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Ein Marshall-Plan für Nordafrika

Die libysche Hauptstadt Tripolis, Al Saaha Alkhadhraa, der "grüne Platz", 2006. Bild: Jaw101ie/gemeinfrei

Europa braucht in seinem eigenen Interesse einen langfristigen Plan zur Entwicklung und Stabilisierung seiner Nachbarregion

Seit den Ereignissen der Neujahrsnacht in Köln stehen junge Männer aus Nordafrika im Zentrum der gesellschaftlichen Debatte um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Obwohl Asylanträge von Nordafrikanern in der überwiegenden Mehrheit abgelehnt werden, ist der Anteil an Nordafrikanern unter den Antragstellern in den ersten Wochen des Jahres 2016 stark angestiegen.

Um diesen Trend einzudämmen, will die Bundesregierung die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklären. Das ist im neuen Asylgesetz vorgesehen, die Abstimmung im Bundesrat steht noch aus [1]. Mit der Neueinstufung dürfte die Anerkennungsquote noch niedriger ausfallen als bisher.

Nicht anerkannte Asylbewerber sollen zudem schneller in ihre Heimatländer abgeschoben werden können, was sich gerade bei Menschen aus den Maghreb-Staaten aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft der dortigen Regierungen bisher als problematisch erwiesen hat. Auf einer Reise durch die Maghreb-Länder hat Innenminister de Maiziere nun ein stärkeres Entgegenkommen bei der Rücknahme nicht anerkannter Asylbewerber ausgehandelt [2].

Im Gegenzug arbeitet das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) Ausbildungsprogramme aus, um die Arbeitsmarktsituation in diesen Staaten zu verbessern [3]. In diesen neuen Maßnahmen spiegelt sich wider, dass Nordafrika durch die Flüchtlingskrise mittlerweile im außenpolitischen Fokus der Bundesregierung angekommen ist.

Beobachter haben der deutschen Außenpolitik gegenüber den nordafrikanischen Staaten lange eine Art "freundliches Desinteresse" vorgeworfen [4], das die Herausforderungen ignoriere, vor denen die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten und damit auch Europa stehe.

Der Maghreb hat das Potential zu einer florierenden Region

Bei einem ersten Blick auf die nordafrikanischen Staaten, und insbesondere die Maghreb-Länder, erschließt sich nicht, warum sich so viele junge Menschen dem Flüchtlingsstrom auf der Balkanroute anschließen. Die klassischen sozio-ökonomischen Indikatoren der Maghreb-Länder sehen deutlich besser aus als in vielen anderen arabischen und afrikanischen Staaten.

Algerien ist die viertgrößte Volkswirtschaft Afrikas und der sechstgrößte Exporteur von Erdgas weltweit. Dies erlaubt der algerischen Regierung einen Fond mit Devisenreserven in Höhe von derzeit etwa 170 Milliarden Euro zu halten - was drei Jahren an Importen entspricht.

Marokko und Tunesien sind zwar rohstoffarm, doch das BIP Marokkos ist immer noch das fünftgrößte des afrikanischen Kontinents. Tunesien zählt zu den Ländern mit dem höchsten Level an Hochschulbildung in der arabischen Welt. Außerdem ist ein sehr großer Teil der Bevölkerung frankophon und hat damit Zugang zum Arbeitsmarkt der frankophonen Länder. Auch die gesellschaftliche Situation der Frauen ist in Tunesien deutlich fortgeschrittener als in anderen arabischen Ländern, was sich in dem hohen Anteil an Frauen unter den Universitätsabsolventen und der relativ niedrigen Geburtenrate widerspiegelt.

Tunesien zählt zudem zu den Ländern der arabischen Welt, in denen das Level an Demokratisierung am weitesten vorangeschritten ist. In Tunesien hat sich bisher keines der Szenarien ereignet, welches die anderen post-revolutionären Staaten Nordafrikas heimgesucht hat. Weder wird das Land von einem Bürgerkrieg zerrissen wie das Nachbarland Libyen, noch ist es dem alten Staatsapparat gelungen in einer Konterrevolution die Errungenschaften des Umsturzes völlig zu ersticken wie in Ägypten.

Der demographische Druck fordert schnellere und tiefer greifende Veränderungen

Doch trotz der auf den ersten Blick vergleichsweise vorteilhaften Rahmenbedingungen stehen die Maghreb-Staaten seit den Umbrüchen des "Arabischen Frühlings" am Scheideweg. Das Bevölkerungswachstum der nordafrikanischen Länder ist immer noch hoch. Trotz sinkender Geburtenraten beträgt der absolute Zuwachs in den 5 Ländern Nordafrikas, den Maghreb-Staaten sowie Libyens und Ägyptens, immer noch ungefähr drei Millionen Menschen jährlich.

