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Ehrenrettung für Appeasement und Chamberlain

Bild: Frederic Batier/Netflix

Der Netflix-Politthriller "München" von Christian Schwochow hat eine klare Position und gutes Timing

Schon 1938 mussten wir losschlagen … September 1938, das war der günstigste Augenblick.

Adolf Hitler, im Februar 1945

We might have lost the war, if we hadn't had Munich.

Robert Harris

Mit einer Rückblende geht es los: Eine Party, drei Freunde, zwei Männer und eine Frau. Sie und einer der Männer sind Deutsche, die offenbar gerade in Oxford studieren. Es sind die frühen 1930er-Jahre, die Kostüme könnten auch aus den 1920er-Jahren stammen, die Leute sind nicht nur fröhlich, sondern ausgelassen, trinken Champagner und rauchen. Das soll "Jugend" symbolisieren, Aufbruch und Zukunft; weckt aber auch den Eindruck: Da hat irgendwer ein bisschen zu viel "Babylon Berlin" geschaut und "The Great Gatsby" obendrauf...

Beides wäre gar nicht nötig gewesen, denn mit all dem hat alles, was folgt, nichts zu tun. Es ist nur das, was man in manchen Kreisen für "einen guten Einstieg" hält: Die Auftaktszene hat für den Film die Funktion, die Freundschaft zwischen den zwei Hauptfiguren, einem britischen und einem deutschen Diplomaten, zu etablieren.

Vielleicht soll hier auch ein kurzer "What if"-Moment [1] geschaffen werden, das Gefühl für etwas, das hätte sein können zwischen drei Menschen, zwischen zwei Ländern, wäre Deutschland nicht zum gleichen Zeitpunkt in die blutigste Epoche seiner Geschichte abgeglitten.

München – Im Angesicht des Krieges (0 Bilder) [2]

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In der Eröffnungsszene gibt es auch einen Dialog: Der zukünftige Diplomat, der vom Nazi zum Widerständler wird, kritisiert sein Gastland dafür, dass es so gefühllos sei, "distant from feeling". Es ist das klassische, sattsam bekannte Klischee der Deutschen von den Briten. Ein charakteristischer Unterschied zum Roman. Dort fällt die Bemerkung auch, aber mit anderer Stoßrichtung.

Im Buch bemerkt Hartmann, ihm fehle "Das eine großartige Charaktermerkmal der Engländer, nämlich die Distanz nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber aller Erfahrung – ich glaube, das ist das Geheimnis der englischen Lebensart."

Ein Film über Krisendiplomatie

Ein paar Jahre später wird der Schatten eines neuen Krieges über ganz Europa und auch über den ehemaligen Studienfreunden Hugh Legat (George MacKay) und Paul Hartmann (Jannis Niewöhner) liegen. 1938 werden sie sich in München wieder begegnen, als Teil der politischen Delegationen Großbritanniens und Hitlerdeutschlands, die mit anderen europäischen Politikern über ein Abkommen verhandeln, mit dem verhindert werden soll, dass aus der sogenannten Sudentenkrise ein neuer Krieg wird.

Der Netflix-Film "München" ist ein historischer Politthriller, ein Film über Krisendiplomatie, der in einer vergangenen Epoche angesiedelt, dieser durchaus gegenwärtige Seiten abgewinnt und zugleich einige nicht ganz neue, aber nach wie vor fesselnde revisionistische Thesen entwickelt.

Letzteres gilt allerdings noch mehr für die zugrundeliegende Buchvorlage, den gleichnamigen Roman des Briten Robert Harris. Schon kurz nach dessen Erscheinen 2017 war von deutschen Produktionsfirmen die Rede, die sich die Verfilmungsrechte gesichert hatten. Lange Zeit war offenbar eine Mini-Serie geplant – was man sich angesichts des Stoffs auch viel besser vorstellen kann.

