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Ein rechtsextremer farbiger Christ?

Der Info-Krieg auf Wikipedia

Kennen Sie Xavier Naidoo? Klar. Der Sänger aus Mannheim, dessen Eltern aus Südafrika kamen, hat Millionen Platten verkauft und ist für seine Texte berühmt, die so voller christlicher Botschaften sind wie ein Gospel. Aus christlichen Motiven lehnt er irdische Mächte ab und kritisiert die militärische und wirtschaftliche Supermacht USA. Für ihn gibt es nur einen Herrn. Wegen dieser Haltung verzichtete er auf die Entgegennahme diverser Preise aus dem Musik-Business. Gemeinsam mit Udo Lindenberg trat er bei Veranstaltungen unter dem Motto "Rock gegen rechte Gewalt" auf.

Wikipedia-Logo: Lizenz: CC-BY-SA-3.0 [1], Illustration: TP

Liest man jedoch sein Portrait auf Wikipedia [2], bekommt man den Eindruck, Xavier Naidoo wäre ein furchtbarer Mensch und fast so etwas wie ein Neonazi. Wie geht das?

Mindestens ein Drittel dieses Eintrages stellt den Sänger mit fragwürdigen Mitteln in ein schlechtes Licht. Zweimal wird von schweren öffentlichen Verleumdungsversuchen gegen ihn berichtet, obwohl Naidoo sie mit juristischen Mitteln abwenden konnte. Was haben sie dann noch bei Wikipedia zu suchen?

Als einzige Reaktion auf seine Liedtexte wird ein gehöriger Verriss zitiert. An einem einzigen Tag in seinem Leben ist Naidoo auf zwei umstrittenen Demonstration aufgetreten, wo er auch seine Kritik an den USA geäußert hat. Dieser Tatsache widmet Wikipedia einen ganzen Abschnitt. Es werden Vorwürfe wie "Verschwörungstheoretiker", "Anti-Semit", "rechtsextremistisch" und "antiamerikanisch" zitiert. Sogar mehrmals.

Man kann von Xavier Naidoo halten, was man will, aber hier muss doch an zwei wichtige Umstände erinnert werden.

Erstens. Wir leben in einem Land, das sein Recht auf Meinungsfreiheit ins Grundgesetz geschrieben hat. Solange Naidoo nicht zu Gewalt aufruft, und das kann man ihm wirklich nicht vorwerfen, hat er das Recht zu sagen, was er will, und darf dafür nicht öffentlich diffamiert werden.

Zweitens: Die Wikipedia ist keine Tageszeitung, sondern eine Enzyklopädie, und zwar nicht irgendeine, sondern das weltweit meistgenutzte Informationskompendium. In Deutschland hat es den Brockhaus praktisch abgelöst. Der Leser erwartet hier zu Recht Neutralität und Sachlichkeit.

Wie kann es dann geschehen, dass die politische Meinung eines Künstlers in einem Lexikon so massiv an den Pranger gestellt wird, dass es schon an versuchten Rufmord grenzt?

Der Mythos der Schwarmintelligenz

Die Wikpedia kann praktisch von jedem genutzt werden, der schon mal irgendwie im social web unterwegs war. Auf diese Weise ist es sehr leicht möglich, dass persönliche Interessen, etwa den Ruf einer Person zu schädigen, in die Texte einfließen können. Andererseits: Wer eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten entdeckt, kann sich in die Artikel-Diskussion einklinken und bewirken, dass die Sache richtig gestellt wird. Anstelle einer Qualitätskonrolle "von oben" verlässt sich die Wikipedia hier auf die sogenannte Schwarmintelligenz.

Die Diskussionen um Wikipedia- Artikel sind öffentlich einsehbar. Und so findet man auch beim Artikel über Naidoo Versuche, die sich um eine neutralere Ausrichtung des Artikels bemühten. So etwa die Anregung, dass man doch stärker Naidoos Aussagen über seinen christlichen Glauben referieren sollte, wenn man sich schon um seine Meinung kümmert. Die Bitte wird ignoriert.

Ein anderer User weist auf eine 90-minütige Reportage der ARD hin, die sich mit dem Musiker Naidoo und seinem sozialen Engagement beschäftigt. Auch dieser Vorschlag wird abgeschmettert. Statt dessen ist Spiegel-Kolumnist Georg Diez medialer "Kronzeuge" im Falle Naidoo. Mit einem extrem abfälligen Kommentar über den bereits erwähnten Auftritt auf zwei Demos. Es wird schnell klar: Im Falle Naidoo versagt die Schwarmintelligenz bei Wikipedia. Wie ist das möglich?