Demographen sprechen von einem Youth Bulge - einer Phase, in welcher der Anteil der Bevölkerung im jungen Erwachsenenalter extrem hoch ist. Gesellschaften, welche einen hohen Anteil an jugendlicher Bevölkerung haben, gelten als anfälliger für gewalttätige Konflikte. Für viele Beobachter war der hohe Anteil an Jugendlichen, die ihre Zukunft als perspektivlos wahrnehmen, ein entscheidender Faktor für das Ausbrechen der Aufstände in arabischen Ländern. In welche Richtung sich die jugendliche Energie entlädt, ist offen - und hängt wesentlich von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab.

In den Maghreb-Staaten sind die aktuellen Rahmenbedingungen alles andere als vorteilhaft, um der jungen Generation Gestaltungsraum zu geben. Der Staatsapparat ist nach wie vor stark von Vetternwirtschaft und Korruption geprägt, fast alles ist von persönlichen Beziehungen abhängig. In sämtlichen nordafrikanischen Ländern wird die Wirtschaft zudem von einer kleinen Gruppe staatsnaher Großunternehmer dominiert, die Aufstiegschancen der breiten Masse sind entsprechend gering. Die staatliche und wirtschaftliche Struktur der Maghreb-Staaten ist für den Youth Bulge schlecht vorbereitet.

Ein implodierendes Libyen droht die Nachbarländer zu destabilisieren

In Libyen entlädt sich der Youth Bulge in einem Bürgerkrieg, welcher das Land zu zerreißen droht. Alte Rivalitäten unter Stämmen und Regionen, die der Ex-Diktator Ghaddafi geschickt gegeneinander auszuspielen wusste, befeuern diesen Konflikt, ebenso wie die unzähligen Waffen und der Ölreichtum des Landes. Viele Beobachter befürchten, dass der Konflikt in Libyen über kurz oder lang auch die Nachbarländer destabilisieren wird.

Dem IS ist es nicht nur gelungen um die Stadt Sirte einen Küstenstreifen unter ihre Kontrolle zu bringen, sondern auch Tausende von kampfwilligen jungen Männern aus dem Ausland anzuziehen. Viele von ihnen entstammen der verarmten und frustrierten Unterschicht der Nachbarländer. Die Gefahr ist groß, dass etliche von ihnen verroht, radikalisiert und mit Kampferfahrung, wieder in ihre Heimatländer zurückkehren werden.

Die Sorge, dass der IS versuchen könnte, sein Operationsgebiet auch auf die Nachbarländer auszuweiten, wird mittlerweile von vielen Beobachtern geteilt [5]. Zwei Anschläge auf Touristen und ein Anschlag auf die präsidentielle Garde in Tunesien im vergangenen Jahr haben diese Gefahr zunehmend ins Blickfeld gerückt. Die Attentäter sollen zuvor in Libyen an der Seite der IS-Dschihadisten gekämpft haben.

Die Terrorgefahr bietet Aufschub für den korrupten Staatsapparat

Die Anschläge haben auf verschiedenen Ebenen eine fatale Wirkung für Tunesien, welches als einziges arabisches Umbruchland seinen Demokratisierungskurs bisher weitestgehend halten konnte. Einerseits bleiben die dringend benötigten Touristen und Investitionen aus. Die durch die Umstürze ausgelösten Hoffnungen auf neue Perspektiven und Lebenschancen, welche vor allem die junge Generation hegte, haben sich noch nicht materialisiert - und immer mehr junge Menschen verlieren allmählich den Glauben daran, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird.

Doch die dschihadistische Gefahr verleiht auch dem in weiten Teilen immer noch korrupten und repressiven Staatsapparat wieder mehr Spielraum. Angesichts der Bedrohung durch militante Dschihadisten haben die alten Seilschaften es leichter die dringend benötigten Reformen von Polizei und Justiz aufzuschieben. Auch wirtschaftliche Reformen weg von der alten Vetternwirtschaft hin zu einer diversifizierteren Wirtschaft, die Teilhabe für breitere Bevölkerungsschichten ermöglicht, lassen auf sich warten.

"Einen zweiten Aufstand gegen die im Kampf gegen die Armut unfähige Regierung gibt es nur wegen der Terrorgefahr nicht", sagt der politisch aktive Houssam Shougar aus Sidi Bouazid, der staubigen Kleinstadt im Landesinneren Tunesiens, wo vor 5 Jahren durch die Selbstverbrennung des 26-jährigen Straßenverkäufers Mohamed Bouazizi die arabischen Proteste ausgelöst wurden.

