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Ein Filter, sie alle zu finden...

Politik, Wirtschaft und Webzensur. Eine Bestandsaufnahme

Nachdem Websperren, SOPA, ACTA und andere Zensur- und Überwachungsgesetze erfolgreich von der Zivilgesellschaft gegen den Willen der Entscheidungsträger abgewendet werden konnten, ist vorübergehend Ruhe eingekehrt in Europa und den USA. Oder doch nicht? Ein kleines Tal namens Silicon Valley bereitet still und heimlich eine neue Offensive vor.

Kernstück dieser Offensive sind "freiwillige" Inhaltskontrollen, die Unternehmen automatisch durchführen lassen. Sie werden durch die AGB abgesichert, die jeder Nutzer akzeptieren muß, bevor er sein jeweiliges Lieblingsportal benutzen darf. So werden demokratische Entscheidungsprozesse umgangen - nicht ganz so elegant wie durch internationale Verträge, aber genauso wirksam. Um zu klären, wer für diese jüngste Entwicklung verantwortlich ist und welche Motivation dahintersteht, soll hier kurz eine Bestandsaufnahme versucht werden.

1. Das Grundproblem: Klagen, bis man sich nicht mehr wehrt

I may not agree with you, but I will defend to the death your right to make an ass of yourself.

Oscar Wilde

Wenn unpopuläre Gesetze trotz mehrfachen Abstimmens und Wechseln des Schauplatzes von der nationalen auf die europäische Ebene nicht und nicht beschlossen werden wollen, so bleibt den Befürwortern nur die Flucht nach vorne. Im Fall von Webzensur bedeutet dies eine Flucht zu den Gerichten, vor denen nun jeder einzelne Fall von unliebsamen Meinungen einzeln geklagt werden muss, anstatt elegant und ohne Spuren hinter staatlich angeordneten Webfiltern zu verschwinden.

Staatliche Stellen haben bisher versäumt, den digitalen Alltag zu ordnen und damit der Klagewillkür zu entziehen. Dies resultiert in einer Klageflut in allen Bereichen, die den digitalen Raum betreffen. Neben Klagen zu Meinungs- und Pressefreiheit sind hier insbesondere Urheber- und Patentklagen auf dem Vormarsch.

Das kreative Vorgehen der Anwälte führt nun sogar dazu, dass die an und für sich oft sehr zurückhaltenden Richter, die sich mit der Flut an Fällen befassen müssen, manchmal ein wenig die Fassung verlieren und sehr deutliche Worte für die fleißigen Bemühungen mancher Kläger finden. So fragte sich die Richterin Lucy Koh bei den immer abenteuerlichen Ansuchen der Anwälte im Apple-Samsung Rechtsstreit, ob diese nicht vielleicht ob ihres exzessiven Drogenmissbrauches halluzinierten. Der Anwalt von Apple verneinte diesen plausiblen Erklärungsansatz jedoch ungerührt, wie die LA Times berichtete ("Your honor, I can assure you, I'm not smoking crack" [1]).

In Großbritannien gibt [2] es in Europa am häufigsten Klagen wegen "Digitaler Verleumdung" bzw. "Digitaler übler Nachrede" in Tweets, Foren- und Facebook-Postings. Die Strafen reichen von gemeinnütziger Arbeit über hohe Geldstrafen bis zu strafrechtlichen Verurteilungen, die schwerwiegende Auswirkungen auf die Zukunft der Verurteilten hat. Einer der Angeklagten, Paul Chambers, ging in Berufung bis zum High Court, wo der zuständige Richter deutliche Worte fand und das Urteil der niedrigeren Instanz aufhob:

Law should not prevent "satirical or iconoclastic or rude comment, the expression of unpopular or unfashionable opinion about serious or trivial matters, banter or humor, even if distasteful to some or painful to those subjected to it.

Justice Igor Judge

Je mehr Menschen es sich leisten, den mühsamen Weg zu höheren Instanzen zu gehen, desto eher werden Menschen- und Bürgerrechte im Einzelfall auch für den digitalen Raum bestätigt. Dies ist jedoch immer wieder mit hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden - den ein Angeklagter erst einmal psychisch und wirtschaftlich durchstehen muss.

Die Vielzahl an Fällen und das überzogene Strafmaß sind eine Folge der Gesetze, die teilweise aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen und nie für die Anwendung auf Online-Aktivitäten ausgelegt waren. Doch anstatt klare Definitionen und Regeln für den digitalen Raum zu definieren, stecken die Verantwortlichen den Kopf in den Sand - und sind damit direkt für das Chaos mitverantwortlich.

