Ein Plädoyer für Pluralismus in der Medizin
Kann und sollte man die Medizin auf die Verfahren beschränken, deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist?
Geht von der alternativen und komplementären Medizin eine Gefahr für die Gesellschaft aus oder beschränkt eine autoritär verstandene wissenschaftliche Medizin die Entscheidung der Patienten? Argumente dafür, dass die Gesellschaft sehr wohl mit der zurzeit vorhandenen Pluralität umgehen kann und die Sichtweise Stefanowitschs (Der aufgeklärte Patient und das Recht auf wissenschaftliche Medizin) sehr viele Menschen einschränken würde.
Im Jahr 1802 soll es an der medizinischen Fakultät in Göttingen zu einem Studentenaufstand gekommen sein: Auf der einen Seite die Anhänger des Brownianismus, der Lehre, dass Krankheiten stets auf die Über- oder Unterschreitung eines mittleren Erregungszustands zurückzuführen sind, auf der anderen Seite seine Gegner. Der Tumult habe erst durch eine Abteilung Hannoverscher Kavallerie beendet werden können.1 Der Streit um medizinische Verfahren wird heute weniger gewaltsam geführt und auch nicht durch den staatlichen Einsatz von Soldaten beendet, erhitzt aber nichtsdestoweniger noch immer die Gemüter.
Gerade in fortschrittlichen Ländern können Patienten heute - entsprechende finanzielle Mittel oder Versorgungssysteme vorausgesetzt - aus einer Vielzahl von Behandlungsmethoden wählen. Darunter fallen mehr wissenschaftlich erprobte Verfahren als je zuvor. Darüber hinaus stehen ihnen sogar alternative und komplementäre Behandlungen zur Verfügung, die Schul- oder Alternativmediziner anbieten, zahlreiche medizinische Fakultäten unterrichten und jährlich Hunderte Millionen bis Milliarden Menschen nutzen - viele in Ergänzung zu Verfahren der Schulmedizin.
Es herrscht also ein Pluralismus in der Medizin, der institutionalisiert ist und von vielen Patienten genutzt wird. Doch nicht jedem ist der Pluralismus ein Grund zur Freude: Manche Wissenschaftsblogger wie der Sprachwissenschaftsprofessor Anatol Stefanowitsch von der Universität Hamburg wollen die Medizin auf die Verfahren beschränken, deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist. Stefanowitsch führt ein Kostenargument, den Schutz von Kindern und die Aufklärung der Gesellschaft als Gründe an. Würde sich seine Sichtweise durchsetzen, dann wären sehr viele Ärzte und Patienten in ihren Entscheidungen eingeschränkt. In diesem Sinn habe ich hier auf Telepolis kürzlich vor den Risiken einer falsch verstandenen, autoritären Wissenschaft gewarnt (Autoritäre Wissenschaft und das Recht auf Placebo-Medizin).
Die Vorteile von Placebomedizin
Verfahren der alternativen und komplementären Medizin erfreuen sich großer Beliebtheit. Untersuchungen aus den 1990er Jahren zufolge hatten beispielsweise in Kanada 15-20% der Befragten in den letzten zwölf Monaten einen Alternativmediziner aufgesucht, in den USA taten dies sogar 42-62%, wenn man auch den Kauf alternativer Heilmittel berücksichtigt. In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2000 kommt Edzard Ernst, Professor für Komplementärmedizin an der Universität von Exeter und Plymouth, auf 20% für das Vereinigte Königreich bis 65% für Deutschland, die innerhalb des Vorjahres zur alternativen und komplementären Medizin gegriffen hatten.2
Dies ist keine neue Entwicklung. In Deutschland stieg der Anteil der Menschen, die wenigstens einmal alternative Medizin ausprobiert haben, von 52% in 1970 auf 73% in 2002.3 Es ist ferner eine deutsche Besonderheit, dass die Leistungen dort häufig von Schulmedizinern erbracht werden. So sieht die Bundesärztekammer schon seit Langem entsprechende Zusatzqualifikationen in alternativen Verfahren vor, von denen deutsche Ärzte 2005 ca. 46.000 erworben hatten. Angeführt wird die Liste von ca. 17.500 Qualifikationen in Chiropraxis/Chirotherapie und knapp 14.500 in Naturheilkunde. In Homöopathie hatten sich bis dahin etwas mehr als 6.000 Ärzte erfolgreich fortbilden lassen.4
Gemäß den oberflächlichen Kritikern der alternativen und komplementären Medizin mangelt es den Menschen, die diese Verfahren anbieten und nachfragen, vom einfachen Patienten bis zu den Entscheidungsträgern ärztlicher Institutionen, vor allem an Bildung. Wüssten diese um die fehlende wissenschaftliche Basis, so der Gedanke, dann würde die Alternativmedizin verschwinden. Dementsprechend wären dann die Franzosen, Australier und US-Amerikaner, vor allem aber die Deutschen, die dümmsten beziehungsweise am wenigsten aufgeklärten Praktiker und Patienten, da sie vergleichsweise häufiger zu den Alternativen greifen als beispielsweise Belgier, Schweden oder Briten. Allerdings dürften Länder wie Indien, wo Homöopathie als eines der beliebtesten Behandlungsverfahren gilt5, auch eine hohe Rate aufweisen - nur wurden diese in Studien selten berücksichtigt.