Nun ist ein Film online erschienen, der sich mit der "dunklen Seite der Wikipedia" beschäftigt und auch Erklärungen für den Fall Naidoo liefert.

Verschwörungstheorien bei Wikipedia

Der Film von Markus Fiedler und Frank-Michael Speer untersucht das "System Wikipedia" [3] am Beispiel des Schweizer Historikers Dr. Daniele Ganser [4].

Der Wissenschaftler erforscht die militärischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte, unter anderem auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York. Dabei diskutiert er zahlreiche Fakten, die der offiziellen Version widersprechen. Ein Kernpunkt ist die Frage, wie es möglich war, dass zwei Flugzeuge drei Hochhäuser vollends zum Einsturz brachten. Nun klingt das einem logischen Einwand, doch Wikipedia schreibt schon in den ersten Sätzen, Ganser greife "Verschwörungstheorien zum 11. September 2001" auf. Dem Leser wird vermittelt: Der Mann ist ein Spinner und kein Historiker.

Interessant ist, wie Wikipedia Verschwörungstheoretiker in Sachen 11. September 2001 definiert. Zitat: "Vertreter dieser Ansichten bezeichnen diese als 'offene Fragen', 'alternative Forschung' oder 'Suche nach der Wahrheit'." Vereinfacht gesagt: Wer die offizielle Version über 9/11 glaubt, ist wissenschaftlich, jeder, der sie anzweifelt, ist ein Verschwörungstheoretiker, also ein Spinner.

Natürlich haben Mitarbeiter von Dr. Ganser und Menschen, die seine Arbeit schätzen, versucht, den negativen Eintrag über ihn zu ändern. Was bei solchen Versuchen passiert, stellt der Film von Fiedler und Speer eindrücklich dar.

Info-Krieg mit verdecktem Visier

Die deutsche Wikipedia ist hierarchisch strukturiert. Es gibt zahllose einfache Benutzer, die sich nur um einzelne Artikel kümmern. Weiterhin vielschreibende Benutzer, die aufgrund ihrer Erfahrung andere Artikel "sichten" und freischalten dürfen. Über denen stehen etwa 200 Administratoren, die weitergehende Rechte haben, etwa die Entscheidung über Streitigkeiten oder die Löschung eines Artikels. Und an der Spitze sitzen 12 "Bürokraten" mit hoher Entscheidungsbefugnis. Alle agierenden Personen treten unter Pseudonym auf, so dass man sich im Grunde ständig auf einer Art "digitalem Maskenball" befindet.

Tritt man nun als Außenstehender in eine Artikel-Diskussion ein, gehört man zur untersten Schicht dieses Systems. So auch diejenigen, die losziehen, um Gansers wissenschaftliche Ehre zu verteidigen. Diese sehen sich nun erfahrenen Benutzern, Sichtern oder Administratoren gegenüber, die seit Jahren mit dem System Wikipedia vertraut sind. Im Fall Ganser heißen sie z.B. Phi, Kopilot und MBurch.

Daniele Ganser im Interview (Screenshot "System Wikipedia" [5])

Im Film wird sehr schnell klar, dass jeder Versuch, jedes noch so gute Argument, das dafür spricht, den Vorwurf "Verschwörungstheoretiker" zu entfernen, am heftigen Widerstand dieser "Elite" scheitert. Es ist mehr als auffällig, wie intensiv hier der schlechte Ruf des 9/11-Zweiflers und Friedensforschers Ganser verteidigt wird.

Solche Vorgänge beobachtet man nicht nur bei Daniele Ganser und Xavier Naidoo. Ich habe mir die Wikipedia-Einträge anderer öffentlicher Personen und Medien angeschaut, die für ihre Kritik an der US-amerikanischen Politik bekannt sind, etwa Jürgen Todenhöfer, Peter Scholl-Latour, Gabriele Krone-Schmalz, die "Junge Welt". Die Häufung diffamierender Anteile im vermeintlich enzyklopädischen Eintrag sind augenscheinlich. Sie werden von Wikipeida-Benutzern eingearbeitet und gegen jede kritische Stimme verteidigt.

Auf der Wikipedia heißen inhaltliche Streitigkeiten "Edit-Wars", und so möchte ich hier in aller Kürze die "Waffen" darstellen, mit denen erfahrene Benutzer die Rechte öffentlicher Personen verletzen und deren Verteidiger abwehren.