Dem hätten mehr Ruhe, kleine Abschweifungen und Zeitkolorit gutgetan, zugleich hätte dann die Vorlage an einigen Stellen ausgeschmückt und erweitert werden müssen – am Ende entschied man sich für einen einzigen Spielfilm, eine deutsch-britische Co-Produktion, bei der Harris als Produzent mit an Bord ist, und die sich weitgehend – wenn auch mit einigen markanten Änderungen – an der Vorlage orientiert.

Kriegsdrohung war ständig präsent

Nach der Eröffnungsszene springt der Film in den September 1938: Mitten in London werden Splittergräben ausgehoben, Denkmäler und wertvolle Gebäude mit Sandsäcken geschützt – ein Stück Realgeschichte, das in Deutschland, wo sich auch die Geschichtsschreibung meist auf die innenpolitischen Entwicklungen der NS-Diktatur konzentriert und vielleicht noch auf die Vorbereitung des Weltkriegs, oft vergessen wird.

Die zweite Hälfte der Dreißigerjahre waren für ganz Europa eine Zeit ununterbrochenen Schreckens und Kriegsangst, geprägt von fortwährenden Regelverletzungen der deutschen Außenpolitik, von der Besetzung des Ruhrgebiets, der Annektion Österreichs, dem Zündeln an den Grenzen zum Danziger "Korridor", zu Polen und zur Tschechoslowakei.

Dazu kamen die deutsche Aufrüstung und die neokolonialen Abenteuer des faschistischen Italien (Abessinienkrieg) sowie, vor allem anderen, das unermessliche Grauen des Spanischen Bürgerkriegs.

Kriegsdrohung war am politischen Horizont ständig präsent, dem Ziel der Friedenserhaltung galten die diplomatischen Bemühungen der Demokratien Frankreich und Großbritannien. Aber der moralische wie politische Preis wurde immer höher.

Bis heute streiten die Historiker über die Bewertung vor allem der damaligen britischen Politik und über die genauen Absichten des britischen Premierministers Neville Chamberlain, der hier von Jeremy Irons glänzend verkörpert wird. Vielen gilt Chamberlain bis heute als der Inbegriff eines feigen Beschwichtigers, als Narr, bestenfalls großer Naiver im Umgang mit den Diktatoren. Das entspricht der Bewertung auch der Zeitgenossen seit Kriegsausbruch 1939. Zuvor aber wurde seine Außenpolitik selbst von der Labour-Opposition unterstützt.

Wer recht hat, hat recht

Winston Churchill gehörte zu den ganz wenigen im britischen Unterhaus – dazu zählten nach seinem Rücktritt der damalige (und spätere) Außenminister Anthony Eden, der spätere Kolonialminister Leo Amery und der Diplomat und außenpolitische Experte Harold Nicolson –, die gegen die Appeasement-Politik von Anfang an opponierten und öffentlich Hitler und die Nazis so klar beurteilten, wie dies heute auch der herrschenden Ansicht der Historiker entspricht.

Neben aller Hochschätzung gibt es im Nachhinein auch die eine oder andere Kritik an Winston Churchill und seiner Bewertung der britischen Außenpolitik vor 1940 und später in seiner sechs-bändigen Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

Diese Kritik ist unberechtigt. Denn mag Churchill auch ein unangenehmer Rechthaber und Besserwisser gewesen sein, so wird man ihm doch auf alle Zeit zugutehalten müssen, dass er es eben besser gewusst und sehr wohl recht gehabt hat.

Und nicht nur das: Churchill hat seit Mai 1940 auch bewiesen, dass er es besser konnte. Er war der wahre Gegenspieler Hitlers und hat nicht nur mit den zunächst schwachen britischen Kräften den militärischen Widerstand gegen die deutsche Wehrmacht aufrechterhalten, sondern auch jene globale Koalition geschmiedet, die den Faschismus schließlich niederwarf.

München als Niederlage Hitlers?

Trotzdem ist das Bild Neville Chamberlains im Rückblick milder und vor allem differenzierter. Zum einen arbeiten manche Historiker heraus, dass der Premierminister sich über die Person Hitlers und das Wesen des NS-Regimes keinerlei Illusionen machte und keineswegs eine naive Sicht auf die außenpolitische Lage hatte. Seine Appeasement-Politik wird stärker unter dem Gesichtspunkt des Aufschubs beurteilt.