In meinem Telepolis-Beitrag Autoritäre Wissenschaft und das Recht auf Placebo-Medizin wollte ich diese Hunderte Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen nicht nur als Dummköpfe abstempeln. Im Gegenteil habe ich mich mit der Frage beschäftigt, ob die alternative und komplementäre Medizin vielleicht eine wichtige soziale Funktion erfüllt, aus der auch Vertreter der wissenschaftlichen Medizin etwas lernen können. Tatsächlich kommt Edzard Ernst zu dem Ergebnis, dass sich in der großen Nachfrage vor allem eine Kritik an der vorherrschenden Medizin ausdrückt, die auch deren überzeugte Befürworter ernst nehmen sollten.6 Im Licht jüngerer Forschung zum Placebo-Effekt, wie sie beispielsweise Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School durchführt, schien es mir zudem eine plausible Möglichkeit, dass die alternative und komplementäre Medizin eine Art Placebomedizin sein könnte. Also eine Form von Medizin, durch deren Behandlungskontext, Heilungsrituale und Arzt-Patienten-Beziehung die Patienten profitieren können.
Jüngere Forschung deutet daraufhin, dass manche Placebos sogar über dieselben biochemischen Bahnen im Körper funktionieren wie die wissenschaftlich erprobten Therapien.7 Neueren Experimenten zufolge könnten sich damit vor allem für Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Schmerzen, Asthma oder dem Reizdarmsyndrom hilfreiche Alternativen ergeben, die zudem beispielsweise im Fall der Scheinakupunktur nebenwirkungsfrei sind.8 Dass derartige Placeboforschung in wissenschaftlichen Kreisen bis vor Kurzem nur geringes Ansehen genoss, ja von autoritären Vertretern der vorherrschenden Medizin mit viel Polemik bedacht wurde9, macht die Gefahren einer autoritären wissenschaftlichen Medizin deutlich. Durch den methodischen und gedanklichen Pluralismus, für den ich mich einsetze, werden jedoch nicht die Erfolge der wissenschaftlichen Medizin geschmälert, sondern im Interesse von Patienten und Praktikern durch Alternativen ergänzt.
Stefanowitschs Replik - inhaltlich gesehen
Der Ausgangspunkt des Streitgesprächs zwischen Stefanowitsch und mir ist die Titelgeschichte "Die neue Heilkunst" in der August-Ausgabe von GEO, in der alternative Heilverfahren in einem sehr positiven Licht dargestellt werden. Zugegeben, der Artikel ist sehr einseitig und damit kein Vorbild für ausgewogenen Wissenschaftsjournalismus - deswegen kann man sich trotzdem inhaltlich mit dem Thema auseinandersetzen. Stefanowitsch wollte in seinem Blogbeitrag das Problem wegdefinieren und attestierte der GEO-Redaktion Sprachverwirrung. Mit einem Verweis auf die Duden-Definition von "Medizin" argumentierte er, es könne nur eine Medizin geben, nämlich die wissenschaftliche, deshalb sei "Alternativmedizin" schon eine begriffliche Unmöglichkeit. Ich gab damals zu bedenken, dass der Duden im Widerspruch dazu sehr wohl Schul- und Alternativmedizin entsprechend unseren sprachlichen Gewohnheiten definiert.