2. Die Internationalisierung der Klagen und Probleme

National borders aren't even speed bumps on the information superhighway.

Tim May

Ein weiterer Grund für die verstärkte Anwendung von "privaten" Regeln und Maßnahmen zur Kontrolle von Inhalten ist die Schwierigkeit, allgemeingültige Regeln aufzustellen. Nationale Gesetze gelten nur auf dem Staatsgebiet - und das ist in den digitalen Untiefen des Internet eher schwierig auszumachen. Besonders das ewige Katz-und-Maus-Spiel der Betreiber des Bittorrent-Indexes "Pirate Bay" mit Institutionen mehrerer Länder zeigt die Grenzen irgendeiner Informationskontrolle im Netz deutlich auf.

Dabei sind Staaten hier nicht ausschließlich Opfer, sondern sie nutzen diese Schwächen auch gezielt dafür aus, nationalen Unternehmen Vorteile auf dem Weltmarkt zu verschaffen. Ein Beispiel sind sicherlich die Auslieferungsprozesse, die im Namen der Medien-Industrien vom US-Außenministerium und vom ICE (Immigrations & Customs Enforcement) des US-Heimatschutzministeriums gegen Bürger anderer Staaten geführt werden. Üblicherweise wird dabei ein strafrechtliches Urteil vor einem US-Gericht gegen einen ausländischen Bürger erwirkt. Es ist dabei egal, ob die Handlungen, deren er angeklagt ist, in seinem eigenen Land überhaupt strafbar sind.

Internationale Auslieferungsabkommen, die eigentlich für die Auslieferung von Schwerstverbrechern - ich zögere, den Begriff Terrorist jemals wieder zu verwenden - geschaffen wurden, werden uminterpretiert, um 65-jährige Pensionisten oder 23-jährige Burschen, die eine Linkliste mit ihren Lieblingsserien im Netz auf ihre Homepage stellen, potentiell an die USA auszuliefern.

Der konkrete Fall betrifft Richard O'Dwyer [3], der Links auf illegale Webstreams auf seiner Homepage gesammelt hat. Da es in Großbritannien keine Linkhaftung gibt, wenn nur - wie bei klassischen Fuß- und Endnoten übrigens auch - nur auf Inhalte verwiesen wird, und dies von den Gerichten mehrfach bestätigt wurde, könnte man meinen, dass dieser Bürger in seinem Land sicher wäre. Doch mit einem Strafmaß von 10 Jahren, das das Kopieren von Vorabendserien endlich auf die Stufe von Schwerverbrechen stellt, kam das Auslieferungsabkommen zwischen den USA und Großbritannien zum Tragen. Und da die US-Anwälte die "verheerenden" Konsequenzen dieser kleinen Website betonten, kam der britische Richter zu dem Schluss, die Auslieferung von britischer Seite zuzulassen:

The extradition can go ahead, as there were "said to be direct consequences of criminal activity by Richard O’Dwyer in the U.S. albeit by him never leaving the North of England.

District Judge Quentin Purdy

Kritik an dem Auslieferungsabkommens von Seiten der Zivilgesellschaft wurden in einem Gutachten damit abgewiesen, daß eine inhaltliche Kontrolle jedes Auslieferungsantrages durch unabhängige Richter zu teuer wäre, zu lang dauern würde und den reibungslosen und effektiven Ablauf von Auslieferungsverfahren behindern würde ("time consuming, costly and undermine the efficient and effective operation" [4]). Der Fall wurde verstärkt von Prominenten und Bürgerrechtsorganisationen in den USA aufgegriffen, darunter auch die EFF und Wikipedias Jimmy Wales.

Richard O’Dwyer konnte seinen bis zu 10-jährigen Urlaub in einem US-Hochsicherheitsgefängnis lange durch Einsprüche verzögern. Im November 2012 einigte [5] er sich schließlich mit offiziellen US-Stellen außergerichtlich im Rahmen eines "deferred prosecution agreement", bei dem O'Dwyer Immunität vor Strafverfolgung durch Zahlung von Schadenersatz und eine Unterlassungserklärung erreichen konnte.

3. Exkurs: Was bitte ist dieses Internet?

Architecture is politics.

