Echt unrealistisch und schöner als die Wirklichkeit

Zunehmend leistungsstärkere Technik sorgt für immer realistischere Spielerlebnisse

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Zumindest optisch. Denn unter der wirklichkeitsgetreuen Oberfläche ist das absolute Gros der Games herrlich unrealistisch – und erst das macht sie so gut. Die aktuellen Rennspiele „Project Gotham Racing 4“ und „Sega Rally“ können als Beispiel herhalten.

Aufwändige Grafik, die fotorealistisch aussieht, ist kein Indikator, dem Produkt in all seinen Bestandteilen eine gleich hohe Echtheitsqualität zuzuschreiben. Der vordergründige Denkansatz Games wollten die Realität imitieren ist falsch. Die professionelle Flugsimulation macht nur wenigen Menschen Spaß, während das realistisch aussehende Actionspiel streng daraufhin konzipiert wurde, einem möglichst großen Publikum Freude zu bereiten.

Die Annahme ein zunehmend realistischeres Erscheinungsbild würde die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit verwischen und könnte zur Gefahr werden, ist umstritten, weil befürchtet wird, optisch realistisch dargestellter Irrealismus möge Verstärker wenn nicht gar Auslöser von Geisteskrankheiten sein.

Ein gut gemachter Ego-Shooter wie z.B. „Half-Life 2“ mit realistisch anmutenden Äußerlichkeiten fesselt den „normalen“ Spieler emotional genauso viel bzw. wenig, wie ihn einst spannende Pixelgrafikspiele eingenommen haben. Man soll und wird dem Video- und Computerspiel in seiner heute zelebrierten Form - also bei gesundem Verstand, in einem Randerlebnis zur ersten, in Übereinstimmung mit der unschlagbaren Mehrheit akzeptierten, Wirklichkeit - immer seine „Lüge“ anmerken und fühlen, dass „alles nur ein Spiel ist“. Seine Spaß bringenden Eigenschaften sind nicht zuerst im immer realistischeren Drumherum begründet. Ein guter Shooter braucht kein spritzendes Blut und einen schlechten Shooter, in dem Blut spritzt, braucht die Welt nicht, weil niemand ihn spielt.

Alle wichtigen Kriterien sind manchmal schwer zu erörtern, doch Faktoren wie Optik, Physik oder interaktive Mechanik haben tragenden Einfluss auf die spielerische Essenz, das Gameplay, und tragen fast immer eine Karikierung der Wirklichkeit in sich. Die Art der Überdehnung physikalischer Gesetze ist die Kunst des Spiels. Richtig getroffene Nuancen zwischen den Extremen Simulation und Arcade sind seine Würze und können Ausgangspunkt für ein ganzes Konzept oder Kern dessen Charakters sein.

Drei aktuelle Beispiele aus dem Genre der Rennspiele veranschaulichen den Kontrast zwischen Realität und Spiel. Der schwedische Entwickler Simbin, Macher der „GTR“-Reihe, versucht mit seiner Rennsimulation „Race 07“, dem „offiziellen Spiel zur Tourenwagen-Weltmeisterschaft“, ein so wirklichkeitsnahes Spielerlebnis wie möglich zu vermitteln.

Rammen im Rahmen der Regeln: die Rennspielsimulation „Race 07“

In „Race 07“ müssen die Regeln der Rennserie streng eingehalten werden, Straßenunebenheiten und Asphaltbeläge wirken sich ebenso fühlbar aufs Fahrverhalten aus wie die präzise Steuerung lizenzierter Fahrzeuge, die bei Kollisionen sichtbaren wie fühlbaren Schaden nehmen. Die künstliche Intelligenz der computergesteuerten Gegner wirkt berechnend beim Ausnutzen von Überholgelegenheiten, gleichzeitig passieren ihnen Fehler wie menschlichen Konkurrenten.

Neben diesen unbedingt benötigten Simulationsmerkmalen enthält „Race 07“ die komplette 2006er- und 2007er-Saison mit all ihren Autos und Strecken sowie Formel 3000-, Formel BMW- und Radical-Sportwagen. Bei einem hohen Schwierigkeitsgrad ist das Spiel ein hochwertiger, wenn auch bierernster Randgruppen-Spaß, der die große Masse der Actionrennspieler frusten, wenn nicht sogar langweilen wird.

Die realistische Irrealität von „Project Gotham Racing 4“ will vom Spieler schöne Brems- und Lenkmanöver an schönen Orten in schönen Fahrzeugen sehen.

