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Ein Star aus Katar: Der Scharia-Prediger und die westlichen Werte

Yusuf al-Qaradawi hatte eine eigene Sendung auf dem TV-Kanal Al-Jazeera. Screenshot: Telepolis

Der kürzlich verstorbene TV-Gelehrte Yusuf al-Qaradawi atmete den Geist des WM-Gastgeberlandes, dem sich die Bundesregierung auch energiepolitisch annähert. Ein Lehrstück über "wertebasierte Außenpolitik".

Vor wenigen Wochen verstarb der einflussreiche TV-Prediger Yusuf al-Qaradawi im katarischen Doha. Eine Persönlichkeit, die das WM-Gastgeberland und seine Außenwirkung über viele Jahre geprägt hat.

Der Gelehrte war für kontroverse Ansichten bekannt, sowohl im Westen als auch von zahlreichen Muslimen kritisiert worden. Doch in einer Sache scheinen sich Regierungsoberhäupter – auch westliche – und al-Qaradawi einig zu sein: Moralische Werte sind zweitrangig, wenn es um Machterhalt und Geopolitik geht.

Yusuf al-Qaradawi war 1926 im Dorf Saft al-Turab im Nildelta geboren worden. Im Jugendalter hatte er bereits seine erste Begegnung mit Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft, von dessen Predigten er sehr beeindruckt war. So trat er der Bruderschaft kurz darauf auch bei und wurde ihn ihrem Sinne aktiv, wodurch er die Aufmerksamkeit des Nasser-Regimes auf sich zog.

1954 beendete al-Qaradawi sein Studium an der berühmten Azhar Universität in Kairo. Ein akademischer Abschluss genießt auch heute noch ein hohes Prestige im Nahen Osten, besonders in Ländern mit sunnitisch-islamischer Mehrheit. Durch die zunehmende Feindschaft zwischen dem Regime Nassers und der Muslimbruderschaft wurden deren Mitglieder in den 1950er-Jahren mehrfach inhaftiert

Auch al-Qaradawi musste mehrmals in seinem Leben Haftstrafen verbüßen, das erste Mal jedoch während der Herrschaft von König Faruq. Das angespannte Verhältnis zu den wechselnden Machthabern Ägyptens zog sich bis zum Tod Qaradawis hin.

Zuletzt verhängte im Jahr 2015 ein ägyptisches Gericht unter der Herrschaft des amtierenden Präsidenten Al-Sisi ein Todesurteil gegen den TV-Gelehrten, allerdings war al-Qaradawi selbst während des Urteils nicht anwesend, da er sich im Exil in Katar befand.

Eigene Sendung auf Al-Jazeera: "Die Scharia und das Leben"

Bereits 1961 hatte al-Qaradawi Ägypten in Richtung Katar verlassen. In dem Golfemirat erlangte er nie gekannten Einfluss. Seine Sendung aš-Šarīʿa wa-l-Ḥayāh ("die Scharia und das Leben") war das beliebteste Programm auf dem katarischen Nachrichtenkanal Al-Jazeera.

Zeitweise erreichte die Sendung um die 60 Millionen Zuschauer, was al-Qaradawi zum einflussreichsten sunnitischen Gelehrten der Welt machte. In seiner Sendung besprach er eine Bandbreite an Themen von Politik bis zu alltäglichen Fragen des Lebens.

Ein Demokratieverständnis, wie es gerade passte

Al-Jazeera zufolge verfasste al-Qaradawi mehr als 120 Bücher [1]. Zahlreiche dieser Werke und andere Schriften wurden in mehrere Sprachen übersetzt, auch in die deutsche Sprache. 1997 äußerte er sich positiv zum Thema Demokratie in seinem Werk "Min Fiqh al-Dawla fī l-Islām" ("Über die Jurisprudenz des Staates im Islam").

Sein Verständnis von Demokratie blieb jedoch sehr vage. So behauptete er zwar, dass die Wahl eines Staatsoberhauptes vom Volk mit dem Islam vereinbar sei, doch gehen seine Ausführungen nicht darüber hinaus. Er geht nicht näher auf demokratische Institutionen, Gewaltenteilung oder anderen zentralen Pfeilern demokratischer Systeme ein.

Auch waren seine Schriften stark von panislamischen Vorstellungen geprägt. Der romantisierende Blick einer einheitlichen muslimischen Gemeinschaft (unabhängig von nationalen Grenzen) verblasste jedoch im Zuge seines machtpolitischen Strebens.

