EU-Migrationsdeal mit Tunesien: Wegschauen für die Festung Europa

Luca Schäfer
Tunesiens Präsident Kais Saied

Tunesiens Präsident Kais Saied

(Bild: Hussein Eddeb/Shutterstock.com)

Tunesiens Präsident Saied regiert mit harter Hand. Die Opposition landet im Gefängnis, Kritiker verstummen. Doch warum schweigt der Westen zu den Missständen?

Würde die Anwältin Sonia Dahmani in einem Staat der "Achse der Sanktionierten" leben, wäre ihr westliche Aufmerksamkeit zweifellos sicher. Doch die Regierungskritikerin und Anwältin sitzt in Tunesien im Gefängnis.

Nach Informationen von Amnesty International wird sie in Manouba unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Nähe der Hauptstadt Tunis festgehalten.

In der Haft ist sie aufgrund eines zerbrochenen Fensters extremer Kälte ausgesetzt, sie leidet an Diabetes und ihr wurde bisher jeglicher Kontakt zu ihrer Familie verwehrt. Weder aus Berlin noch aus Brüssel war ein Wort des Tadels zu hören.

Doch was wirft man Sonia Dahmani vor? Neben ihrer kritischen Anwaltstätigkeit wurde ihr ein TV-Interview 2024 zum Verhängnis.

Angesprochen auf die anhaltend hohe Migrationsbereitschaft der tunesischen Gesellschaft fragte sie ironisch: "In was für einem tollen Land leben wir, dass die Hälfte der jungen Leute es verlassen will?" Das außergewöhnliche Land ist das Reich des Präsidenten Kais Saied. Das westliche Schweigen hat einen Grund: Migrationsströme.

Vom Hoffnungsträger zum Alleinherrscher?

Anfang Oktober 2024 wurde Kais Saied ohne großes westliches Medieninteresse mit über neunzig Prozent der abgegebenen Stimmen zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt. Die Wahl war eine Farce: Neben Saied wurden nur zwei weitere handverlesene Kandidaten zugelassen. Sie stellten keine Gefahr dar, gebaren aber das demokratische Mäntelchen einer Autokratie.

Dabei trat Saied als neuer Volkstribun an, finanzierte seinen Wahlkampf angeblich selbst, übernachtete in billigen Absteigen, eroberte 2019 mit einem harten Kurs gegen Korruption und das abgehobene politische Tunis 70 Prozent der Stimmen.

Seine Kritiker sahen spätestens in den Maßnahmen vom 25. Juli 2021 einen "Staatsstreich von oben". Das Parlament wurde suspendiert, er regiert seither per Dekret und zum Zeitpunkt der Wahl 2024 befanden sich acht weitere potenzielle Herausforderer in Haft oder unter Hausarrest.

Regierungskritiker und Journalisten stehen unter Generalverdacht und sehen sich einer massiven Repressionsorgie ausgesetzt. Wermutstropfen: Die Wahlbeteiligung war mit unter 30 Prozent die niedrigste seit dem Arabischen Frühling".

Hauptfeind Ennadha-Partei

Eine massive Wirtschaftskrise, ein tief spaltender Rassismus und eine allgegenwärtige Korruption lähmen das Land. Der demokratische Aufbruch seit dem Sturz von Langzeitpräsident Ben Ali ist damit an einem Tiefpunkt angelangt. Genau dafür stand zeitweise die gemäßigt islamische Partei "Ennadha".

Nach Recherchen der BBC sahen sich deren führenden Köpfe auf dem Weg zu einer tunesischen Version der AKP, statt islamistisch wollte man muslimisch-demokratisch sein (in Analogie zu den christdemokratischen Parteien in Europa).

Die postkoloniale Bewegung war unter Ben Ali jahrzehntelang illegalisiert. Zur Überraschung vieler Beobachter betrat sie danach als bestorganisierte Kraft die politische Arena.

Vergleichbar mit dem Triumph der iranischen Revolution arbeitete die Partei in Verbindung mit Moscheen, aber auch, heute bekannt von der libanesisch-schiitischen Hisbollah, über Sozialprojekte, Kindergärten oder islamische Zentren hervorragend vernetzt in die Lokalität.

Kurzum: Ennadha ist ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu den autokratischen Zielen von Kais Saied und den Mächtigen, die seinen Kurs unterstützen.

Mit harter Hand geht der Präsident insbesondere gegen die Ennadha-Führung vor: Immer wieder werden hochrangige Mitglieder vor Terrorismus-Sondergerichte gezerrt, selbst religiöse Autoritäten wie der Vorsitzende des Schura-Rates bleiben nicht verschont.

Unter dem schwer durchschaubaren und selten bewiesenen Vorwurf der Verschwörung gegen die Staatssicherheit entledigte man sich seiner mächtigsten Widersacher, allen voran des in Tunesien populären langjährigen Ennadha-Grandseigneurs Rached Ghannouchi.

Die Liste der kompromittierenden Vorwürfe ist lang: "hetzerische Äußerungen", Korruption oder angebliche Entsendung von Dschihadisten nach Syrien oder Irak.