Verunsicherung und Lethargie in Ägypten

Noch stärker spürbar ist diese Mischung aus Verunsicherung und Politlethargie in Ägypten. Im bevölkerungsreichsten nordafrikanischen Land herrscht heute unter der Regierung des Ex-Generals Al-Sisi unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes eine brutalere Repression und eine paranoidere Atmosphäre als unter dem Ex-Diktator Hosni Mubarak.

Währenddessen verschlechtert sich die ökonomische Situation großer Teile der Bevölkerung durch den schwachen Kurs der ägyptischen Währung und die anhaltende Inflation weiter. In Kombination mit dem allmählichen Reduzieren der staatlichen Subventionen durch die Regierung al-Sisis hat dies die Preise für Lebensmittel stark ansteigen lassen. An dieser realen Verschlechterung der Situation vieler Haushalte ändern auch einige prestigeträchtige Großprojekte wie die Erweiterung des Suez-Kanals wenig.

Etliche Ägypter halten die nächsten Unruhen nur für eine Frage der Zeit. Ahmad-al-Shobrawy, ehemals Mitglied der zivilgesellschaftlichen Bewegung "Kefaya" (Genug), äußert gegenüber Telepolis, dass in den Straßenkaffees von Kairo die Unzufriedenheit über General al-Sisi mittlerweile immer deutlicher zu vernehmen ist. Er sagt: "Al-Sisi ist ein Mann des Militärs. Er hat keine Ahnung vom Regieren oder von der Wirtschaft. Er denkt nur in Kategorien der Sicherheit - und Sicherheit ist für ihn vor allem die Sicherheit der staatlichen Institutionen."

Der sinkende Ölpreis bringt das algerische Regime in Zugzwang

Im größten Land der Region Maghreb, in Algerien, sieht die Lage etwas anders, aber kaum besser aus. Algerien ist ein klassischer Renten-Staat, 97% der Exporteinnahmen des Landes stammen aus Öl und Gas. Die Wirtschaft ist kaum diversifiert, die Entwicklung einer Industrie, welche in den 1970er Jahren losgetreten wurde, ist schon lange zum Erliegen gekommen. Zugleich klammern sich opake Seilschaften aus Kreisen des Geheimdienstes und des Militärs an die Macht und profitieren massiv von den Rohstoffeinkünften - während sie sich hinter den Kulissen interne Machtkämpfe liefern.

Während der arabischenAufstände gab es auch in Algerien fast täglich Proteste. Mit der oppositionellen Gruppe "Rachad" bildete sich während dieser Tage ein Pendant zur zivilgesellschaftlichen Bewegung "Kefaya" in Ägypten. 2011 konnte die algerische Regierung ein großflächiges Übergreifen der Proteste durch eine Erhöhung der Sozialausgaben noch verhindern.

Kenner des Landes sagen, dass weite Teile der Bevölkerung noch zu sehr vom "dunklen Jahrzehnt" der 1990er-Jahre traumatisiert waren. Damals lieferten sich der Staatsapparat und Teile der islamistischen Opposition einen Bürgerkrieg, in dem auf beiden Seiten Massaker an der Zivilbevölkerung keine Seltenheit waren. Nach geläufigen Schätzungen kamen bis zu 200.000 Menschen ums Leben.

Doch mittlerweile wächst in Algerien - wo das Durchschnittsalter 25 Jahre beträgt - eine Generation heran, welche nicht mehr von Erinnerungen an die blutigen 1990er Jahre geprägt ist. Diese junge Generation sucht genauso wie ihre Altersgenossen in den nordafrikanischen Nachbarländern nach Partizipationsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven, was immer wieder aufflammende kleine Proteste im Land widerspiegeln.

Der niedrige Ölpreis verschlechtert nicht nur die wirtschaftliche Lage, sondern auch den Handlungsspielraum der Regierung, durch Sozialausgaben die Bevölkerung zu beschwichtigen.

Wenn sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, wird es definitiv wieder zu Protesten kommen. Doch im Gegensatz zu 2011 wird die Regierung dann nicht mehr über Mittel verfügen, um sozialen Frieden zu kaufen.

Dalia Ghanem Yazbeck [6], Carnegie Middle East Center

In Nordafrika gedeihen Hoffnungslosigkeit und Wut

Diese Kombination aus wirtschaftlicher Stagnation, anhaltendem Bevölkerungsdruck und einem Staatsapparat, der nur auf der Ebene der Repression wirklich funktioniert, hat den Nährboden für die Umstürze des Arabischen Frühlings bereitet. Heute herrschen in der Mehrzahl der nordafrikanischen Länder immer noch - oder wieder - dieselben Umstände.