Das Jahr nach München vor dem 1. September 1939 war gekaufte Zeit, die in Großbritannien zur Vorbereitung auf den kommenden Krieg genutzt wurde, zugleich verbunden mit der Hoffnung auf eine stetige Verschlechterung der deutschen Wirtschaftslage. Die Briten wussten, dass die deutsche Aufrüstung wesentlich auf Pump finanziert war.

Bild: Frederic Batier/Netflix

Zum Zweiten sei die öffentliche Meinung und die britische Öffentlichkeit im September 1938 nicht bereit für einen Weltkrieg gewesen. Es wäre schwer gewesen, so wird argumentiert, in der britischen Öffentlichkeit eine Unterstützung dagegen zu finden, dass das Deutsche Reich Gebiete annektierte, in denen mehrheitlich deutschstämmige Menschen lebten.

Dazu sollte man wissen, dass die britische Regierung seinerzeit sogar mit dem Gedanken spielte, den Deutschen einen Teil der nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag verlorenen ehemaligen Kolonien wiederzugeben, gewissermaßen als Ersatz für unangemessene Gebietsansprüche in Europa.

Schließlich stellt sich die Frage nach den realpolitischen Alternativen: Die eine lautete: Angriff der Deutschen auf die Tschechoslowakei. Dies hätte die Westmächte in die Zwickmühle gebracht, schnell und unvorbereitet in den Krieg ziehen zu müssen oder Hitler gewähren zu lassen.

Hätte es noch eine andere Alternative gegeben? Eine Weile hatten Briten und Franzosen versucht, im Stillen eine Allianz mit der stalinistischen Sowjetunion zu schließen. Diese Bemühungen hatten sich im Laufe des Sommers 1938 bereits weitgehend zerschlagen. Der einzige Trumpf, den die Westmächte tatsächlich in der Hand hatten, war die allgemeine Kriegsmüdigkeit und der Friedenswille breiter Bevölkerungskreise, auch in Deutschland.

München war, so wird argumentiert, daher keine moralische Niederlage der Westmächte, sondern eine politische Niederlage Hitlers. Er wurde mit kühl geplanten diplomatischen Tricks dazu gezwungen, den schon fest einkalkulierten Angriffskrieg auf die Tschechoslowakei zu unterlassen.

"Man kann sich heute den Geisteszustand nicht einmal vorstellen..."

Vor dem Hintergrund dieser Alternativen ist auch der Roman von Robert Harris zu verstehen. Mehr als alles andere handelt es sich hier um eine Ehrenrettung Chamberlains.

Zugleich gibt es gute sachliche Gründe, das Bild von Neville Chamberlain auch nicht in ein allzu mildes Licht zu tauchen. Der wichtigste ist die Tatsache, dass Chamberlain von Beginn seiner Regierungszeit an einen fatalen Hang zu Alleingängen und zu einer persönlichen "Nebenaußenpolitik" vorbei an seinem Kabinett an den Tag legte, die bald unselige Folgen zeigte.

Der bedeutsamste ist die Sturheit, mit der der Premierminister sich allen Vorschlägen der amerikanischen Regierung verweigerte. Präsident Roosevelt hatte nämlich im Januar 1938 den Briten vorgeschlagen, sämtliche europäische Staatschefs zu einer gemeinsamen Konferenz nach Washington zu laden. Chamberlain lehnte diesen Vorschlag ab, was in Washington als brüske Zurückweisung empfunden wurde.

Vor allem aber handelt es sich um einen Fehler. Der Clou von Roosevelts Vorschlag lag nämlich darin, dass mit ihm die USA ihre bis dato isolationistische Zurückhaltung aufgaben und sich zumindest indirekt, in der Rolle eines neutralen Vermittlers, erstmals seit dem Versailler Vertrag wieder in die europäischen Angelegenheiten einmischten.

