Ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaftspublizistik
Die Datenbank "PubMed Central" sagt autoritären Wissenschaftsstrukturen den Kampf an
Die National Institutes of Health, die oberste Gesundheitsbehörde in den USA, eröffnen in der ersten Februarwoche auf ihren Internetseiten unter dem Namen "PubMed Central" eine neue Forschungsdatenbank. Deren erklärtes Ziel ist es, sämtliche biomedizinischen Forschungsergebnisse ungekürzt, kostenlos und für alle zugänglich in einer einzigen riesigen, interaktiven Datenbank zu vereinigen.
Was anmutet wie der ultimative Selbstbefriedigungsversuch von Katalogisierungsfetischisten, könnte sich einmal als der radikalste Einschnitt in die Organisation des Wissenschaftsbetriebs seit Einführung der wissenschaftlichen Publizistik im Jahre 1665 erweisen. Wenn es funktioniert, wird "PubMed Central" nicht nur die Welt der biomedizinischen Zeitschriften, der "Journals", gehörig durcheinander wirbeln. Durch eine schnelle und unbürokratische Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten sowie eine datenbankgestützten Qualitätskontrolle, die durch die Leser der Artikel, und nicht durch geheimgehaltene fachliche Autoritäten vorgenommen wird, könnte der Wissenschaftsbetrieb in nie dagewesenem Maße demokratisiert werden.
Die Vertreibung aus dem Paradies?
Unter der programmatischen Überschrift Die Vertreibung aus dem Paradies läutete Richard Sietmann am 12. Januar in diesem Magazin die Totenglocken für die Vision eines weltweit kostenlosen Zugangs zu wissenschaftlicher Originalliteratur über das Internet. Das schnöde Geld scheint für ihn die Schlange zu sein, die mit dem Apfel des "Private Property" vor den Augen der wissenschaftlichen Verleger verführerische Tänze vollführt, bis sich diese nicht mehr halten können und beherzt zubeißen, bereit, ihre Unschuld als selbstlose Diener des wissenschaftlichen Fortschritts auf dem Altar der Gewinnmaximierung zu opfern. Außerhalb des Paradieses regiert dann nur noch das Geld: Wissenschaftliche Forschungsergebnisse werden von bösen Verlagen an Bibliotheken, Wissenschaftler oder andere Interessierte verkauft wie Pommes frites und Coca-Cola, entweder in der Großpackung des Abonnements oder einzeln über zwischengeschaltete Dokumentenlieferdienste, die als hochspezialisierte Wissensgroßhändler die Ware Information noch weiter verteuern.
In diesem Zusammenhang berichtet Sietmann von PubMed Central, einem Datenbankprojekt der obersten amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH ("National Institutes of Health"), das in der ersten Februarwoche ans Netz gehen wird und ab dann über die Homepage der NIH zu erreichen sein wird. Ziel dieses Projektes, das vom mittlerweile zurückgetretenen Präsidenten der NIH, dem Medizin-Nobelpreisträger Harold Varmus, im Mai vergangenen Jahres völlig überraschend initiiert wurde, ist nichts Geringeres, als sämtliche Forschungsergebnisse aller im weitesten Sinne biologischen und medizinischen Wissenschaften jedem, der sie lesen möchte, unter einer einzigen Internetadresse kostenlos und ungekürzt zur Verfügung zu stellen. Selbst wer sich bis jetzt noch nie mit den Problemen der Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse auseinandergesetzt hat, wird wohl ahnen, dass es sich dabei um ein Vorhaben gigantischen Ausmaßes handeln muss.
Nach monatelangen Diskussionen mit Forschern, Redakteuren, Lesern und auch Patienten stellte Varmus Ende August eine überarbeitete Fassung seines ersten Entwurfes vor, die jetzt realisiert wird. "Was anfangs als Konkurrenzveranstaltung angelegt war, stellt sich nunmehr lediglich als ein weiterer Vertriebskanal dar, der den kommerziellen Verlegern zusätzliche Kunden in den Laden bringt, ohne dass ihnen der freie Zugang abverlangt wird", schreibt Sietmann zu diesem zweiten Entwurf süffisant, und zwar in Anspielung darauf, dass die NIH es den teilnehmenden biomedizischen Journals freistellen werden, wann sie ihre Artikel "PubMed Central" zur Verfügung stellen: vor, nach oder gleichzeitig mit dem Erscheinen in der jeweiligen Zeitschrift.
