Eine UNO für alle
Wie kann der Missbrauch internationaler Organisationen verhindert werden? Was braucht es, um die UNO zu demokratisieren? Reformvorschläge des ehemaligen UN-Diplomaten Hans-Christoph von Sponeck.
"Es geht um viel mehr als nur um 'Reformen'", sagte der ehemalige deutsche UN-Diplomat Hans-Christoph Graf von Sponeck beim bundesweiten Friedensratschlag in Kassel am 11.12.2022. Das Treffen friedenspolitischer Gruppen befasste sich im Schwerpunkt mit dem Krieg in der Ukraine und mit der Frage, wie eine globale Friedensordnung geschaffen werden kann.
Hans-Christof Graf von Sponeck (* 1939 in Bremen) ist ein ehemaliger deutscher UN-Diplomat, Sachbuchautor und Hochschullehrer. Von 1968 bis 2000 war er für die Vereinten Nationen tätig, zuletzt im Irak. Er ist Sohn des von den Nationalsozialisten in der Folge des 20. Juli ermordeten Generalleutnants Hans von Sponeck.
Es geht hier nicht nur um "Reformen", ohnehin ein schwaches Wort im Hinblick auf das katastrophale geopolitische Chaos, dem die Bürger heute weltweit ausgesetzt sind. Es geht um weit mehr, um sehr viel mehr.
Mensch und Natur sind von Krankheiten befallen. Wir besitzen die "Medikamente", die globalen Gemeinschaftsgüter, für eine Heilung, aber benutzen diese nicht. Über Jahre hinweg ist viel wichtiges Menschenrecht geschaffen worden.
Die Verpflichtung für die Anwendung dieser Rechte existiert daher, um Frieden, menschliche Sicherheit und nachhaltige Entwicklung für alle zu ermöglichen. Anwendung würde bedeuten, dass unsere Welt genesen könnte.
Ohne einen Multilateralismus, wie er in der UN-Charta vorgegeben ist, wird dies nicht gehen. Stalin, Roosevelt und Churchill, ein Kommunist aus dem Osten und zwei Kapitalisten aus dem Westen, hatten sich 1945 auf der Krim über die Schaffung der Uno geeinigt und der Welt eine Gemeinschaft versprochen.
Das konnte nicht gut gehen. Zu groß waren die ideologische Kluft und die unterschiedlichen nationalen geopolitischen Erwartungen. Es folgte der Kalte Krieg, der heute noch kälter geworden ist.
Viel gäbe es hier zu erläutern. Die kurze Zeit, die ich habe, muss ich aber nutzen, für eine Bestandsaufnahme der multilateralen Realität im 21. Jahrhundert und, natürlich, für entsprechende Hinweise zu ihrer Erneuerung.
Gründungsstaaten und heutige Mitgliedsstaaten
Aus 51 Gründungsstaaten der Uno 1945 sind heute 193 Mitgliedstaaten geworden. Die Uno ist aber weiterhin machtpolitisch eine westlich zentrierte Organisation geblieben, so wie die zwei Kapitalisten Churchill und Roosevelt es vor 77 Jahren haben wollten:
Von den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrats kommen drei aus dem Westen; Afrika und Lateinamerika haben keine Sitze, Asien mit China nur einen. Das politische Hauptquartier der UNO befindet sich in New York; die UN-Sonderorganisationen, Fonds und Programme haben ihre Zentralen, ohne Ausnahme, im Westen; die Weltbank und der Internationale Währungsfond, zwei UN-Einrichtungen mit Sitz in Washington, unterliegen deutlich westlichen Interessen.
Sie werden die Gewichtung einer solchen Darstellung in Frage stellen. So ging es mir auch, bis ich über viele Monate hinweg die jährlichen Abstimmungsergebnisse der UN-Generalversammlung untersucht hatte. Was ich herausfand, ergab ein erschütterndes Zeugnis der Machtlosigkeit der Mehrheit der Staaten.
Hauptsächlich westliche Länder, vor allem die Vereinigten Staaten mit ihrem erzwungenen neoliberalen Unilateralismus, haben Jahr für Jahr systematisch jeglichen Versuch, Menschenrechte und die menschliche Sicherheit für alle, wo immer sie leben, unterdrückt.
