Ein Klassiker des Verfolgungswahns

Moritz Schrebers Instrumentarien zur Körperbildung – Auswahl. Bild: Public Domain

Daniel Paul Schreber war für Sigmund Freud ein Fall von Paranoia. Wenn aber die ganze Gesellschaft zum Fall wird, wie steht es dann um die Heilungschancen?

Kleine Männer saßen oder spazierten auf Daniel Paul Schrebers Kopf und versuchten, ihm die Nerven herauszuziehen und das Rückenmark auszupumpen. Sie waren auch am abscheulichsten aller "Kopfwunder" beteiligt, dem Gebrauch der "Kopfzusammenschnürungsmaschine".

In Schrebers Schädeldecke war eine tiefe Spalte entstanden. Zu beiden Seiten standen die "kleinen Teufel" und pressten seinen Kopf in der Art einer Schraubenpresse zusammen, bis er eine birnenförmige Gestalt annahm.

Was Schreber in seinen "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" von 1903 rekapituliert in der Hoffnung, seine Krankheit durch Aufschreiben in die Realität transponiert und damit überwunden zu haben, liest sich in diesem Auszug wie eine symptomatische Erscheinung seiner Paranoia. Und doch ist in das fantastische, schemenhafte Bild die Realität auf das Brutalste hereingebrochen.

Das obige Wortungetüm ist, bewusst oder unbewusst, Schrebers Benennung eines Gerätes (siehe Titelbild, unten rechts), mit dem sein Vater, führender Vertreter der Heilgymnastik und Orthopädie, die körperliche und geistige Haltung der Heranwachsenden veredeln wollte. Das nannte Moritz Schreber (1808-1861) "Erziehung zur Schönheit". Er probierte die von ihm entworfenen Geräte an seinen Kindern aus.

Diese Erziehungsmethoden wurden konterkariert durch das von ihm mitbestimmte Konzept für Gärten mit Beeten, die Kinder in erzieherischer und gesundheitlicher Absicht mit Gartenarbeit vertraut machen sollten. Die Gärten verknüpften sich 1865 mit Schrebers Namen. Die Eltern waren für die Kinder eingesprungen.

Daniel Paul Schreber ist nicht nur ein Fall für Sigmund Freud1, der komplizierteste Verwicklungen auf die Analyse innerer Wesenheiten des Individuums reduziert, sondern er ist ein Zeugnis der ganz offen vorgehenden "Schwarzen Pädagogik"2 insbesondere der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie war erzieherisch darauf angelegt, den Willen der Kinder gewaltsam zu brechen. In Schrebers Fall brechen sich zudem die kulturellen Entwicklungslinien jener Zeit der Ruhe vor dem Sturm, vor der Eruption des Ersten Weltkriegs.

Unter der Oberfläche der Gesellschaft rumorte es, wobei "Es" für das kollektive Unbewusste stehen kann. Freud musste sich mehr und mehr auf massenpsychologische Betrachtungen einlassen, um die wundersamen Wege einer kollektiv verfassten und gefangenen Libido nachzuverfolgen.

Schreber gibt ein weiteres Stichwort: Rückenmarksschwindsucht. Das hatte die "Schwarze Pädagogik" als natürliche Strafe für Onanie parat. Diese Drohung hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert. Wenn die Drohung nichts half, dann endete die Onanie zuletzt im Tod. Schreber selbst fürchtete, durch Onanie den Verstand zu verlieren.

Alice Miller3 beschäftigt sich mit einer führenden Figur der "Schwarzen Pädagogik", mit Adolf Hitler. Er war sowohl Täter als auch Opfer, und das nimmt Miller wörtlich. Die Gewalt, die ihm in seiner Jugend zuteilwurde, habe er als Erwachsener weitergegeben. Der Input ist gleich Output. Diese Auslegung ist nicht in Freuds Sinn. Kein Kind kann so sehr malträtiert werden, dass dies durch die millionenfachen Toten aufgewogen würde, die es als Erwachsener auf sein Konto zu buchen hat.

Dass bei Hitler von einer ganz "gewöhnlichen" Familie mit einem autoritären, aber schwachen Vater und einer eher weichen Mutter auszugehen ist, wird als "Untersuchungsgegenstand" der Sache näher kommen. Mit Sigmund Freud – und mit Theodor W. Adorno – wird also weiter nach den Ursachen zu suchen sein, und zwar im gewöhnlichen Leben.