Peer-review: Die autoritäre Logik des Paradieses
Wer so geschwind durch die Marktbrille argumentiert, macht es sich etwas einfach. Wissenschaftliche Journals dienen zunächst und vor allem der Kommunikation unter Wissenschaftlern bzw. Ärzten, und nur solange sie diese Aufgabe besser erfüllen als alle anderen Kommunikationswege, werden sie sich halten können. Es ist zwar richtig, dass "Reputationspunkte" ein weiterer wichtiger Faktor sind, mit dem die Journals wuchern können. Es ist allerdings fantasielos zu glauben, dass die Erzeugung von Reputation nicht auch auf anderen Wegen geschehen könnte.
Einer der ersten, der diesen Gedanken weiterdachte war der Epidemiologe Ron LaPorte, heute an der Universität Pittsburgh. Das Ergebnis seiner Überlegungen präsentierte er bereits 1995 in einem mittlerweile legendären Artikel im "British Medical Journal" unter der Überschrift The death of biomedical journals. Auf das naheliegende Fragezeichen verzichtete LaPorte ganz bewusst.
Wer verstehen will, warum das Internet, und hier speziell die Möglichkeit, weltweit zugängliche interaktive Datenbanken zur Verfügung zu stellen, für wissenschaftliche Journals eine potentiell lebensbedrohliche Entwicklung darstellt, die sehr wohl dazu führen könnte, dass die Zeitschriften ihre dominante Rolle im Getriebe der Wissenschaftsmaschine zugunsten kostenfreier Onlineinformation verlieren, der muss sich etwas genauer ansehen, wie diese Zeitschriften eigentlich arbeiten.
Wissenschaftliche Journals gibt es seit dem 17. Jahrhundert. Die erste wissenschaftliche Fachgesellschaft der Neuzeit, die "Royal Society of London for the Promotion of Natural Knowledge", war 1665 gerade drei Jahre alt, als sie mit der Veröffentlichung der "Philosophical Transactions" begann, einem der einflussreichsten wissenschaftlichen Magazine, das je verlegt wurde. Nur drei Monate vorher war in Paris das erste wissenschaftliche Journal überhaupt erschienen, das "Journal des Savants". Von Anfang an bestand die wichtigste Funktion dieser Zeitschriften neben der Erzeugung einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit in der Organisation des sogenannten Peer-review.
Der Peer-review ist eine Art Qualitätsfilter für von Wissenschaftlern eingesandte Forschungsarbeiten, wobei die Redaktionen der Zeitschriften eingegangene Artikel an die sogenannten Peers weiterschicken, anerkannte Fachleute der jeweiligen Forschungsrichtung, die meist anonym bleiben. Je nach dem, was diese Peers von den Arbeiten halten, nehmen die Zeitschriften einen Artikel entweder an oder lehnen ihn ab. Dieser Prozess hat über die Jahrhunderte bis heute immer mehr an Bedeutung gewonnen, soll heißen: Er wurde immer teurer und dauerte immer länger. Einige multidisziplinäre biomedizinische Zeitschriften geben heute mehr als ein Drittel ihres gesamten Budgets für die Organisation des Peer-reviews aus.
Es ist in der Wissenschaft ein offenes Geheimnis, dass der Peer-review nicht hält, was er verspricht, nämlich in den Unmengen der täglich produzierten wissenschaftlichen Daten die Spreu vom Weizen zu trennen. Einmal verlangsamt er die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen stark: Es kann Monate, zum Teil über ein Jahr dauern, bis ein eingereichter Artikel schließlich erscheint, was sowohl am Peer-review als auch an den begrenzten räumlichen Kapazitäten papiererner Zeitschriften liegt. Zum Anderen, Entscheidenderen ist es höchst fraglich, ob die vom Peer-review für sich beanspruchte qualitative Selektion überhaupt stattfindet oder ob nicht alternative Verfahren, etwa die Bewertung der Artikel durch die Redaktionen oder die Leser der Zeitschriften, zu vergleichbaren Qualitätsstandards führen. (Weitere Informationen über die Debatte zu Sinn und Unsinn des Peer-review findet man in dem Artikel Peer review: reform or revolution oder in der Datenbank Medline unter dem Stichwort "peer review".)