Sehr enthusiastisch zeigte sich der Gelehrte über den "Arabischen Frühling" im Jahr 2011. In seinen Predigten kritisierte er mehrmals die Gewalt, die von arabischen Autokraten ausging, ob von Husni Mubarak in Ägypten oder von Baschar al-Assad in Syrien. Eine Ausnahme stellte jedoch die Revolte in Bahrain für ihn dar, wahrscheinlich weil die Revolution dort die Machtverhältnisse zugunsten der schiitischen Bevölkerung hätte verschieben können.

Al-Qaradwis Angst vor der Verschiebung von Machtverhältnissen in Bahrain hing wohl auch mit einer möglichen Einflussnahme des schiitischen Regimes im Iran zusammen, dessen Machtausweitung in der Region damit begünstigt worden wäre. Es wird auch sichtbar, dass al-Qaradawis vages Demokratieverständnis seine Grenzen hatte, wenn die Mehrheit der Bevölkerung aus Nicht-Sunniten bestand.

Dem König Bahrains gelang es schließlich, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen. Dennoch setzte dieser, gemeinsam mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten den prominenten TV-Prediger 2017 auf eine Terrorliste. Dies hing aber wohl mit einem diplomatischen Bruch dieser Staaten mit Katar zusammen. Der Grund für diesen Bruch war der Vorwurf der Finanzierung islamistischer Terrororganisationen [2].

Al-Qaradawis und Katars Einfluss in Ägypten endete, nachdem der gewählte Präsident Mohammed Mursi, welcher der Muslimbruderschaft angehörte, am 3. Juli 2013 vom Militär weg geputscht wurde. Mit der Ablösung Mursis durch den amtierenden Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi konnte al-Qaradawi auch nicht mehr in seine Heimat reisen. Al-Sisi war und ist die Muslimbruderschaft sowie die katarische Unterstützung dieser Gruppe ein Dorn im Auge, was auch die Abneigung gegenüber al-Qaradawi erklärt.

Verherrlichung von Selbstmordattentaten

Al-Qaradawis Verhältnis zum Terrorismus war ein zwiegespaltenes. Zum einen verurteilte er Terrororganisationen wie Al-Kaida und den IS. In einer offiziellen schriftlichen Stellungnahme [3] legitimierte er sogar die US-Invasion in Afghanistan nach den Anschlägen des 11. September 2001 und betonte hierbei mit anderen namhaften Gelehrten, dass es eine Notwendigkeit als US-amerikanischer Muslim sei, dem Militär beizutreten und die Terroristen zu bekämpfen, obgleich kein einziger Afghane für die Terroranschläge auf das World Trade Center verantwortlich war. Al-Jazeera [4] zufolge bereute er diese Stellungnahme Jahre später und nahm seinen Aufruf zurück.

Seine Stellungnahmen zur Legitimität von Selbstmordanschlägen, die er selbst bevorzugt als "Märtyrer-Operationen" bezeichnete, sorgten sowohl im Westen als auch von Seiten muslimischer Gelehrter für viel Kritik. So nahm er Stellung zu einem religiösen Urteil (Fatwa) des mittlerweile verstorbenen saudischen Muftis ‘Abd al-‘Aziz ibn Baz, welcher Selbstmordattentate auch im Kriegszustand als illegitim klassifizierte. Diese Form der Kriegsführung sei sündhaft, da sie im Widerspruch zu den islamischen Quellen stehe.

Al-Qaradawi hingegen konterte dieses Urteil mit der Argumentation, dass solche Anschläge legitim seien, wenn Muslime offensichtlich militärisch im Nachteil seien, während sie ihr Land verteidigen wollen, wobei er explizit auf die Situation der illegal besetzten palästinensischen Gebiete verwies [5].

Eine derartige Notsituation begründet ihm zufolge auch eine Ausnahme von islamischen Verboten – in diesem Fall des Selbstmords. Muhammad Munir, der an der International Islamic University in Islamabad lehrt, erklärt in einem umfangreichen Artikel [6] zum Verhältnis von Selbstmordattentaten und islamischen Recht, dass, wer auf eine solche Angriffsmethode zurückgreift, mindestens fünf Verbrechen begehe: das Töten von Zivilisten, Selbstmord, Verstümmelung von Körpern (einschließlich des eigenen) sowie Vertrauensbruch im Kontext des Kriegsrechts sowie Zerstörung zivilen Eigentums.