Die Sonne ist eine Hure

Daniel Paul Schreber aus Leipzig war, der männlichen Linie seiner Vorfahren folgend, prädestiniert, Jurist zu werden. Er machte als Richter in Sachsen Karriere. Dass er 1884 als Reichstagskandidat scheiterte, war der Auslöser einer ersten Krankheitsepisode. Er verbrachte bis zu seiner Entlassung 1885 ein halbes Jahr in einer Nervenklinik.

Er galt als geheilt. Als er 1893 zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Dresden ernannt wurde, brach die Krankheit erneut aus. Nach einer erfolgreichen Klage gegen seine Entmündigung wurde er 1902 entlassen. Folgte 1907 eine dritte Einweisung bis zu seinem Tod 1911.

Erste Krankheitserscheinungen waren hypochondrischer Natur. Sie steigerten sich über die Diagnosen Depression mit Suizidgefährdung und Schizophrenie bis zu Psychose oder Paranoia. Die Einteilungen sind holzschnittartig. Schrebers durchgehendes Thema waren Strahlen. Durch Strahlen tritt der Mensch in Verbindung mit Gottes Nerven. Die Verbindung verläuft zum einen harmonisch: Die Nerven steigen in himmlische Identitäten auf. Gott spricht mit Schreber.

Die Beziehung ist zum anderen negativ: Gott zieht mit seiner Strahlenkraft die Nerven aus dem Körper und pumpt Organe heraus. Schreber fühlte sich angefault und "nicht bestattungsfähig". So wie ein Mensch sich der Seele eines anderen bemächtigen kann, bemächtigt sich Gott des Körpers.

Im von Schreber so genannten Brüllwunder entmündigen Strahlen seinen Mund. Man könnte zuspitzen: "Es" schreibt ihn. Schreber beschimpft lauthals die Sonne. Nach seiner zwischenzeitlichen Genesung meinte er, ungestraft und ungeblendet in die Sonne schauen zu können.

Um dieses Bild zu entschlüsseln, verweist Freud auf eine mythologische Adler-Symbolik. Eine Probe für junge Adler verlangt von ihnen, in die Sonne zu schauen, ohne zu blinzeln. Schaffen sie es nicht, werden sie aus dem Nest geworfen. Schaffen sie es, setzen sie die väterliche Ahnenreihe fort.

Indem Schreber dem Blick standhält, hofft er unbewusst, die Kindesbeziehung zum Vater wiederhergestellt zu haben. In der Trias Gott – Vater – Sonne fehlt noch eine Person, die beim Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel von Name und realem Subjekt mitmacht. Es ist der behandelnde Arzt, zu welchem Schreber eine Hassliebe empfindet. Ihm wirft er "Seelenmord" vor. Derselbe Vorwurf trifft Gott.

Aber es schwirren noch weitere namentliche Übertragungen herum: Die Sonne ist eine Hure. Schrebers Körper ist eine Dirne, dem Seelenmörder ausgeliefert. Mal ist ein Mensch der Täter, mal Gott. Mal ist die Seele das angegriffene Objekt, mal der Körper.

Wenn das unzusammenhängend oder unlogisch klingt, gehört es doch zur Konstitution einer Wahnkrankheit, analog zu Märchen und anderen Mythologien. In jedem Fall schält sich heraus, dass Schreber auf den Arzt zielt, der ihm die Willenskraft geraubt habe "wie beim Hypnotisieren".

1893, kurz vor Überreichung der Ernennungsurkunde zum Senatspräsidenten, träumte Schreber, wie schön es wäre, ein Weib zu sein."Ich bin Gottes Weib", schreibt er. Die göttlichen Strahlen gehen mit Seelenwollust im Körper auf. Die Entmannung selbst ist ein wollüstiger Prozess, jedoch nah am Tod. Sein Körper prägt weibliche Merkmale aus. Schreber ist "das in geschlechtlicher Umarmung mit mir selbst liegende Weib". Er befürchtet, vom Arzt sexuell missbraucht zu werden.

Durch die Verwandlung zum Weib wird die Welt erlöst. Die göttliche Befruchtung bringt neue Menschen aus Schreberschem Geist hervor. Die Weltkatastrophe, vor welcher die Entmannung rettet, gibt bei Schreber den Hintergrund ab. Die Welt vereist durch das Zurückziehen der Sonne.