Jenseits des Paradieses: Demokratische Wissenschaft und freier Zugang für alle
Viele sehen daher im Peer-review ein Fossil aus der autoritären Urzeit der Wissenschaftsgeschichte - auch die NIH. "PubMed Central" schlägt aus diesem Grund einen revolutionär neuen Weg ein, auf dem die Veröffentlichung von ungekürzten Forschungsarbeiten mit Peer-review - hierbei ist die Mitarbeit der Journals von Nöten - nur einer von zwei Pfaden ist.
Viel wichtiger ist, dass "PubMed Central" noch einen zweiten Zugangsweg haben wird, der auf den Peer-review weitgehend verzichtet. Eingesandte Forschungsarbeiten werden dabei von Wissenschaftlern, die vom NIH unabhängig sind, kurz durchgesehen, um, wie Varmus es einmal ausdrückte, "unsägliches Material" auszusortieren. Direkt danach, das heißt innerhalb weniger Tage, sind sie dann vollständig und kostenlos online verfügbar. Die Qualitätskontrolle soll dabei so basisdemokratisch wie nur möglich funktionieren: Indem sie etwa die Zugriffshäufigkeit oder die Zahl der Querverweise/Links auf einen bestimmten Artikel registriert, soll die Datenbank den unmittelbaren "Impact" der Arbeit ermitteln, also den Einfluss, den diese Arbeit in Fachkreisen hat. Anhand dieser Kriterien kann der Leser sofort eine erste Wertung des Artikels vornehmen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, die Arbeiten online zu kommentieren, was ebenfalls Rückschlüsse über die Qualität der Arbeit ermöglichen soll.
Dass die NIH als Grund für ihre Initiative auch den hohen Preis und die hohe Zahl der biomedizinischen Zeitschriften angibt, die es in ärmeren Ländern selbst Universitäten unmöglich machen, ihren Forschern ständig aktuelle Bibliotheken zu bieten, deutet darauf hin, dass "PubMed Central" von den NIH durchaus als Kampfansage an die gegenwärtige Veröffentlichungspraxis gedacht war und ist.
Die Reaktionen der Journals
Die Nachricht über die Pläne der NIH schlug im vergangenen Sommer wie eine Bombe in die ohnehin schon länger nicht mehr ganz heile Journalwelt ein. Die Herausgeber, die praktisch ausnahmslos mit sinkenden Abonnentenzahlen zu kämpfen haben, reagierten zum Teil panisch.
Das angesehene "New England Journal of Medicine" etwa entdeckte "ein riesiges Gefährdungspotential", und Tony Delamothe, Online-Chef des ebenso renommierten British Medical Journal und einer der quirligsten Akteure auf dem Parkett des wissenschaftlichen Publikationswesens, verfiel auf dem Kongress "Internet in der Medizin" im September in Heidelberg in Fundamentalpessimismus: "Ich frage mich ernsthaft, ob unsere medizinischen Journals die nächsten fünf Jahre überstehen." Die Kritik entzündete sich vor allem an zwei Punkten: Ohne die schützenden Peers könnten falsche oder aus dem Zusammenhang gerissene medizinische Daten in Umlauf gelangen, die für Patienten unter Umständen lebensgefährlich sein könnten. Außerdem werde der zu erwartende Zuwachs an Informationen den Forschungsbetrieb und die Benutzung der Datenbank dermaßen unübersichtlich machen, dass niemand mehr damit klarkomme. Dieser letzte Einwand wurde von Varmus mit der zweifellos zutreffenden Bemerkung vom Tisch gewischt, dass weltweit niemand so viel Erfahrung mit der Erzeugung, Verwaltung und Präsentation riesiger Datenbanken besitze wie die NIH.
Das erste Argument war da schon schwerwiegender. Häufig erzählt wurde die Geschichte eines in Amerika aufgrund positiver klinischer Studien kurzzeitig zugelassenen Medikamentes zur Gewichtsverringerung. Es wurde wegen schwerer Nebenwirkungen sehr schnell wieder vom Markt genommen. Hätte es "PubMed Central" zu diesem Zeitpunkt schon gegeben, dann hätten womöglich viel mehr Menschen von dem Mittel gewusst und es eingesetzt, so die Kritiker des Vorhabens. Gerade diese Geschichte, so schallte es ihnen allerdings prompt entgegen, beweise, wie ineffektiv der gesamte Peer-review sei, denn immerhin wurden die entsprechenden Studien, in denen auch von den Nebenwirkungen berichtet worden war, in angesehenen Journals veröffentlicht.