Auch in seiner Replik versucht es Stefanowitsch mit einer definitorischen Strategie, die aber erneut scheitert. Zwar gibt es keine unumstrittenen Vorschläge für "Alternativmedizin", jedoch einige in der wissenschaftlichen Literatur etablierte Arbeitsdefinitionen; die von Stefanowitsch als alles, wofür es keine wissenschaftlichen Belege gibt, ist es aber nicht. Stattdessen lieferte eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe in den 1990er Jahren folgenden Vorschlag10:
Diagnose, Behandlung und/oder Prävention, die die vorherrschende Medizin ergänzt, indem sie zu einem gemeinsamen Ganzen beiträgt. Dies geschieht durch das Bedienen einer Nachfrage, die nicht durch die Lehrmeinung abgedeckt wird oder durch die Diversifizierung des konzeptionellen Rahmenwerks der Medizin.
Ähnlich allgemein gehalten ist der Definitionsvorschlag der Weltgesundheitsdefinition11:
…eine breite Auswahl an Praktiken des Gesundheitswesens, die nicht Teil der eigenen Tradition des Landes und nicht in das dominante Gesundheitswesen integriert sind.
Ein ähnlicher definitorischer Fauxpas passiert dem Sprachwissenschaftler bei seinem Konzept der Wirkung einer Behandlung. In der Forschungsliteratur ist es üblich, zwischen dem spezifischen - das ist das, Stefanowitsch als Wirkung bezeichnet - und dem unspezifischen Effekt zu unterscheiden. Letzterer wird oft Placeboeffekt genannt, in jüngerer Forschung aber auch Kontexteffekt. Damit meint man die psychobiologischen Änderungen, die durch den therapeutischen Kontext wie beispielsweise die Arzt-Patienten-Beziehung ausgelöst werden und die den Patienten helfen können.12 Diese psychobiologischen Vorgänge dürfte es nach Stefanowitschs Definition nicht geben, derzufolge Placebos "völlig wirkungslos" sind. Damit ist seine Definition nicht nur wissenschaftlich unüblich, sondern auch empirisch widerlegt oder aber sein Wirkungsbegriff ist inhaltlich leer und daher unplausibel.
Ich könnte an diesem Punkt für seine Reaktion auf meinen Artikel feststellen: ignoratio elenchi - Beweisziel verfehlt - und es dabei belassen. Ich möchte aber hier noch auf sein Kosten- und sein Schadensargument eingehen.
Kosten und Schaden
Der Pluralismus in der Medizin endet für Stefanowitsch spätestens dann, wenn er das Gesundheitswesen Geld kostet. Für die Erstattungsfähigkeit will er nur einen "objektiven Bedarf" der Patienten gelten lassen und letztlich könne nur der Arzt hierüber entscheiden. Das entspricht aber gerade nicht unserem Gesundheitssystem, in dem verschiedene Interessen miteinander abgewogen werden und beispielsweise Krankenkassen Ärzten Grenzen setzen müssen, wenn diese etwa teure Originalpräparate verschreiben, obwohl ebenso wirksame, aber viel billigere sogenannte Generika verfügbar sind. Dass zudem immer mehr Krankenkassen Verfahren der Alternativmedizin in ihren Leistungskatalog aufnehmen, ist zumindest ein Indiz dafür, dass man ihnen dort eine positive Kosten-Nutzen-Bilanz unterstellt.
Stefanowitsch weist schließlich auf das Risiko hin, dass Eltern durch die Wahl der Alternativmedizin auf eine wirksame Behandlung verzichten und damit ihrem Kind schaden könnten. Mit Hinweis auf einen Fall, bei dem ein schwerkranker Junge in Österreich ums Leben kam, fordert er nun ein gesellschaftliches, notfalls gesetzliches Einschreiten gegen die bestehende Pluralität in der Medizin. Allerdings halte ich gerade diesen Fall für kein gutes Beispiel, da die betroffenen Eltern Medienberichten zufolge (Gefährlicher Glaube) bereits vorher zwei ihrer Kinder mit derselben Erkrankung trotz schulmedizinischer Behandlung verloren haben. Da weder der Hausarzt noch die Eltern trotz des sich massiv verschlimmernden Gesundheitszustands angemessen reagierten und sogar von Mangelernährung die Sprache ist, darf man die gerichtlich verhängte Strafe wegen grober Vernachlässigung ihrer Sorgfaltspflicht wohl als korrekt ansehen.