Die mangelnden Zukunftschancen der jungen Generation Nordafrikas lassen ein Klima der Hoffnungslosigkeit und Wut gedeihen. Viele junge Menschen sehen im Verlassen ihrer Heimatländer die einzige Möglichkeit irgendeiner Form von Weiterentwicklung. Für die allermeisten ist das Ziel das nahegelegene Europa - und für manche die Dschihadistenmilizen in Libyen oder Syrien.

Der Journalist Mirko Keilberth, der viel Zeit in Tunesien verbracht hat, beschreibt die Anziehungskraft der Dschihadisten so:

Die Islamisten bieten ein üppiges Einkommen, Spiritualität und das Gefühl, gegen die täglichen Ungerechtigkeiten etwas tun zu können. Der Staat bietet dagegen nur brutal oder korrupt auftretende Polizisten auf, die junge Männer schon für den Besitz verschwindend geringer Mengen an Marihuana für ein Jahr ins Gefängnis schicken, aber die Waffen- und Drogenschmuggler aus Libyen oftmals laufen lassen.

Doch auch wer nach Europa kommt, bringt häufig Ressentiments gegenüber den als privilegiert wahrgenommenen Europäern mit sich. Der Philosoph Slawoj Zizek spricht von einer ausgeprägten Verwirrung unter vielen jungen Männern aus der arabischen Welt, viele kämen mit einer Mischung aus "Neid und Hass" nach Europa - wie er sich in der Neujahrsnacht in Köln entladen hat (vgl. "Gefangen in einer Haltung aus Neid und Hass" - Auf der Suche nach einer neuen Realpolitik [7]).

Autoritäre Stabilität ist illusionär

Es liegt für Europa in unverzichtbarem Eigeninteresse, eine langfristig angelegte Entwicklungspolitik für die Länder Nordafrikas zu entwerfen. Ein weiterer Staatenzerfall, wie er sich in Libyen ereignet hat, würde nicht nur die Region in Chaos stürzen, sondern hätte auch für Europa kaum kalkulierbare Konsequenzen.

In den europäischen Außenministerien wird seit einer Weile wieder stärker auf die Kooperation mit autoritären Regierungen wie dem Regime al-Sisis in Ägypten gesetzt. Im Sommer letzten Jahres nannte der italienische Premier al-Sisi noch "den einzigen Mann, der Ägypten retten kann".

Der European Council on Foreign Policy, ein außenpolitischer Think-Tank, beschreibt [8] es als illusionär, wie vor den arabischen Aufständen auf autoritäre Regimes als Garanten für Stabilität zu setzen. Doch ebenso warnt er vor einer "Entweder-oder"-Politik, in der nur die Gegenpole "autoritäre Stabilität" auf der einen Seite und "gesellschaftliche Reform" auf der anderen Seite existieren.

In der Dringlichkeit der aktuellen Lage sei es höchste Priorität jede Möglichkeit zu nutzen, um die fragile Situation zu stabilisieren. Einzelne europäische Mitgliedsstaaten, die engere Beziehungen mit bestimmten nordafrikanischen Ländern haben, können dabei eine Schlüsselrolle spielen.

Die GIZ (Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit), die Entwicklungshilfeorganisation der Bundesregierung, unterhält momentan rund 80 Projekte in den nordafrikanischen Ländern [9], in einem Umfang von 380 Millionen Euro. Ein großer Teil der Projekte konzentriert sich auf den Bereich der erneuerbaren Energien und der Anpassung an die Folgen des Klimawandels, von denen gerade die nordafrikanischen Staaten stärker als andere Weltregionen betroffen sein werden. Andere Projekte versuchen wirtschaftliche Eigeninitiativen zu stimulieren oder Arbeitsplätze in ländlichen Regionen zu schaffen.

Europa kann und muss mehr machen

Diese Initiativen gehen in die richtige Richtung, doch sie bleiben bei einem Blick auf die Bevölkerung Nordafrikas - derzeit über 180 Millionen Menschen - punktuell. Eine langfristige Stabilisierung der eigentlich chancenreichen Region kann nur erfolgen, wenn sich die Zukunftschancen für die junge Generation und vor allem die Position der Frauen verbessern.

Studien aus anderen Weltregionen zeigen, dass eine größere Beschäftigung unter Frauen ihr Ansehen und ihre Position in der Gesellschaft stärkt und mittelfristig auch die Geburtenrate sinken lässt. Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramme für die junge Generation und eine Verbesserung des Bildungssystems sind dafür zentrale Angelpunkte.

