Ein wertvoller Augenblick der elektronischen Geschichte

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Früher dachte ich, dass Konferenzen der wahre Zweck des Internet wären. Man loggt sich von irgendeinem Ort auf der Erde ein, greift ein Thema auf und stürzt sich in ein Gespräch. Das waren nicht die Echtzeit-Chats und Begegnungsräume von America Online. Es handelte sich um "asynchrone" Gespräche, die sich, wie ein Schachspiel, das man mittels der Post spielt, über Wochen und Monate erstrecken können.

Ein Benutzer würde sich in eine USENET-Gruppe oder ein Diskussionsforum einloggen, die bereits vorliegenden Antworten lesen und dann seine Antworten hinzufügen. Die Gesprächsgruppen besaßen alle Titel, die von Star Treks bis biologisches Kochen hießen. Wenn es kein Thema zum eigenen Interessensgebiet gab, konnte man mit seinem eigenen beginnen. Deswegen gibt es die Hunderten von unterschiedlichen USENET-Gruppen. Die Fans von "The Simpsons" benötigen genauso einen Ort für das Gespräch wie die Macintosh-Entwickler und die homöopathischen Ärzte.

Mein erster und beliebtester Online-Aufenthaltsort war THE WELL, der Kurzname von Whole Earth 'Lectronic Link. Angesiedelt in San Francisco war The Well eine der ersten und am meisten in die Zukunft ausgerichteten Online-Gemeinschaften. Es war ein liebenswerter, aber intellektueller Ort, an dem die Menschen Antworten auf wichtige Fragen finden, Freunde treffen, Arbeitsbeziehungen einrichten und gehaltvolle Gespräche führen konnten. The Well gab den Anstoß für Howard Rheingolds wegweisendem Buch "Virtuelle Gemeinschaften" und für Dutzende von lokalen Einwähldiensten auf der ganzen Welt. Die Schönheit von The Well und der meisten USENET-Gruppen kam daher, daß sie mit Lust selbstorganisiert waren. Normalerweise gab es keinerlei Regeln, was ein Gefühl für faires Spielen zu verstärken schien.

Es war so, als ob wir alle gewußt hätten, wie chaotisch das Internet werden könnte, wenn wir nicht eine grundlegende Zivilisiertheit und Vernünftigkeit praktizieren. Abgesehen von wenigen Ausnahmen hielten wir uns an jedes Thema, was es auch immer sein mochte, beschränkten Beleidigungen auf ein Minimum und arbeiteten so gut wie möglich daran, zu einem gemeinsamen Verständnis zu gelangen.

Diskussionen waren ebenso ein Experiment für elektronische Gespräche wie eine Möglichkeit, jede Art besonderer Information zu erhalten oder mitzuteilen. Ich glaube, daß wir uns weniger um eine Tatsache oder eine Idee kümmerten, zu der gekommen sind, als um den Ablauf, der uns dazu verhelfen könnte.

Große Gruppen einander völlig Fremder konnten über jedes Thema sprechen, eine gemeinsame Sprache entwickeln, mit der sie darüber reden konnten, und dann Dinge durch die Interaktion entdecken, auf die keiner für sich alleine gekommen wäre. Daraus speisen sich alle optimistischen Visionen des Internet als Ausdruck einer globalen Synergie.

Eine Kombination von manchmal unvermeidlichen, aber auch von einigen insgesamt nicht zwingenden Kräften haben zusammengewirkt, um diese Online-Gemeinschaften und das Internet als ganzes zu entzivilisieren. Für manche begann dieser Trend vor ein paar Jahren mit dem plötzlichen Einfluß von Hunderttausenden AOL-Benutzern auf das Internet. Zuvor mußten Online-Gespräche vielleicht drei oder vier neue Teilnehmer aufnehmen. Es fiel leicht, den Neuankömmlingen den Spielraum zu zeigen, und die meisten Internet-Gemeinschaften erwarben das Ansehen, dass sie gegenüber den "Newbies" hilfreich und freundlich waren.