Einzelfälle wie diesen allgemein gegen die Alternativmedizin in Stellung zu bringen, verkennt aber, dass es sich dabei eben um seltene Einzelfälle handelt. Ihnen stehen Hunderte Millionen bis Milliarden jährliche Behandlungen gegenüber, die nicht auf diese tragische Weise enden. Auch in der Schulmedizin kommt es zu tragischen Einzelfällen, für die bei grober Fahrlässigkeit die verantwortlichen Individuen zur Rechenschaft gezogen werden, nicht aber das gesamte System verboten wird. Eltern können mit sehr vielen Entscheidungen ein Kind Risiken aussetzen, es über- oder unterfordern; es ist aber eine sehr heikle Frage, ob deshalb der Staat gleich in die Erziehung eingreifen soll.
Umgekehrt übersieht Stefanowitsch mit seiner Behauptung, ein möglicher Placebo-Effekt sei auch bei wissenschaftlich erwiesenen Verfahren automatisch gegeben, die teilweise massiven Nebenwirkungen von Medizin. Mit Blick auf das für 2013 erwartete neue Regelwerk der Psychiater in den Vereinigten Staaten (Die psychiatrischen Erkrankungen der Zukunft) warnt der emeritierte Psychatrie-Professor Allen Frances, Leiter der Kommission des zurzeit geltenden Regelwerks, beispielsweise vor neuen psychiatrischen Epidemien. Diese könnten zum Verschreiben starker Psychopharmaka führen und bei Millionen von Kindern unter anderem Übergewicht - mit seinen Folgeproblemen - und Wachstumsstörungen auslösen.
Manche Nebenwirkungen könnten hingegen durch Placebo-Behandlungen reduziert werden. So wurde einer Patientengruppe in einer Untersuchung postoperativer Schmerzen eine Kochsalzlösung gespritzt, die als wirksames Schmerzmittel ausgegeben worden war. Dadurch sank bei diesen Patienten verglichen mit einer Kontrollgruppe die Nachfrage nach dem echten Schmerzmittel um 33%. Selbst ohne diese Täuschung führte ein Verweis auf eine nur mögliche schmerzlindernde Wirkung des Placebos zu einer Reduktion um 20%.13
Der klinische Alltag ist immer von Ungewissheiten und Schwierigkeiten geprägt. Diese rühren daher, dass Ärzte nicht nur klar definierte Krankheiten, sondern ganzen Menschen mit ihrer individuellen Geschichte, Situation und Erwartung vor sich haben. Würden diese durch die Anwendung alternativer und komplementärer Medizin systematisch zu Schaden kommen, dann würde ich mich Stefanowitschs Meinung anschließen. Offensichtlich ist dies aber nicht der Fall. Zudem setzt nur ein Bruchteil der Patienten die Priorität auf die Alternativen und sehen die Meisten sie als eine Ergänzung zur Schulmedizin.14 Da gerade in Deutschland so viele alternative und komplementäre Behandlungen durch Schulmediziner angeboten werden, ist dort die Wahrscheinlichkeit besonders gering, dass deshalb einem Patienten eine wissenschaftlich basierte Therapie vorenthalten wird.
Zur Person
Nachdem mich Anatol Stefanowitsch mehrere Wochen lang in seinem Blog sowie in teilöffentlichen Foren mit verschiedenen Unterstellungen und Beleidigungen überzog, freue ich mich über diese Gelegenheit zur weitestgehend sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Er hat schon zuvor versucht, mich als Philosophen und damit Fachfremden darzustellen. Angesichts meiner interdisziplinären wissenschaftlichen Ausbildung inklusive mehrjähriger Forschungstätigkeit an zwei deutschen Universitätskliniken kann er diesen Vorwurf nicht aufrechterhalten. Weil ich jedoch zumindest teilweise dasselbe studiert habe wie der von ihm stark kritisierte Sloterdijk, soll ich nun in eine Art Sippenhaft für dessen Thesen genommen werden?