Die Waffen der Info-Krieger von Wikipedia

Hohn, Spott, offene Arroganz

Verteidiger von Ganser, Naidoo und anderen, ernten nicht selten enorm höhnische Reaktionen. O-Töne wie: "Spar Dir doch redundantes, floskelhaftes Herumgeeiere" oder "Du darfst davon ausgehen, dass deinem persönlichen Anliegen kaum ernsthafte Aufmerksamkeit zuteil werden wird" geben die Atmosphäre wieder. Auch wird generell "geduzt", egal, ob der Dialog-Partner darauf eingeht oder konsequent beim "Sie" bleibt.

Sanktionen und Sperrungen

Wikipedia ermöglicht Sanktionen für unsachgemäßes Verhalten, was an sich ganz sinnvoll ist, wenn man eine inhaltliche Diskussion vor Unsachlichkeit schützen möchte. Doch Wikipedia-Profis wie "Phi" oder "Kopilot" beherrschen den Umgang mit diesen Sanktionen viel besser als ihre Gegner. Während diese im Streit nach vernünftigen Argumenten suchen, bekommen sie für das kleinste Vergehen eine "Vandalismus-Meldung", d.h. eine Verwarnung, eine zeitweilige Sperrung ihres Benutzerkontos (oder der IP-Adresse) bis hin zur endgültigen Sperre.

Weil Dr. Daniele Ganser ein berühmter Mann ist und immer wieder Menschen daran interessiert sind, ihn vom Ruf des Verschwörungstheoretikers zu befreien, haben es sich die Administratoren in seinem Fall inzwischen ganz einfach gemacht. Jeder Benutzer, der hier noch Kritik anmeldet, wird ohne große Umschweife gesperrt. Begründung ist nur noch: "Causa Ganser".

Selektiver Umgang mit Quellen

Zitate aus fragwürdigen Quellen werden ungeprüft wiedergegeben, so lange sie dem beabsichtigten Bild entsprechen. Bevorzugt werden Sekundär-Quellen, die die betroffene Person in ein negatives Licht setzen. Primär-Quellen und Original-Zitate der Person werden dagegen gern abgewiesen, mit dem Hinweis, Wikipedia stütze sich nur auf die Wiedergabe öffentlichen Wirkens in anderen Medien, also auf Sekundär-Quellen.

Anklage ohne Verteidigung

Wie im Falle Naidoos werden auch bei anderen Personen schwere Vorwürfe zu einer vermeintlichen Gesinnung. (Anti-Semit, homophob etc.) referiert. Öffentliche Richtigstellungen der Betroffenen werden dagegen, obwohl vorhanden, gern unterschlagen.

Kontaktschuld

Die porträtierte Person wird verdächtig gemacht, indem man ihr ein vermeintlich gemeinsames Auftreten mit fragwürdigen Personen "nachweist". So wird etwa im Porträt von Dr. Ganser erwähnt, dass er sich von einem Veranstalter einladen ließ, der zuvor auch Holocaust-Leugner eingeladen habe. Obwohl das eine "Null-Aussage" über Gansers Gesinnung ist, bewirkt sie einen schalen Beigeschmack.

Meinungen als Fakten

Die Vorwürfe, dass eine öffentliche Person "rechts", "rechts-extrem", "anti-semitisch", "verschwörungstheoretisch" oder "anti-amerikanisch" sei, werden seit einiger Zeit geradezu inflationär angebracht. In den meisten Fällen erscheinen sie als persönliche Meinung von Kolumnisten oder Rezensenten. (also nicht etwa als nachgewiesene Mitgliedschaft in einer Partei oder Organisation). Es ist enorm fragwürdig, dass die Wikipedia solche Meinungen in enzyklopädische Artikel einarbeitet, als handele es sich bei ihnen um Fakten.

Das geschlossene Visier

Während ich den Autor einer Tageszeitung für eine verleumderische Darstellung verklagen kann, bin ich vor den Autoren der Wikipedia völlig machtlos. Da klingt die Äußerung [6] von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, "der Schutz der Persönlichkeitsrechte werde bei Wikipedia sehr ernst genommen" wie bitterer Hohn. Er verteidigte damit das Recht seiner Autoren auf Anonymität. Doch gerade die verhindert, dass diffamierte Personen ihre Rechte einklagen können.

Die einzige juristische Adresse ist die Firmenadresse von Wikipedia in den USA. Doch die Chance, dass sich amerikanische Gerichte mit einer entsprechenden Klage beschäftigen würden, gibt es gar nicht.