Vom Kernwaffenstopp-Vertrag und atomfreien Zonen bis hin zu Entkolonialisierung von Territorien in Asien, Afrika und Lateinamerika und der Einführung einer neuen Weltwirtschaftsordnung mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für Industrie- und Entwicklungsländer wurden weitgehend vom Westen oder korrekter, von den USA, verhindert, geradezu boykottiert.
Die USA und Somalia sind übrigens die einzigen Länder, die bis heute die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 nicht ratifiziert haben; ähnliches gilt für die UN-Frauenrechtskonvention von 1979, die ebenfalls bis heute von den USA abgelehnt wird.
Die Rolle des UN-Sicherheitsrates
Alle rechtlichen Verpflichtungen der UN-Charta mit ihren 111 Artikeln werden von den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats immer wieder skrupellos und straflos ignoriert oder gebrochen. Also genau von den fünf Staaten, denen die UN-Generalversammlung die Hauptverantwortung für Weltfrieden und Weltwohlergehen anvertraut hat. Internationales Recht gilt also nur für die anderen. An Belegen für die Machtlosigkeit der Uno fehlt es nicht.
Die Kriege in Jugoslawien, im Irak, Syrien, Afghanistan, Libyen und natürlich in der Ukraine sind die entsetzlichen Zeugen dieses Doppelstandards. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist bisher nur für diese "anderen" 188 UN-Mitgliedsstaaten, zuständig gewesen. Saddam Hussein wurde mit Recht verurteilt, George Bush und Tony Blair bleiben zu Unrecht straflos.
Es siegt weiterhin das Recht der Macht und nicht die Macht des Rechts. Es überrascht daher nicht, dass das 1990 gegebene Versprechen von Paris für ein europäisches Friedensprojekt – wahrlich eine Sternstunde internationaler Beziehungen – schnell zu einem menschenverachtenden andauernden Kriegsprojekt verkümmerte.
Die gegenwärtigen Versuche der Nato, die Öffentlichkeit von der westlichen Ukraine-Politik zu überzeugen, übersieht vollkommen, dass sie damit hilft, die Zivilgesellschaft aufzurütteln und die Macht unsere Widerstands zu stärken.
Aber die Voraussetzung für wirklichen dauerhaften Erfolg der Friedensbewegungen, in Deutschland und überall, bleibt: Wir müssen zusammenrücken, müssen unsere Kräfte bündeln und dies mit Mut, innerer Überzeugung und ehrlicher Menschlichkeit.
Der fatale und unangemessene westliche Führungsanspruch – der Westen stellt acht Prozent der Weltbevölkerung! – in der Weltorganisation und das damit verbundene schwerwiegende Joch für die Friedensarbeit der Uno ist die Hauptursache für den jämmerlichen Zustand des UN-Sicherheitsrates und bleibt die Hauptherausforderung für gefährlich überfällige Reformen der Uno.
Meine 32 Jahre der Mitarbeit in den politisch so unvereinten Nationen und die Zeit des Nachdenkens danach, geben mir das Selbstvertrauen für diese schwerwiegende und anklagende Aussage.
Der Traum des Möglichen für eine friedlichere und gerechtere Welt ist in den 77 Jahren der Uno zu einem tragischen Alptraum des scheinbar Unmöglichen geworden.
Was muss geschehen, um das fatale Joch von der UNO zu nehmen?
Darüber Konkretes, sobald ich das zweite Thema, den stattfindenden Missbrauch internationaler Organisationen, durch ein akutes Beispiel kurz angeschnitten habe.
Politischer Missbrauch am Beispiel der OVCW
Die Welt hat nicht vergessen, wie im Frühjahr 2003 die USA im UN-Sicherheitsrat ihr gefährliches Spiel mit der Unwahrheit über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak – die es schon lange gar nicht mehr gab! – zur Schau getragen haben, als Vorbereitung auf den völkerrechtswidrigen angloamerikanischen Krieg gegen das Land.
Weniger bekannt, aber ähnlich gefährlich, sind Falschmeldungen der OVCW, der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen in Den Haag über den angeblichen Einsatz von chemischen Waffen am 7. April 2018 im syrischen Duma. Ein daraufhin von der OVCW entsandtes Expertenteam kam zu dem Schluss, dass die 43 Menschen, die bei diesem Angriff ums Leben kamen, nicht durch chemische Waffen ums Leben gekommen waren.