Auf die Phase des Schocks folgte die Phase des Nachdenkens. Einige hochspezialisierte Forschungsmagazine sagten dem NIH unmittelbar nach der Präsentation des Vorschlags ihre Teilnahme zu. Als dann im Herbst mit den "Proceedings of the National Academy of Sciences" das erste renommierte, multidisziplinäre Blatt dazu stieß, begann sich anzudeuten, dass von einer einheitlichen Ablehnungsfront nicht mehr die Rede sein konnte. Die restlichen großen biomedizinischen Zeitschriften gerieten in Zugzwang. "Wir geben eine Party, wenn wir uns entschieden haben", war die Antwort, die Tony Delamothe noch im November jedem gab, der danach fragte, wie weit der Entscheidungsprozess beim BMJ gediehen sei. Sprachs - und fragte seine Leser. Deren Willenserklärung war von sozialistischer Eindeutigkeit: Von 4863 Lesern, die sich meldeten, waren 4609 für eine Teilnahme des BMJ an "PubMed Central". Delamothe hatte nun schwarz auf weiß, was er vorher schon geahnt haben mag: Wenn die Journals sich der kostenlosen Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse verweigern, handeln sie gegen den erklärten Willen von über 90 Prozent ihrer Leser.
In der ersten Ausgabe des neuen Jahrtausends zog das BMJ die Konsequenzen: Als erstes großes klinisches Journal sagte es den NIH seine Teilnahme zu. In dem Augenblick, in dem ein Artikel in der Internetausgabe des BMJ erscheint, dürfen ihn auch die NIH in ihre Datenbank übernehmen. Ferner erklärte sich das BMJ - wie mehrere Dutzend anderer biomedizinischer Zeitschriften - bereit, auch solche Arbeiten zur Veröffentlichung anzunehmen, die bereits auf dem alternativen Weg in "PubMed Central" oder einem anderen Preprint-Server als Arbeitspapiere den Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben. Solche Pre-print-Server schießen seit der Ankündigung der NIH im Sommer wie Pilze aus dem Internetboden.
Jenseits des Paradieses: Die Zukunft der wissenschaftlichen Publizistik
Wird es in fünf Jahren keine gedruckten Journals mehr geben? Doch. Zwei Dinge allerdings zeichnen sich ab. Erstens: Die Jahrtausendwende wird der Wissenschaftsgeschichte als die Zeit in Erinnerung bleiben, in der es so viele biomedizinische Zeitschriften gab wie nie zuvor und nie wieder danach. Wie viele es derzeit sind, weiß kein Mensch, aber die Schätzungen drehen sich in mehr oder weniger weiten Kreisen um 100.000. Das ist absoluter Rekord und wird es wohl auch für immer bleiben. Zweitens: Die biomedizinischen Zeitschriften, die überleben, werden anders aussehen als bisher.
Immer weniger Menschen werden eine Zeitschrift nur deswegen abonnieren, weil sie Originalarbeiten lesen wollen, denn die wird es in Zukunft auch kostenlos geben, zum Beispiel in "PubMed Central", und sei es, wie es bei den "Proceedings" der Fall sein wird, mit vier Wochen Verspätung gegenüber der gedruckten Ausgabe. Stattdessen wird sich der Schwerpunkt verlagern in Richtung redaktionelle Aufarbeitung der Informationsmengen der Datenbanken. Kommentare und Editorials, die die Informationen sortieren, werten und einordnen, werden stark an Bedeutung gewinnen, und sie werden es letzten Endes sein, die den Mehrwert eines Abonnements ausmachen werden. Nicht alle Zeitschriften werden den Weg des BMJ gehen können, das gegenwärtig auch redaktionelle Leistungen wie Editorials kostenlos im Netz anbietet. Als Organ der britischen Ärztekammer hat das BMJ einen festen Abonnentenstamm, den zu verlieren es nicht befürchten muss. Rein private Zeitschriften werden andere Wege suchen und finden müssen, wenn sie nicht untergehen wollen.