Von einem langfristig angelegten Plan zur Stabilisierung der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft bleibt die EU weit entfernt. Dabei wurden die Grundsteine für eine solche Politik schon 2004 mit der European Neighbourhood Policy [10] gelegt. In der aktuellen Revision der ENP, die im November veröffentlicht wurde, werden angesichts des als begrenzt wahrgenommenen Einflusses der EU pragmatischere Ziele definiert.

Doch der Einfluss der EU in Nordafrika ist vor allem im Maghreb keineswegs so begrenzt, wie er häufig wahrgenommen wird. In den Maghreb-Ländern hat die EU kaum außenpolitische Rivalen, die eine andere Vision für die Region verfolgen. Wie in vielen Fragen europäischer Außenpolitik könnte eine stärkere Koordination zwischen den europäischen Staaten und eine langfristig angelegte Verpflichtung den europäischen Einfluss deutlich vergrößern.

"Ein tief sitzendes Misstrauen von Teilen des politischen Systems"

Dennoch sind die Spielräume europäischer Entwicklungszusammenarbeit in den verschiedenen nordafrikanischen Ländern, abhängig von der jeweiligen politischen Lage des Landes, sehr unterschiedlich. Während beispielsweise die GIZ und die deutschen Parteistiftungen in Tunesien und Marokko relativ frei arbeiten können, wird ihr Bewegungsspielraum in Ägypten immer beschränkter.

Anfang des Jahres hat die Friedrich-Naumann-Stiftung ihre Arbeit in Ägypten nach fast 50jähriger Aktivität eingestellt und ist nach Amman in Jordanien umgezogen. Laut Stiftungsleiter René Klaff hätten die Bedingungen, welche das ägyptische Regime der Stiftung auferlegen wollte, fast jede zivilgesellschaftliche Arbeit unmöglich gemacht.

Es gibt ein tief sitzendes Misstrauen von Teilen des politischen Systems und seiner Eliten gegen die Kooperation ausländischer Einrichtungen wie der politischen Stiftungen mit zivilgesellschaftlichen Institutionen in Ägypten.

In Algerien, welches über Jahrzehnte auf einen starken Isolationskurs setzte und in den 90er-Jahren von einem Bürgerkrieg zerrüttet wurde, haben die Stiftungen gar keine Niederlassung und auch die GIZ unterhält nur 7 Projekte. Doch gerade Ägypten und Algerien sind die Schwergewichte Nordafrikas, welche die Entwicklung der Region wesentlich mitbestimmen.

Überall das machen, was möglich ist

Für die deutsche und europäische Entwicklungszusammenarbeit heißt das, in jedem Land das zu machen, was möglich ist. Wenn sich in den für Kooperation offeneren Ländern wie Tunesien und Marokko Verbesserungen abzeichnen, kann dies auch ein Anreiz für die autoritären politischen Systeme sein, sich zu öffnen.

Aktivisten aus der Region fordern eine deutlich aktivere Rolle Europas, gerade auch in den autoritärsten Staaten. Mohamed al-Baladawy, der in Kairo für AFTE [11] (Association for Freeddom of Thought and Expression) arbeitet, sagt:

Deutschland muss nicht auf das Einverständnis der ägyptischen Regierung warten, um mit Initiativen der Jugend oder mit Unternehmern zu kooperieren. Die Regierung al-Sisi versucht nicht nur die eigene Bevölkerung einzuschüchtern, sondern auch ausländische Regierungen. Doch Deutschland und Europa dürfen sich dadurch nicht von einem langfristigen Plan abbringen lassen.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/!5271688/
[2] http://www.dw.com/de/de-maizi%C3%A8re-mission-maghreb-erf%C3%BCllt/a-19085895
[3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-aus-maghreb-berlin-will-offenbar-fuer-rueckfuehrung-zahlen-a-1075561.html
[4] http://www.ecfr.eu/events/event/what_role_for_german_foreign_policy_in_a_north_africa_in_crisis
[5] http://www.al-monitor.com/pulse/security/2015/03/libya-isis-control-algeria-egypt-tunisia-impact.html
[6] http://www.aljazeera.com/news/2016/01/algeria-set-approve-constitution-160131141538778.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Gefangen-in-einer-Haltung-aus-Neid-und-Hass-Auf-der-Suche-nach-einer-neuen-Realpolitik-3377887.html
[8] http://www.ecfr.eu/publications/summary/five_years_on_a_new_european_agenda_for_north_6003
[9] https://www.giz.de/de/weltweit/afrika.html
[10] http://eeas.europa.eu/top_stories/2015/181115_enp_review_en.htm
[11] http://afteegypt.org/?lang=en