Anders verhält sich „Project Gotham Racing 4“ (Xbox 360), ein kompromissbereites Mittelding aus Simulation und Arcade-Racer. Auch wenn die wilde Mischung aus realistischen und übertriebenen Elementen im Vergleich zum Vorgänger kein Quantensprung ist, führt Entwickler Bizarre Creations ein paar neue Features ein, die das Nobelhobelrennspiel noch extremer machen und in ihrer Summe mit den Haupteigenschaften der Serie hohen kommerziellen Zuspruch finden.

Unter den 120 fast durchweg erstklassigen Fahrzeugen von Herstellern wie Ferrari, Aston Martin, Mercedes, BMW oder Lamborghini befinden sich erstmals auch Motorräder von Honda, Yamaha oder Harley Davidson, welche bei Rennveranstaltungen in Städten wie Sankt Petersburg, Las Vegas, New York, London, Quebec, Shanghai und Tokio sowie auf der Nordschleife des Nürburgrings nach dem Sieg und um Punkte für stilvolles Fahren, den so genannten Kudos, ringen.

Juchhu, es schneit: Die Wettereffekte in „Project Gotham Racing 4“ wirken sich realistisch auf das unrealistische Fahrverhalten der mehr grafisch als spielerisch wirklichkeitsgetreu anmutenden Rennfahrzeuge aus.

Die „Verspielung“ der Realität ist wirklich geglückt und zeigt sich bei den Strecken in ihrer originalgetreuen aber aufpolierten Nachbildung. Die Fahrzeuge indes wirken in ihrer Steuerung zwar charakteristisch und deshalb auch gewöhnungsbedürftig, sind sonst aber eher darauf ausgelegt möglichst coole Drifts, Sprünge und Rempler ausführen bzw. wegstecken zu können. Statt sich bei Crashs oder überschnell genommenen Kurven zu schrotten, tragen Autos wie Motorräder von „Project Gotham Racing 4“ weder Beulen noch Kratzer davon. Ein wenigstens rein optisches Schadensmodell hätte das Hit-Spiel in pseudo-simulatorischer Hinsicht vielleicht noch etwas aufgewertet. Der Zusatz von Wettereffekten, wie Regen und Schnee, die sich deutlich aufs Fahrverhalten auswirken, erzeugt wiederum eine ganz eigene Atmosphäre, die so nur in diesem Spiel zu finden ist.

Sieht echt aus, ist es aber nicht: Diese und noch waghalsigere Kurvendrifts erlebt man nur in „Sega Rally“.

Der letzte Kandidat hat das Ende der Fahnenstange im Realismus-Vergleich aktueller Rennspielumsetzungen erreicht und obwohl der pure Arcade-Racer „Sega Rally“ für Modelle wie Subaru Impreza, Mitsubishi Lancer Evolution, Peugeot 206 WRC, Ford Focus, SKODA FABIA, Citroën Xsara Rallycross, McRae Enduro, VW Golf GTI, Citroën C2, Skoda Octavia, Toyota Celica, Hummer oder Audi Quattro ebenfalls kein optisches Schadensmodell hat, wird der Spieler während der Safari-, Alpin-, Tropen- oder Arktis-Rennen Zeuge einer karikierenden Evolution des realistisch nachgebildeten Gefährts: Unbefestigte Strecken verdrecken den Wagen von oben bis unten mit Schlamm oder Schneematsch. Im aufgewühlten Untergrund hinterlassen die Reifen tiefe Spurrillen – ein Element, das beim sonst fast komplett überbordenden Fahrrealismus taktische Geschicklichkeit fordert, da in den ausgefahrenen Furchen eine bessere Bodenhaftung herrscht.

Wer auf der richtigen Spur bleibt, findet in „Sega Rally“ eines der derzeit schönsten Luftschlösser.

Die Herausforderung für den Spieler besteht darin grausam agierende, leider unbeeinflussbare Computergegner mit konstant hohem Tempo und perfekt getimten Drifts zu schlagen. Unsichtbare Streckenbegrenzungen machen Crashs zwar unmöglich, der Geschwindigkeitsverlust hat jedoch zeitliche Folgen, die bei ansteigender Karriere hart bestraft werden. „Sega Rally“ ist (wie sein Vorgänger von 1995) ein auf pure Rennaction reduzierter, sich jeglichem Schnickschnack wie Tuning-Funktionen oder Stilpunktesammeln verweigernder Racer, der, typisch Sega, direkt aus den Penny Arcades (dt.: Spielhallen) stammen könnte – diesen heute in vielen Haushalten integrierten Palästen spaßbringender Scheinwelten.