die auch bei diesem Gipfel wieder einmal die Fäden zog? Hat sie einen Plan, eine Strategie? Wir wissen es nicht. Denn sie hielt es nicht einmal für nötig, vorab die Journalisten über ihre Absichten zu informieren, wie sonst üblich. Das deutsche Europa fährt auf Sicht, wieder einmal.