Mammutprozess mit sicherem Ausgang

Im jüngsten Kapitel wird Mammutprozess angestrebt: Unter dem Vorwurf des Hochverrats und der Umsturzpläne wurden bereits 2023 zahlreiche Personen inhaftiert. Darunter Anwälte, Politiker und Journalisten aller Couleur und Parteien. Was sie eint: ihre Gegnerschaft zu Saied.

Nach mehr als 30 Monaten Wartezeit auf einen Gerichtstermin standen Anfang März rund 52 Personen vor Gericht. Die Angeklagten waren nicht physisch anwesend, der Prozess glich einer Theateraufführung. Ihnen drohen lange Haftstrafen bis hin zur Hinrichtung, die allerdings seit 1991 nicht mehr vollstreckt wurde.

Noch sind die Prozesse nicht abgeschlossen, doch ihr Ausgang gilt als ausgemacht. Denn mit dem Dekret Nummer 35 hat sich die Saied-Administration weitgehend die Kontrolle gesichert. Seit 2022 wurden Dutzende Richter abgesetzt oder versetzt, mit dem stillen Putsch vom 25. Juli sind die Richter und ihre Rechtsprechung den Weisungen der Exekutive unterworfen.

Ein bekanntes Muster: Der Fall Tunesien erinnert stark an den autokratischen Umbau der Justiz in Polen oder Ungarn. Bereits 2023 bezeichnete die Tagesschau die Herrschaft Saids als "Arabischen Herbst", damals erreichte die Politikverdrossenheit ungeahnte Höhen.

Bei der Abstimmung über eine neue Verfassung, die keines der wirklichen Probleme des Landes zu lösen vermochte, gingen nur elf Prozent der Bevölkerung überhaupt zu den Urnen.

Tunesischer Winter mit europäischem Segen?

Heute kann man angesichts des übermächtigen Präsidenten und der langjährigen Verurteilung Ghannouchis im Februar von einem "tunesischen Winter" sprechen. Kritik aus Berlin kommt bislang nur sehr verhalten. Die Gründe dafür liegen tief.

Deutschland und Tunesien unterhalten seit 1956 ununterbrochen politische Beziehungen. Seit 2011 versteht sich die Bundesregierung als Partner für den politischen und wirtschaftlichen Wandel, wie es in einem Papier des Auswärtigen Amtes heißt.

Bis 2020 haben rund 260 deutsche Unternehmen 350 Millionen Euro in Tunesien investiert. Weitaus wichtiger als die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die auch im Bereich des grünen Wasserstoffs besteht, ist die geostrategische Bedeutung Tunesiens.

Es ist, so die Analyse des Bundeswirtschaftsministeriums, das "Tor zum frankophonen Afrika" und verfügt über eine junge, gut ausgebildete Bevölkerung, die es im Sinne eines Brain Drain in den Westen zu locken gilt.

Türsteher Tunesien

Die wichtigste Aufgabe, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen medial-politischen Migrationsdebatte in Deutschland und der sich abzeichnenden CDU-Kanzlerschaft, ist das EU-Flüchtlingsabkommen.

Tunesien liegt geografisch am langen Ende, von Libyen kommend, der Sahara-Fluchtroute. Mit direktem Zugang zum Mittelmeer bildet das Land den letzten Pförtner vor den Toren Europas. Seit Jahren werden mit deutschen Steuergeldern tunesische Grenzschützer ausgebildet.

"Team Europa" (Eigenbezeichnung von von der Leyen, Rutte, Meloni) hat mit Tunis einen Deal ausgehandelt. Geld gegen Flüchtlinge. Fakt ist, dass laut der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung 60 Prozent der Überfahrten nach Italien von Tunesien aus erfolgen.

Aufgrund der verzweifelten Lage reißt der Strom der Bootsflüchtlinge nicht ab: Nach offiziellen Angaben starben 2023 rund 900 Menschen im Mittelmeer. Bemerkenswert ist, dass rund 20 Prozent der Flüchtlinge nicht aus den Ecowas-Staaten, sondern aus Tunesien selbst stammen.

Der Gipfel ist, dass Präsident Kais Saied die Flüchtlinge nicht in Tunesien halten will, sondern mit plumper rassistischer Hetze zur Rückkehr ("Umvolkung" der arabischen Gesellschaft) in die Sahara- und Subsahara-Staaten drängen will. Rassistische Pogrome einkalkuliert.

Vor dem Hintergrund der Profilierung an der Seite des palästinensischen Volkes wird die nächste Runde der Repression gegen die innere Opposition vorbereitet: diesmal sollen nichtstaatliche Akteure als Freunde Israels gebrandmarkt und als ausländische Agenten verboten werden.

Solange Tunesien seine geopolitische und wirtschaftliche Mission im Sinne des Westens erfüllt, bleibt die Kritik ein zahnloser Tiger. Ein Lehrstück über die Moral des Westens. Sie zählt nur bei den "Richtigen" in Moskau, Peking oder Teheran.