Mitchell Kapor (EFF)

Das Internet ist ein vielschichtiger sozialer Raum, der sich der klassischen Definition des Nationalstaates als Raum mit einem gemeinsamen Staatsvolk, Staatsgebiet und einer Staatsgewalt weitestgehend entzieht. Dies wird insbesondere beim dritten Punkt offensichtlich: Der Staat und seine Organe oder Vertreter multinationaler Konzerne sind rein im digitalen Raum grundsätzlich jedem anderen Nutzer gleichgeordnet. Sie haben kein Gewaltmonopol und keine Möglichkeit der Durchsetzung.

Lawrence Lessig identifizierte vier Kräfte, die das Internet beeinflussen können: Nationale und internationale Gesetze, soziale Verhaltensregeln, Märkte und die Netzarchitektur (laws, social norms, markets, architecture).1 [6] Dabei bemerkte er auch, dass die eher autoritätsskeptischen sozialen Verhaltensweisen, die verteilte Architektur und der freie Markt weitaus ähnlichere und gemeinsame Interessen haben als die Staaten und ihre nationalen und internationalen Ordnungsregeln, die deshalb auch weniger Einfluss in der digitalen Welt haben. Dies heißt keineswegs, dass das Internet ein Raum ohne Regeln ist, sondern lediglich, dass die Art der Entscheidungsfindung mehr nach den Prinzipien der Dezentralität, Offenheit, Neutralität und Konsensualität funktioniert, die für Bürger attraktiv sind und sich in einem klassischen System der Über- und Unterordnung schwer implementieren lassen.2 [7].

Diese Hilflosigkeit setzt sich abgeschwächt auch in der realen Welt fort. Wird die dem Internet zugrundeliegende Infrastruktur im Rahmen eines Kontrollversuches angegriffen, so wird sie einfach ersetzt, ohne dass dies im virtuellen Raum überhaupt bemerkt wird. Frei nach dem Credo der Pop-Art, welches interessierten Gesetzgebern spätestens seit den 1960er Jahren bekannt sein sollte, zählt sowohl bei den Inhalten als auch bei der Infrastruktur das Original weniger als die quantitative Vervielfältigung. Regeln, die in der analogen Welt ausreichend waren, sind für die Anforderungen des Netzes nicht konkret genug. So beklagt beispielsweise der Technologieexperte Prof. Dr. Volker Boehme-Neßler, dass das Grundgesetz zu unscharf ist, um seine Aufgabe in einem digitalen Umfeld erfüllen zu können.3 [8]

Dies ist nicht weiter verwunderlich oder einzigartig. In Analogie zur analogen Welt denke man in Bezug auf das Internet einfach an die Ozeane, die zwar in Küstennähe der Kontrolle einzelner Staaten unterstehen, in ihrer Gesamtheit allerdings nur über internationale Abkommen sinnvoll geregelt werden können und auch Privatpersonen mit all ihren Möglichkeiten und Gefahren offen stehen. Durch die isolierte Situation auf See und die fehlende staatliche Souveränität lassen sich Probleme nicht durch (Anlass-)Gesetze, sondern nur über multilaterale Abkommen, ad-hoc Kooperation und in größerem Rahmen über Schiedsgerichte, bei denen neben Staaten auch Einzelpersonen und Organisationen gleichermaßen Partei sein können, lösen.

Eine Anerkennung als "Internationaler Raum" wäre wahrscheinlich auch die langfristig sinnvollste Lösung für die weltweiten Datennetze. Dabei ist aber essenziell, dass das Gewaltmonopol bei Nationalstaaten verbleibt, die ihren Bürgern Rechenschaft ablegen müssen und durch demokratische Instrumente kontrolliert werden.

4. Die Privatisierung der Informationskontrolle und anderer Staatsaufgaben

Our identities have no bodies, so, unlike you, we cannot obtain order by physical coercion. We believe that from ethics, enlightened self-interest, and the commonweal, our governance will emerge.

A Declaration of the Independence of Cyberspace. John Perry Barlow. Davos, Switzerland. February 8, 1996

Die Entscheidung, welche Inhalte in einer Gesellschaft toleriert werden und welche nicht, ist eine typische Staatsaufgabe. Eine staatliche Aufgabe ist auch die Verteidigung dieser Rechte bzw. die Bestrafung bei Übertretungen - wenn notwendig mit Gewalt. Eine Übertragung der Kontrolle und Umsetzung auf andere, nicht staatliche Akteure, wie Firmen oder Einzelpersonen, ist daher sehr kritisch zu hinterfragen.