Dabei handelt es sich um keine Kavaliersdelikte. Wir sprechen hier von Journalisten, Künstlern und Wissenschaftlern, deren Existenz maßgeblich von ihrer öffentlichen Reputation abhängt.

Derzeit fordert eine Kampagne auf Change.org [7] die Aufhebung der Anonymität von Wikipedia-Autoren und lenkt so zumindest die Aufmerksamkeit auf das vorhandene Problem.

Zufall oder System?

Bis jetzt dürfte deutlich geworden sein, bei welchen politischen Positionen die Wikipedia besonders wachsam die Gesinnung öffentlicher Personen verfolgt. Ein Beleg mehr: Je stärker die Kritik an den USA das öffentliche Wirken einer Person bestimmt, umso abstruser fällt der Wikipedia-Artikel aus. Hier empfehle ich als Beispiel die Einträge über Friedensaktivisten wie Ken Jebsen oder den Sänger der Polit-HipHop-Band "Die Bandbreite", Marcel Wojnarowicz. Der Anteil an diffamierenden Äußerungen, die unter der Überschrift "Rezeption", "politische Aktivitäten" oder "Kontroverse" zusammengetragen werden, dürfte in beiden Fällen bei etwa siebzig Prozent liegen.

Ich habe mir daraufhin viele weitere Wikipedia-Artikel über öffentliche, lebende Personen angeschaut und festgestellt, in der Regel agieren die Wikipedia-Autoren sachlich und respektvoll. Diffamierende Äußerungen oder gar ganze Abschnitte, auf denen über die Gesinnung der jeweiligen Person gemutmaßt wird, gibt es extrem selten.

Nun mag man einwenden: Das liegt an der Natur der Sache. Menschen, die sich öffentlich politisch äußern, rufen eben auch mehr Widerspruch hervor.

Aus diesem Grund habe ich mir den Wikipedia-Artikel über das "Zentrum für politische Schönheit" [8] (ZPS) angeschaut. Zu den Aktionen dieser Politaktivisten zählen ein vermeintlicher Transport von Flüchtlingsleichen oder die Entfernung der Gedenksteine der Berliner Mauertoten. Damit haben sie heftige Stürme der Entrüstung im deutschen Blätterwald verursacht. Doch man staune: Bei Wikipedia gibt es keine Kritik. Auf die Frage, warum das so ist, erhielt ein User die Antwort: "Wikipedia ist eine Enzyklopädie, keine Tageszeitung."

Mit dem Argument wären die Artikel über viele andere Friedensaktivisten nur noch halb so lang. Dem ZPS gestehen Wikipedia-Autoren sogar einen Abschnitt "Selbstverständnis" zu, zitieren also Primär-Quellen. Die ungleiche Behandlung ist mehr als offensichtlich. Und was ist das Selbstverständnis des ZPS? Der Kampf gegen eine vermeintliche hartherzige deutsche Bevölkerung mit "moralischen Hochdruckkammern". Doch kein Wörtchen Kritik an den Kriegen der USA. Glaubt da wirklich noch jemand an Zufall?

Verfolgt die deutsche Wikipedia, bzw. eine ihrer Untersektionen, am Ende sogar ein ähnliches Ziel wie das ZPS? Sieht sich die weltweite Enzyklopädie made in USA etwa als stille "moralische Hochdruckkammer", um öffentliche Personen abzustrafen, die an der gegenwärtigen Militärpolitik der NATO unter US-amerikanischer Führung öffentliche Zweifel anmelden. Die auffällige Häufung diffamierender Artikel spräche dafür.

So hätte man ein weiteres Mittel, um die öffentlich wirksame, intellektuelle Schicht in Deutschland unter Gesinnungskontrolle zu stellen. Dabei ist überhaupt nicht abzuschätzen, wie viele Publizisten, Gesellschaftswissenschaftler oder Künstler sich schon jetzt aus Angst vor Diffamierung einer Selbstzensur unterwerfen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3376371

Links in diesem Artikel:
[1] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Xavier_Naidoo
[3] https://www.youtube.com/watch?v=wHfiCX_YdgA
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Daniele_Ganser
[5] https://www.youtube.com/watch?v=wHfiCX_YdgA
[6] http://www.spiegel.de/netzwelt/web/wikipedia-gruender-sucht-nach-edward-snowden-a-907908.html
[7] http://www.change.org/p/transparenz-auf-wikipedia-wikitransparenz/
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Zentrum_f%C3%BCr_politische_Sch%C3%B6nheit