Winston Churchill kommentiert dies in seinen Memoiren wie folgt:

Nichts war besser geeignet, einen Krieg hinauszuschieben oder gar zu verhindern als der Eintritt der Vereinigten Staaten in den europäischen Zauberkreis von Hass und Furcht. Für Großbritannien war dies eine Frage, fast von Leben und Tod. Niemand vermag nachträglich zu ermessen, welche Rückwirkung das alles auf die Vorgänge in Österreich und später in München gehabt hat. Wir müssen die Ablehnung – denn um eine solche handelt es sich – als die Preisgabe der letzten Chance betrachten, die Welt auf andere Weise als durch einen Krieg von der Tyrannei zu erretten.

Dass Mr.Chamberlain mit seinem beschränkten Überblick über den europäischen Schauplatz und seiner Unerfahrenheit genügend Selbstherrlichkeit besaß, die Hand auszuschlagen, die ihm über den Atlantik hinweg geboten wurde, darauf blickt man noch heute atembenommen vor Erstaunen zurück. ... Man kann sich heute den Geisteszustand nicht einmal vorstellen, der solches Handeln bewirken konnte.

Abgleich mit der Realgeschichte

Derlei historisches Hintergrundwissen ist für diesen Film von großem Nutzen, der manches voraussetzt, auf vieles anspielt, aber nur weniges wirklich erklärt. Stattdessen wird das historische Material holzschnittartig zugespitzt, notgedrungen wahrscheinlich, aber doch etwas unterkomplex angesichts der Tatsache, dass viele Personen und Fakten historisch und auch fiktive Charaktere nach historischen Vorbildern gezeichnet sind.

So hat Harris selbst erklärt, dass er seine Figur des deutschen Diplomaten Paul von Hartmann in vielen Zügen nach dem anglophilen Widerständler Adam von Trott zu Solz (1882-1944), der Anfang der 1930er in Oxford studierte, entworfen hat. In die Figur sind aber auch bestimmte Erlebnisse und unbelegte Behauptungen des Außenstaatssekretärs Ernst von Weizsäcker (1882-1951) eingeflossen, der einerseits in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, andererseits immer daran festhielt, er habe lediglich versucht, "Schlimmeres zu verhindern".

Natürlich ist dies kein Dokumentarfilm, noch nicht einmal ein Dokudrama. Aber jeder Film, der vor einem realen Hintergrund und in historische Kulissen gesetzt ist, noch dazu, wenn es um derart bedeutende und im kollektiven Gedächtnis zumindest rudimentär präsente Ereignisse geht, wie das "Münchner Abkommen", wird sich dem Abgleich mit der Realgeschichte stellen müssen.

Es ist die seltene Begabung von Robert Harris, Geschichtsschreibung mit Unterhaltungsliteratur zu verbinden – Harris' in schneller Folge erscheinende Romane (18 Bücher seit 1992) sind exzellent recherchiert, zu den Fakten treten rein fiktive Charaktere als Hauptfiguren.

Dass historische Charaktere im Zentrum stehen, ist dagegen eher die Ausnahme. Seit jeher sind Harris' Romane sehr filmaffin: Schon sein Erstling "Fatherland" wurde verfilmt, "Enigma" wurde zum ersten Welterfolg, es folgten "Archangel", "Der Ghostwriter" und "Intrige", dazu kommen weitere (noch) nicht realisierte Projekte wie Roman Polanskis Wunsch, "Pompeji" zu verfilmen. Harris' Helden sind klassische Figuren: Meist Individualisten, die ihrem Gewissen folgen.

Das gilt auch für Hugh Legat und Paul von Hartmann in dieser Geschichte. Von Hartmann sympathisiert mit dem konservativen Widerstand gegen den NS-Staat. Die eigentliche Hauptfigur ist der Brite Legat, aus dessen Perspektive fast alles erzählt wird. Er arbeitet im Büro des Premierministers als einer von dessen Sekretären.

Teil 2: Kriegstreiber gegen Beschwichtiger? [4]

Robert Harris: München [5]. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, München 2017, 22 Euro


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