Unter diesen Gesichtspunkten müsste man jedoch aus islamischer Sicht allgemein die moderne Kriegsführung grundsätzlich hinterfragen, denn der Einsatz von Bomben schließt mit der Ausnahme des Selbstmords alle von Munir genannten Verbrechen ein. Perfide ist jedoch die Bezugnahme al-Qaradawis auf die Situation im Israel-Palästina-Konflikt – sie zeigt, dass es ihm vor allem um geopolitische Machterweiterung ging und nicht um das Wohl der dort lebenden Menschen.

Durch seine Verherrlichung von Selbstmordattentaten gab er den dort lebenden Menschen, die womöglich ohnehin in einer hoffnungslosen Situation steckten, die Legitimation, sich umzubringen – sofern sie das Leben des Feindes ebenso beenden würden.

Keine Spur einer solidarischen muslimischen Gemeinschaft

Seine moralische Verurteilung Israels und der USA war allgegenwärtig; er machte sie für das Elend vieler Muslime verantwortlich, doch Kritik an den Herrschenden im eigenen Hauptwohnsitz Katar blieb aus, obgleich dort für die kommende Fußball-Weltmeisterschaft der Tod zahlreicher ausländischer Arbeiter im Kauf genommen wurde.

Die genannten Zahlen der bei den WM-Vorbereitungen verstorbenen Arbeiter variieren teils sehr stark. Die offizielle Zahl liegt Katar zufolge bei drei Toten, während laut Amnesty International bereits rund 15.000 Menschen ums Leben gekommen sein sollen [7].

Im Jahr 2010 amüsierte sich al-Qaradawi noch darüber, dass die Fußball-WM in Katar stattfinden würde. Katars Triumph bei der Vergabe sei ein "Schlag ins Gesicht für die USA". Vielmehr ist Katars Triumph ein Schlag ins Gesicht für die tausenden Arbeiter aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch, Sri Lanka, Kenia und anderswo, die unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen und wie Sklaven behandelt werden [8].

Hier findet sich keine Spur von den einst hochgehaltenen Vorstellungen einer solidarischen muslimischen Gemeinschaft, unabhängig von nationalen Grenzen.

Bei aller berechtigten Kritik an dem TV-Prediger ist es zugleich auch bezeichnend, dass sich Länder wie Deutschland bei ihrer Verurteilung in Bezug auf die Rechte von Arbeitern im Emirat [9] zögerlich zeigen. Tatsache ist, dass moralische Werte über Bord gehen, wenn es um Ressourcen wie Öl und Gas – von denen Katar reichlich hat – geht.

Hier lässt sich dann doch eine Gemeinsamkeit zwischen al-Qaradawi und Politikern wie dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) finden, der erst vor kurzem zwecks engerer Zusammenarbeit in der Energiekrise die autokratischen Vertreter der Könighäuser Saudi-Arabiens [10], der Vereinigten Arabischen Emirate [11] und Katars [12] traf. Es ging um Öl, Gas, Flüssigerdgas und gemeinsame Wasserstoffprojekte, die Deutschland aus vorgeblich moralischen Gründen unabhängiger von russischen Energieträgern machen sollen.

Das zeigt, dass die Vorstellung einer "wertebasierten Außenpolitik" ebenso nur eine romantische Fiktion ist wie der panislamische Traum al-Qaradwis.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7331025

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.aljazeera.com/news/2022/9/26/influential-muslim-religious-leader-qaradawi-dies
[2] https://english.alarabiya.net/News/gulf/2017/06/09/Arab-countries-release-list-of-terrorist-financiers-supported-by-Qatar
[3] https://kurzman.unc.edu/islamic-statements-against-terrorism/qaradawi/
[4] https://www.aljazeera.com/news/2022/9/27/yusuf-al-qaradawi-the-muslim-scholar-who-influenced-millions
[5] http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/3874893.stm
[6] https://www.cambridge.org/core/journals/international-review-of-the-red-cross/article/abs/suicide-attacks-and-islamic-law/4E68DE4ABD3A81DA837465812E3C0A36
[7] https://www.zdf.de/nachrichten/sport/public-viewing-frankreich-grossstaedte-wm-2022-katar-100.html
[8] https://www.derstandard.at/story/2000139732253/gastarbeiter-in-katar-entweder-du-stellst-dich-dagegen-oder-du
[9] https://www.berliner-zeitung.de/news/scholz-in-katar-deutschland-macht-fortschritte-bei-energiesicherheit-li.270680
[10] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/scholz-saudi-arabien-mohammed-energie-101.html
[11] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/scholz-vae-fluessiggas-101.html
[12] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/kanzler-scholz-katar-2129484