EU: Von der Leyen im Paralleluniversum

Archivbild (2022): Quirinale.it /

Die EU-Kommissionspräsidentin zur Lage der Union: Die Realität entgleitet ihr, große Fragen werden ausgeklammert. Sie spricht auch nicht zu den Bürgern. Wer sich darüber freut.

Es ist ein Ritual: Einmal im Jahr, immer im September, hält die Präsidentin der Europäischen Kommission vor dem Europaparlament in Straßburg eine Rede zum "State of the Union" (Soteu). Eine Stunde lang darf Ursula von der Leyen dann vortragen, was ihr zur Lage der EU einfällt - und was ihr Emmanuel Macron und Olaf Scholz, ihre Parteifreunde und Unterstützer sowie diverse Thinktanks eingeflüstert haben.

Am vergangenen Mittwoch war es wieder so weit. Die "Soteu"-Rede versprach spannend zu werden - schließlich ist Krieg in Europa, Deutschland steckt in der Rezession, die Klimakrise spitzt sich bedrohlich zu. Die Bürger murren, die Rechtspopulisten frohlocken, sogar von der Leyens konservative Parteifreunde von der Europäischen Volkspartei werden unruhig und fordern einen Kurswechsel.

Doch wer von der CDU-Politikerin so etwas wie Orientierung, gar Führung, erwartet hatte, wurde enttäuscht. In ihrer Rede in Straßburg ging es "um alles, nur nicht um die Zukunft", wie die Süddeutsche Zeitung treffend formulierte.

Wohin geht die Reise, wo sieht sie die EU nach der Europawahl im Juni 2024, strebt sie eine zweite Amtszeit an? Zu all dem sagte die EU-Chefin - nichts.

Dabei ist die Lage ernst

Von der Leyen blieb auch klare Worte zur Lage der Union schuldig. Dabei ist die Lage ernst. Die EU hat ihr höchstes Gut - den Frieden - verloren, und das schon im zweiten Jahr und ohne Aussicht auf Besserung. Sie hat das Wohlstandsversprechen gebrochen, mit dem einst der Binnenmarkt und der Euro begründet wurden. Und sie gerät im geopolitischen Ringen ins Hintertreffen.

Jeder normale Politiker, der sich zur Wiederwahl stellen will, hätte dazu etwas gesagt und die Bürger beruhigt. Nicht so von der Leyen. Sie ist nicht von den Bürgern gewählt.

Und sie spricht auch nicht zu den Bürgern, sondern zu einem Parlament, das ihr weitgehend ergeben ist - und zu einer Brüsseler Blase, die sich längst zum Paralleluniversum entwickelt hat. Reale Probleme kommen da kaum noch vor.

Es zählen die Versprechen

Für von der Leyen zählen vor allem die Versprechen, die sie zu Beginn ihrer Amtszeit 2019 selbst gegeben hat. Von sechs Schwerpunkten in der Klima-, Digital- und Wirtschaftspolitik will sie 90 Prozent umgesetzt haben. Und das, obwohl die Corona-Pandemie und der "unprovozierte russische Angriffskrieg" (so die offizielle Brüsseler Sprachregelung) dazwischen gekommen sind.

Einer nüchternen Betrachtung hält das natürlich nicht stand; Das Europaparlament kommt nur auf 69 Prozent Planerfüllung. Zudem verdecken die blumigen Titel ("An Economy that works for the people", "A stronger Europe in the world" etc.), dass sich die realen Lebensbedingungen und die Sicherheitslage in Europa spürbar und in einem schwindelerregenden Tempo verschlechtert haben.

Linke und Sozialdemokraten haben darauf hingewiesen, immerhin. Konservative und Grüne hingegen haben vor allem darauf geachtet, ob ihre Wünsche und Forderungen in der Rede zur Sprache kamen.

Die einen wollten (und bekamen) ein ausdrückliches Lob für die Bauern und ein Bekenntnis zum Bürokratieabbau. Die anderen durften sich über die Zusage freuen, dass der "Green Deal" fortgesetzt wird.