Das Geneva Center for the Democratic Control of Armed Forces (DCAF) ortet im 21. Jahrhundert neben dem Staat eine Reihe von Akteuren in der analogen Welt, die staatliche Aufgaben, z.B. Gewalt, ausüben können.4 [9] Als Beispiel seien die durch den Irakkrieg berühmt-berüchtigten Private Military Companies genannt, die entweder im Auftrag von Staaten oder aber von Firmen tätig werden.

Das DCAF ortet eine Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols in der realen Welt durch eine Privatisierung der Sicherheit, internationale Interventionen, Globalisierung und "failed states" bzw. failed statehood. Wenn wir diese vier Aspekte - vielleicht etwas boshaft - auf das Internet anwenden, so sind diese Aspekte noch viel gewichtiger. Sicherheit ist fast vollständig privatisiert (keine staatlichen Antivirus-Programme, Betriebssysteme oder Firewalls - und konfigurieren bzw. programmieren muss jeder Bürger selber) und wesentliche Entscheidungen, z.B. jene über Domainnames, sind im Falle der Top Level Domains der Kontrolle von Staaten weitgehend entzogen und finden auf internationaler Ebene statt. Globalisierung im Sinne von Providerwahl oder Ortswechsel sind die Norm und auch die anderen Aspekte des Staatsbegriffes, wie Staatsvolk oder Staatsgebiet, sind nicht ausreichend vorhanden, was der Definition von "failed states" entspricht.

Vor diesem Hintergrund sieht man deutlich, dass der westfälische Idealstaat mit seinen klaren Grenzen und einer klaren Trennung von anderen Staaten auf das Internet nicht mehr angewandt werden kann. Schon in der heutigen realen Welt wird Souveränität immer mehr nach oben und unten, aber auch in die Breite abgegeben. Dies wird auch bei einem Staatenverbund wie der EU deutlich.

Gleiches gilt für das Internet, in dem eine grundsätzliche Waffengleichheit zwischen Staat, Unternehmen und Bürgern besteht, wie auch die Auseinandersetzungen um Anonymous, Piratebay oder Wikileaks zeigen. Erst durch eine positive Einbindung der Bürger kann der Staat seine Ansprüche behaupten. Multinationale Unternehmen, meist de-facto Monopolisten mit ihren Sozialen Netzwerken, haben kein Interesse, Staaten einzubinden. Die Initiative Europe vs. Facebook, die Nutzern Einblick in die von Facebook über sie gespeicherten Daten ermöglicht, zeigt, wie es gehen kann, wenn Staat und Bürger an einem Strang ziehen.

Denn nur wenn die Bürger möglichst selbstständig agieren können und der Staat ihnen Freiräume aber auch sichere Zonen bietet, die sie je nach Bedarf nutzen können, wird sich ein - immer noch sehr vages - virtuelles Staatsgebiet (z.B. durch Bürgerwebspace), eine Staatsgewalt (regionale freiwillige CERT-Initiativen) und ein Staatsvolk (z.B. über Bürgeremailadressen) in irgendeiner Weise verwirklichen lassen. Dabei ist der Staat zumindest im Netz mehr und mehr auf die aktive Unterstützung durch seine Bürger angewiesen. Gleichzeitig muss auch ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden, über die diese Kooperationen im Sinne von Max Weber zumindest vom Staat legitimiert und demokratisch kontrolliert werden können.

5. Status quo: Filter als Placebo gegen Klagen

Technology is neither good nor bad, nor even neutral. Technology is one part of the complex of relationships that people form with each other and the world around them; it simply cannot be understood outside of that concept.

Samuel Collins

Unternehmen sind auf Gewinn orientiert und ausschließlich ihren Aktionären verpflichtet. Da, wie oben gezeigt, die Staaten sich nicht auf grundlegende Regeln und Grenzen einigen können, nehmen alle Beteiligten, seien es Konkurrenten, Bürger, Organisationen oder einzelne Nationalstaaten, die Sache in die eigenen Hände. Meist endet dies für Unternehmen in Klagen, Kampagnen, schlechter Presse und generell Aktionen, die die Geschäftstätigkeit, den Gewinn und die Ruhe in ihren "schönen neuen digitalen Gärten" beeinträchtigen.