Anstelle ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse wurde von dem OVCW-Management ein Bericht veröffentlicht, der das Gegenteil beweisen wollte, nämlich, dass chemische Waffen doch benutzt worden seien. Damit sollte der am 18. April 2018 stattgefundene Angriff in Syrien durch die US-amerikanische, britische und französische Luftwaffe legitimiert werden.
Seither sind zwei OVCW-Wissenschaftler, die für die Untersuchung vor Ort mitverantwortlich waren, aus Protest zurückgetreten, 28 international bekannte Personen, unter ihnen vier weitere OVCW-Wissenschaftler und der erste General-Direktor der OVCW, José Bustani, haben in einer öffentlichen Erklärung ihre Besorgnis zu diesem sicherheitspolitisch so ernsten Zwischenfall und dem offensichtlichen Missbrauch einer internationalen Organisation zum Ausdruck gebracht. Dieser so ernste Vorfall ist von den Medien bei uns und im westlichen Ausland mehr oder weniger ignoriert worden ist.
2021 hatte sich eine kleine Gruppe von vier Personen, zu der ich gehöre, gebildet, die mit Hilfe von Experten und Parlamentariern eine 130-seitige Expertise erstellt hat, die Beweise liefert, dass nicht nur die Frage des Einsatzes von chemischen Waffen, sondern auch der Toxikologie und der Ballistik von der OVCW in Duma politisiert und fälschlich dargestellt worden sind.
Dieser Bericht wird in Kürze mit Unterstützung einer Gruppe von Abgeordneten einem Parlament in Europa und der Öffentlichkeit vorgelegt werden, mit der Forderung, dass alle OVCW-Wissenschaftler, die an der Duma-Untersuchung dieser Organisation mitgearbeitet haben, eine neue Untersuchung vornehmen und Falschdarsteller zur Rechenschaft gezogen werden.
Es geht hier nicht um Ideologie oder die Verteidigung der syrischen Regierung, die anderswo im Land in der Tat chemische Waffen eingesetzt hat. Es geht darum, Wahrheit, Sicherheit und die Integrität der OVCW, einer wichtigen internationalen Einrichtung, zu verteidigen.
Hierzu noch zwei weitere Bemerkungen: Die Uno hat sowohl auf der politischen als auch auf der operationalen Ebene trotz wiederholter Anfragen bezüglich Stellungnahmen zu Duma nicht reagiert – eine äußerst ernste Veruntreuung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung.
Schlimmer noch: Als Partnerorganisation im Verbund mit der OVCW haben sowohl die monatlichen Aussprachen im UN-Sicherheitsrat über Chemiewaffen in Syrien, als auch die Aussagen des UN-Generalsekretärs und seiner höheren Mitarbeiter gezeigt, dass es keine Bereitschaft in der UNO gibt, dem Anliegen der Zivilgesellschaft zu folgen, das Thema OVCW, Duma und Chemiewaffen neu zu untersuchen. Den Sicherheitsrat ist zu einem geopolitischen Theater geworden und dies auf Kosten der Menschen in Syrien.
Jeder Versuch unsererseits, dieses wichtige Thema verantwortlich zu diskutieren, ist bisher nur auf Schweigen, Häme oder vulgäre Abweisung gestoßen. Dies entmutigt nicht nur – im Gegenteil, es fordert heraus, weil diese Auseinandersetzung stellvertretend stattfindet für das globale Ringen zwischen einer geopolitisierten und kriegslüsternden Welt des ungeheureren Reichtums bei gleichzeitiger Benachteiligung und Armut einerseits – und einer multipolaren Welt andererseits, in der Recht, Freiheit und Sicherheit unser Leben bestimmen und die Uno den benötigten Katalysator liefern kann.
Lange Liste der Erfordernisse
Die Liste der rechtlichen, strukturellen und inhaltlichen Anpassungen der UNO an die überlebenswichtigen Belange unserer Welt im 21. Jahrhundert ist lang.
Ich möchte erinnern an die in der UN-Charta vorgeschlagenen Konferenz aller Mitgliedsstaaten der UNO (Art.109), die bereits 1955 hätte stattfinden sollen, um über notwendige Reformen zu entscheiden. Gefordert ist hier politischer Wille der Generalversammlung, nach vielen Jahren der Nachlässigkeit, eine solch wichtige Zusammenkunft zu beschließen.