Dabei übersieht Stefanowitsch die Widersprüchlichkeit seiner Seitenhiebe gegen die Philosophie bei gleichzeitiger Hervorhebung der Aufklärung - zu deren Entwicklung Philosophen maßgeblich beigetragen haben. Ähnlich widersprüchlich stellt sich in diesem Zusammenhang seine Kritik an der Homöopathie dar. Schließlich wirkte ihr Erfinder, Christian Hahnemann (1755-1843), gerade zur Hochzeit der Aufklärung. Zu seiner Lebzeit genoss dieser übrigens einen ausgesprochen guten Ruf und war für seine fortschrittlichen Reformideen zur Verbesserung der Gesundheit bekannt: bessere Ernährung und Wohnungen für Arbeiter, Reform der Gefängnisse, strengere Kontrolle von Berufen wie dem Lumpensammeln, der zur Verbreitung von Krankheiten führte, oder die Quarantäne ansteckender Patienten.15 Auch wenn sein heilkundliches System durch die heutige Wissenschaft nicht gestützt wird, bemühte sich Hahnemann zu seiner Zeit um Experimente, deren Ergebnisse er in medizinischen Zeitschriften publizierte. Damit stemmte er sich gegen die rationalistische Vorstellung seiner Zeitgenossen und setzte sich für einen Empirismus in der Medizin ein.16
Umgekehrt drückt sich in Stefanowitschs Umgang mit natur- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen eine große Unsicherheit aus. Seine Quellen interpretiert er sehr selektiv. Belege zum Nutzen von Placebobehandlungen, die meinen Standpunkt stützen, gelten für ihn nur als Einzelfälle. Einzelne Untersuchungen wie die Befragung von US-Amerikanern im Jahr 1998 von John Astin verallgemeinert er hingegen vorbehaltlos. "Aus entsprechenden Studien wissen wir", schreibt er, dass sich Patienten vor allem aufgrund ihrer Weltanschauung für die alternativen Behandlungen entscheiden. Dabei ist das, was "wir" wissen, höchst unterschiedlich und wusste Stefanowitsch selbst bis vor Kurzem noch nicht einmal, dass beispielsweise die Homöopathie intensiv medizinisch und sozialwissenschaftlich beforscht wird.17
Tatsächlich folgte aus Astins Untersuchung nicht nur, dass die Vereinbarkeit mit der Weltanschauung ein häufiger Grund für die Entscheidung für Alternativmedizin ist, sondern dass diese auch mit höherer Bildung korreliert.18 Stefanowitschs These von der mangelnden Aufklärung lässt sich daher schon anhand seiner eigenen Belege nur schwer aufrechterhalten. Auch neueren Analysen zufolge ist der typische Anwender alternativer und komplementärer Heilverfahren mit höherer Wahrscheinlichkeit besser ausgebildet, wohlhabender und leidet an einer chronischen Erkrankung.19
Zusammenfassung
In ihrem Roman "Corpus Delicti" schildert Juli Zeh eine Welt, in der die Maximierung der Gesundheit im Namen der wissenschaftlichen Methode zur gesetzlichen Pflicht geworden ist und Bürger beispielsweise fürs Rauchen oder zu wenig Konditionstraining hart bestraft werden. Zum Glück leben wir in keiner solchen Welt. In einer Welt, in der die Naturwissenschaft autoritär in der Medizin durchgesetzt würde, kämen wir ihr aber schon ein Stück näher. Anatol Stefanowitschs Reduktion der Medizin auf das, was wissenschaftlich belegt ist, würde allein die Schulmedizin um geschätzte 75% reduzieren. Einer Untersuchung des US-amerikanischen Office of Technology Assessment aus dem Jahr 1994 zufolge waren sogar nur 10 bis 20% der in der Medizin genutzten Verfahren wissenschaftlich geprüft.20 Zwar dürfte die Lage inzwischen tendenziell besser, jedoch nicht kategorial anders aussehen.
Es wird niemals eine vollständig wissenschaftliche Medizin geben können, allein schon deshalb, weil bestimmte Untersuchungen zu teuer, ethisch nicht vertretbar oder schlicht prinzipiell nicht durch ein Placebo kontrolliert werden können. Beispiele dafür sind massive chirurgische Eingriffe oder Forschung mit psychoaktiven Stimulanzien, die so stark subjektiv wirken, dass die Versuchsteilnehmer wissen, ob sie den echten Wirkstoff erhalten haben. Zum Glück für uns alle verfügen Ärzte nicht nur über wissenschaftliche Ergebnisse, sondern auch über praktische Erfahrung; Medizin ist keine Naturwissenschaft, sondern eine praktische Wissenschaft21 und erlaubt als solche einen Spielraum für Pluralismus. Dieser bietet nicht nur den heutigen Patienten einen großen Entscheidungsspielraum, sondern auch genügend Anlässe für zukünftige natur- und sozialwissenschaftliche Forschung.