Die Gegenstrategien lassen sich grob in zwei Bereiche unterteilen. Einerseits wird versucht, im eigenen digitalen Garten Probleme zu unterdrücken, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangen. Hier werden beispielsweise Filter genutzt, um automatisch Urheberrechtsverstöße aufzufinden und anstößige Worte automatisch auszublenden. Diese automatischen Filter sollen als Versicherung gegen Klagen dienen, da demonstrativ etwas "unternommen" wird und man damit seinen Kontrollaufgaben gegen anstößige oder illegale Inhalte nachkommt.

Einige Beispiele, die von Evgeny Morozov zusammengetragen [10] wurden, sollen kurz zeigen, wie problematisch diese Systeme sind. So wurde beispielsweise eine Darstellung von Adam und Eva von Facebook als anstößig erkannt und gesperrt. Auch Zuseher der (Science Fiction) Hugo Awards wunderten sich, als der Livestream plötzlich wegen einem fälschlicherweise als Urheberrechtsverletzung erkannten Video während Neil Gaimans Dankesrede unterbrochen und zensiert wurde. Auch Apples iTunes-Store ist nicht vor Fehlern sicher: So wurde Naomi Wolfs Buch "Vagina: A New Biography" zu V***** verstümmelt, was das Auffinden des Buches etwas erschwert haben dürfte.

Neben diesen offensichtlichen Eingriffen sind Kontrollalgorithmen, die im Hintergrund arbeiten, viel schwerer zu erkennen. So kann Googles "Suchvervollständigung" (Autocomplete) manche Wörter einfach gar nicht anbieten (bisexuell wurde erst kürzlich freigeschalten) oder auch ganz neue hinzufügen: So wird der Frau des ehemaligen Bundespräsidenten Bettina Wulff bei einer Google-Suche mit dem Begriff "Escort" ergänzt und ihr so eine zweifelhafte Karriere angedichtet [11].

Aber auch "personalisierte" Webangebote, die ungeliebte oder selten abgefragte Inhalte herausfiltern oder weit unten unter tausenden Statusmeldungen oder Suchanfragen verstecken, führen zu einer Verzerrung der Wahrnehmung. Informationen werden gar nicht mehr neutral - also so wie sie wirklich auftreten - angezeigt, sondern dahingehend "optimiert", einen möglichst angenehmen und vielleicht auch verkaufsfördernden Online-Besuch zu verleben - was durch Webfilter ohne Belästigung durch vielleicht verstörende aktuelle Nachrichten möglich wird.

Aber es wird neben einer Kontrolle der eigenen Portale auch aktiv gegen Mitbewerber und Kritiker vorgegangen, um diese zu verdrängen. In einer Analyse [12] der Asymmetric Threats Contingency Alliance (ATCA) sehen wir auch ein Beispiel für diese Vorgehensweise und die Folgen.

Vor dem Hintergrund der mangelnden Durchsetzbarkeit nationaler Normen beauftragten diverse Firmen, darunter die altbekannten Freunde von der Recording Industry Association of America (RIAA) und der Motion Picture Association of America (MPAA), die ohne Rücksicht auf Kollateralschäden, wie die Grundrechte, ihren Kampf gegen Filesharing fortführen, die indische Firma AiPlex in einem Akt der Selbstjustiz - im Sinne einer fehlenden Ermächtigung durch einen Richter oder ein Rechtssystem - mit Attacken auf Filesharing-Infrastruktur. Es ging nicht um das Aufspüren illegaler Inhalte, sondern laut ATCA darum, die Infrastruktur, über die legale und illegale Pakete gleichermaßen laufen, d.h. freie peer2peer Filesharing-Hubs, stillzulegen. ATCA berichtet, dass die Netzaktivisten erst nach einer ersten Welle von Angriffen durch die indische Firma mit Gegenangriffen geantwortet haben, die ihr Vorgehen schließlich beendete.

Was diese Beschreibungen deutlich zeigen, ist die Problematik von Regeln im Netz durch private Institutionen ohne Kontrolle durch den Staat und unter Einbindung aller Beteiligter. Denn in obigen Beispielen wurde am Staat vorbei agiert - in Angelegenheiten, die eigentlich staatliche Aufgaben wären.

6. Eine erste Bilanz

Gedanken sind zollfrei, aber man hat doch Scherereien.