Die UN-Klimakonferenzen geben einen Vorgeschmack darauf, wie schwierig es sein wird, sich auf wirkungsvolle Reformen zu einigen. Anstehen so wichtige Themen wie die Integration von nichtstaatlichen Organisationen und Jugendlichen in die Arbeit der Uno; oder die Einführung der Rechenschaftsverpflichtung von Personen und Einrichtungen; die Gewährleistung des internationalen Charakters und die Unabhängigkeit der Uno; die zukünftige Rolle des UN-Generalsekretärs und die Auswahl von Bediensteten für den UN-Dienst und vieles mehr.
Globale Krisen: Die wichtigste Hauptforderungen
Was folgt, ist eine enge Auswahl von Erneuerungen, die mir besonders akut erscheinen:
1. Das Hauptgremium der Uno, die Generalversammlung, hat keine Durchführungsautorität. Nur der Sicherheitsrat kann entscheiden, mit einer Ausnahme: Wenn internationale Spannungen von bedrohlichem Ausmaß bestehen und es an Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat mangelt, dann, aber nur dann, kann die Generalversammlung den Sicherheitsrat überstimmen (A/Res 377, 3. November 1950). Dieses Recht der Generalversammlung muss erheblich erweitert werden.
2. Die fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bestehen weiterhin auf dem Primat der Geopolitik, des Großmacht-Nationalismus und der unzeitgemäßen Zusammensetzung dieser Gruppe. Die Zusammensetzung der Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrats hat sich in 77 Jahren nicht verändert und muss dringend angepasst werden, damit Afrika, Lateinamerika und Asien angemessen vertreten sind.
Das bestehende Vetorecht hat immer wieder friedensbildende Maßnahmen verhindert und verlangt eine grundlegende Reform, um Mehrheitsbeschlüsse zu ermöglichen, um damit Alleingänge aus geopolitischen Interessen einzelner Mitglieder endgültig zu verhindern. An konstruktiven Vorschlägen mangelt es nicht.
3. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat, ebenso wie die Generalversammlung, keine Durchführungsautorität, sondern nur beratende Funktionen und ist damit weitgehend realpolitisch unbedeutend. Dieser UN-Gerichtshof kann nur dann wirksam werden, wenn er das Mandat für verpflichtende Rechtsprechung bekommt und damit vollstreckbare Entscheidungen treffen kann.
4. Die Diskrepanz zwischen dem Verlangten und den Geldern, die dem UN-Generalsekretär zur Verfügung stehen, wird immer größer. In diesem Jahr ist das ohnehin schon erbärmliche Budget von 3,2 Milliarden US-Dollar für seine weltweite Initiativen weit geringer als das Budget der Polizei der US-Metropole New York.
Der kleine Staat Bhutan im Himalaya zahlt pro Kopf mehr für das UN-Budget als die USA und unser Land. Katars jährlicher UN-Beitrag beträgt 7,8 Millionen US-Dollar. Für die Infrastruktur der Fußball-WM zahlt die Regierung in Doha nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters 500 Millionen US-Dollar pro Woche.
Das alte Thema: Die Welt hat mehr als genug Geld. Die Neuverteilung dieses Geldes sollte als eine nicht verhandelbare Voraussetzung für menschliche Sicherheit, nachhaltige Entwicklung und eine UNO als globale Durchführungsorganisation vorgenommen werden.
Ausblick
Abschließend möchte ich Ihnen versichern, dass ich mir voll bewusst bin, dass in der gegenwärtigen Welt des Staatszentrismus und des geopolitischen "Rechts der Ausnahme" weder der politische Wille geschweige denn, der ethische Ehrgeiz existieren, um die Umsetzung der hier gemachten UNO-Reformvorschläge zu ermöglichen.
Defätismus? Dies wäre wahrlich eine unverantwortliche Reaktion.
Ich glaube an das Potenzial der Kraft der aktiven Zivilgesellschaft – bei uns und weltweit. Die Dringlichkeit, Mega-Krisen wie der Klimawandel oder die Ungleichheit der Lebenschancen und die Angst vor dem möglichen Einsatz von Nuklearwaffen in Krisensituationen werden uns, die Zivilgesellschaft, und viele Regierungen zusammenführen, um im besten Kant'schen Sinne den Mut für die eigene Vernunft zu entfalten, um damit auch eine UNO aufzubauen, die mit politischer Ehrlichkeit und Rechenschaftsverpflichtung eine Gemeinschaft werden kann, der alle angehören.
Dieser Beitrag wird auch bei Bundesausschuss Friedensratschlag veröffentlicht
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