Aber als die Neuankömmlinge die Veteranen zahlenmäßig zu übertreffen schienen, setzten Ungeduld und Intoleranz unsere zivilen Instinkte außer Kraft. Die Neuen posteten unangemessene Fragen, beispielsweise wie man Computer in Konferenzen einrichten soll, die dem Zeitplan der Konzerttouren von Greatful Dead gewidmet waren. Feindseligkeit brach auf, wenn erfahrene Benutzer versuchten, sich von allen anderen zu isolieren. Manche USENET-Gruppen bauten sogar Programme ein, die automatisch die Sendungen von AOL-Benutzern löschten.

Dann begannen die Gespräche selbst einen elitären Ton zu entwickeln. Benutzer, die weniger Kenntnisse über ein Thema hatten, wurden lächerlich gemacht und "Flames" (lange beleidigende Beschimpfungen) zum Alltag. In ein Gespräch einzutreten, wurde zu einer Mutprobe.

Inzwischen betrachteten diejenigen, die schnelles Geld machen wollten, jedes Gespräch als selbstdefinierten Zielmarkt. Gespräche über Filme wurden mit Werbungen für neue Filme überschwemmt oder solche über Bücher mit Ankündigungen von Neuerscheinungen, und jede USENET-Gruppe wurde von Werbungen für Pornographie belästigt. Zum Chaos trug auch bei, dass Journalisten, die nach "ehrlichen Reaktionen" beispielsweise von Fans nach dem Tod von Leuten wie Jerry Garcia oder Kurt Cobain suchten, scharenweise genau in dem Augenblick zu den Gesprächsgruppen kamen, in dem deren Teilnehmer sich gegenseitig am notwendigsten gebraucht hätten. Ein Online-Bereich für die Familien der Opfer des Bombenanschlags auf das Oklahoma Federal Gebäude braucht die Eingriffe von Journalisten nicht, die Sensationsberichte schreiben.

Wir hätten mit diesen Störungen zurechtkommen können. Mit einer nur geringen Anstrengung könnten von außen kommende kommerzielle Sendungen zerstört, desorientierte neue Benutzer weitergeleitet und Journalisten gesagt werden, daß sie entweder Email benutzen oder ihre eigene Gruppe beginnen sollten.

Die reale und heimtückischste Kraft, die den Online-Diskussionsgruppen geschadet hat, war aber, daß viele ihrer Teilnehmer von Amateuren zu Professionellen wurden. Ein Großteil der Menschen, die wegen der Diskussionen online gegangen sind, verdienen jetzt ihr Geld in der Online-Welt als Techniker, Programmierer, Entwickler und Autoren. Obwohl eine Diskussion über Online-Journalismus oder moderne Technologie früher reine Philosophie gewesen sein konnte, werden dieselben Diskussionsgruppen heute von hoch profilierten Magazinredakteuren oder Computerentwicklern bevölkert, bei denen es um viel mehr als um eine gute Diskussion geht. Ich habe den Eindruck, dass dies bei mir auch manchmal so ist.

Vielleicht ist "Electric Minds", Howard Rheingolds geistiges Kind, wirklich die richtige Antwort. Er stellte Experten für unterschiedliche Gebiete an, um Diskussionen zwischen Menschen zu führen, die nicht so gut Bescheid wissen. In gewisser Weise ist es eine geschlossene Gemeinschaft, aber die professionelle Moderation garantiert den zivilen Umgang und die geistige Offenheit, für die ihre Abonnenten zahlen.

Ich vermute, dass jeder Salon seine natürliche Lebenszeit besitzt. Selbst das literarische Paradies des Algonquin Roundtable gab es nur für ein paar Jahrzehnte. Doch bevor wir die Grabinschrift der Online-Kultur schreiben, sollten wir uns einen Moment Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, was wir aus diesem kurzen, gemeinsamen und elektronischen Augenblick der Kulturgeschichte mitnehmen wollen. Er ist möglicherweise weitaus wertvoller, als wir erkennen.

Douglas Rushkoff: Die Mac-Attacke

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer

Copyright by Douglas Rushkoff. Distributed by New York Times Special Features. Das Copyright für die deutsche Übersetzung liegt beim Heinz Heise Verlag.