Karl Kraus

Die hier geschilderten Ereignisse hängen alle zusammen und lassen sich auf ein Unvermögen oder den Unwillen zur Zusammenarbeit aller Betroffenen zurückführen. Anstatt die Probleme ehrlich zuzugeben und beispielsweise durch Haltefristen und andere zeitlich begrenzte Maßnahmen einen geordneten Ablauf zu ermöglichen, lassen sich insbesondere offizielle Stellen von nationalen und internationalen Vertretern der Wirtschaft vor sich hertreiben. Dabei geraten insbesondere Einzelpersonen immer wieder unter die Räder, da die bisherigen Instrumente wirtschaftlicher Auseinandersetzung eher auf Firmen untereinander ausgelegt waren und nicht auf Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen, Pensionisten und anderen Einzelpersonen, die im Gegensatz zu Firmen keinerlei Möglichkeit haben, sich angemessen Gehör zu verschaffen.

Wie ein kurzfristig ans Licht der Öffentlichkeit gelangtes Memo des Republican Study Committee Think Tanks [13] in den USA zeigt, gibt es quer durch alle Parteien insbesondere bei der jüngeren Generation durchaus ein Bewusstsein dafür, dass als erster Schritt die Ursachen der meisten Klagen, die Urheber-, Verwertungs- und Patentrechte, reformiert werden müssen. So liest sich der rasch wieder relativierte Vorschlag ausnehmend vernünftig:

Da ja in Reden und offiziellen Dokumenten die Bedeutung des digitalen Raumes für Demokratie, Wirtschaft und Innovation immer wieder hervorgehoben wird, könnten das die ersten Zeichen für echte Taten sein. Als Beispiel für eine besonders schöne Rede soll hier kurz noch Secretary of State Hillary Clintons Rede [14] zur Freiheit des Internets im Januar 2010 zitiert werden, in der sie die grundlegende Bedeutung des Netzes in demokratischen Gesellschaften betont. Die Bedrohung gehe nach Clinton von Regierungen aus, die diese Freiheitsnetze missbrauchen, um die Zivilgesellschaft durch restriktive Verbote zu kontrollieren:

...the same networks that help organize movements for freedom, can also be hijacked by governments to crush dissent and deny human rights. With the spread of these restrictive practices, a new information curtain is descending across much of the world.

Hillary Clinton

Obwohl private Akteure in dieser Rede leider nicht erwähnt werden, so kann man der grundsätzlichen Einschätzung durchaus etwas abgewinnen. Wenn jetzt mehr Handlungen den großen Worten folgen würden, könnte der digitale Raum den dringend nötigen Innovationsschub bringen, den neben der Demokratie auch die Gesamtgesellschaft und die Wirtschaft dringend brauchen würden.

Gernot Hausar ist Historiker in Wien. Er beschäftigt sich mit Wissens- und Informationsweitergabe, Informationskontrolle, Semantic Web, Digital Humanities und eLearning. Er arbeitet auch als freischaffender Redakteur im Bereich Zeitgeschichte.


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[1] http://articles.latimes.com/2012/aug/16/business/la-fi-tn-apple-lawyer-smoking-crack-20120816
[2] http://www.chron.com/business/technology/article/In-UK-Twitter-Facebook-rants-land-some-in-jail-4039078.php
[3] http://www.dailymail.co.uk/news/article-2086310/Richard-ODwyer-extradition-Student-faces-10-years-US-jail-echo-Gary-McKinnon.html
[4] http://www.homeoffice.gov.uk/publications/police/operational-policing/extradition-review?view=Binary
[5] http://torrentfreak.com/tv-shack-admin-richard-odwyer-will-not-be-extradited-to-u-s-121128/
[6] https://www.heise.de/tp/features/Ein-Filter-sie-alle-zu-finden-3396607.html?view=fussnoten#f_1
[7] https://www.heise.de/tp/features/Ein-Filter-sie-alle-zu-finden-3396607.html?view=fussnoten#f_2
[8] https://www.heise.de/tp/features/Ein-Filter-sie-alle-zu-finden-3396607.html?view=fussnoten#f_3
[9] https://www.heise.de/tp/features/Ein-Filter-sie-alle-zu-finden-3396607.html?view=fussnoten#f_4
[10] http://www.nytimes.com/2012/11/18/opinion/sunday/you-cant-say-that-on-the-internet.html
[11] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-09/bettina-wulff-autocomplete
[12] http://beforeitsnews.com/story/197/503/Robin_Hood_Digital_Wars:_Is_This_Only_The_Start.html
[13] http://de.scribd.com/doc/113633834/Republican-Study-Committee-Intellectual-Property-Brief
[14] http://www.state.gov/secretary/rm/2010/01/135519.htm