Eine globale Kaste koppelt sich ab
Über die Gewinnerklasse und die Notwendigkeit, neu von unten aufzubauen
Regierungen und Reiche profitieren von der Corona-Krise. Sie haben mehr Macht und Geld, predigen Moral, aber sie lösen die Krise nicht. Im Gegenteil: Corona stellt den sozialen Sprengsatz scharf, der die Spaltung der Gesellschaft durch Verschuldung, Ausgrenzung und Verteilungskonflikte um Impfstoff weiter vorantreibt.
Hans-Christian Lange, Ex-Kanzleramtsberater und BMW-Manager, der 2016 mit "Social Peace" die erste Band- und Leiharbeitergewerkschaft gründete und mit Sahra Wagenknecht die Protestbewegung "Aufstehen" initiierte, sagt den Macht- und Geldeliten in seinem neuen Buch An ihren Taten sollt ihr sie erkennen den Kampf an. Er fordert ein "Bündnis der Betrogenen", eine Bewegung von unten mit neuen Werten, neuen öko-sozialen Zielen und einem neuen Gemeinsinn. Ein Auszug.
In etwa zehn Jahren, also im Jahr 2030, werden circa zwei Drittel des Weltvermögens in den Händen einer winzigen Klasse von 0,2 Prozent liegen.
Studie des britischen Parlaments, 2018
Wie sieht die ökonomische und soziale Abkopplung der oberen Klasse konkret aus? Im Zeitraum zwischen 1978 und 2012, also vor Corona, entwickeln sich Vermögen und Zukunftschancen zwischen oben und unten bereits extrem ungleich: Der Wohlstand der oberen globalen Schicht, die nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, verdreifacht sich von 7 auf 22 Prozent.
Die neuen Superreichen …
Der Bloomberg-Index der 500 reichsten Personen der Welt errechnet, dass diese "ihr Vermögen seit Januar (2020) um 1,2 Billionen US-Dollar vermehrt" haben. Die rund 2000 Dollar-Milliardäre weltweit steigern ihr Gesamtvermögen bis Ende Juli 2020 auf den Rekordwert von rund 10,2 Billionen Dollar (8,7 Billionen Euro). Diese gewaltige Summe teilt sich die "winzige" Zahl von insgesamt 2189 Männern und Frauen weltweit untereinander auf - und sie verfügen damit über das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands, der größten Volkswirtschaft Europas.
Apropos Deutschland: Hier bestätigt ein anderer Indikator denselben Trend. Im Zeitraum zwischen 2010 und 2017 hat sich die Zahl deutscher Milliardäre von 102 auf 251 mehr als verdoppelt, während sich gleichzeitig auch die Anzahl der Obdachlosen verdoppelt hat - von 248.000 auf 420.000.
… und ihre Machtzentren
Die Tech- und Pharmakonzerne stehen bei der Gewinnexplosion weltweit an der Spitze. Das Vermögen der Gewinnerklasse entfällt zu einem Drittel auf die USA, in zweiter und dritter Linie auf China und Deutschland.
Selbst konservativ-liberale Kommentatoren kommen zu dem Ergebnis, dass diese Gewinnerklasse praktisch unantastbar ist: "Sie sind privatrechtlich verfasste Machtzentren, deren weitreichende unternehmerische und politische Entscheidungen kaum noch staatlich kontrolliert und reguliert werden können."
Die deutsche Nachhaltigkeitsexpertin Maja Göpel resümiert im Herbst 2020: "Von dem, was das Wirtschaftswachstum seit der Globalisierung an Vermögen geschaffen hat, ist bei vielen Armen etwas, bei sehr wenigen Reichen unfassbar viel und bei der großen Mittelschicht kaum bis gar nichts angekommen."
Sie bestätigt, dass der versprochene Trickle-down-Effekt - die Annahme, dass sich alle Boote heben, wenn die Flut der Vermögen steigt - nicht funktioniert. Aber sie präsentiert gleichzeitig eine verblüffende Lösung für die globalen Probleme: Die Vermögenden dieser Welt bunkern in den Steueroasen unglaubliche 8,2 Billionen Dollar. Das sind zehn Prozent des globalen BIP: Allein damit, so Göpel, könnte die Menschheit den Aufbau weltweiter Gesundheitssysteme, Bildungseinrichtungen, resilienter Landwirtschaft und vieles mehr finanzieren.
Leistungs- oder leistungslose Kaste?
Kommen wir zur nächsten Fragestellung: Handelt es sich bei der neuen globalen Gewinnerklasse um eine Leistungselite oder etwa um eine feudale oder Privilegien-Elite? Schon vor der Corona-Krise haben Wissenschaftler diese Frage aufgeworfen. Einige von ihnen beobachten eine Degenerierung der westlichen Eliten und den klaren Trend, dass diese eine neue Art feudaler Kaste herausbilden.
Der US-amerikanische Spezialist für globale und urbane Trends, Joel Kotkin, kommt zu dem klaren Ergebnis: Eine Tech-Oligarchie erobert den wertvollen digitalen Raum und etabliert eine gespaltene globale Herrschaftsordnung neuer Dimension. Sie schafft neue, harte Klassengegensätze - nicht nur in den USA, sondern weltweit: "Wir (sind) Zeuge der Entwicklung einer Oligarchie in angeblich demokratisch verfassten Staaten, wo sich eine neofeudale Aristokratie dem Zentralstaat aufpfropft."
Bereits im Jahr 1932 hatte Aldous Huxley den Terminus der "oligarchischen Kaste" in seinem weltberühmten Roman Schöne neue Welt eingeführt.
Kotkin aber liefert die Definition für das 21. Jahrhundert, dergemäß sich diese neue exklusive Herrschaftsklasse als "eine neue Form der Aristokratie (… erweist und somit als) immun gegen jegliche Auflösung ihrer Macht".
Diese Herrschaftsklasse ist deshalb nach unten nicht mehr durchlässig. Sie grenzt und schottet sich stattdessen extrem stark ab. Ihr privilegierter Status erlaubt ihr das. Kein Wunder, dass diese Kaste einen Moral- und Herrschaftsanspruch über eine in ihren Augen relativ inkompetente und unfähige Allgemeinbevölkerung erhebt.
Die eigene Alternativlosigkeit
So breiten sich Hybris, Selbstüberschätzung und Paranoia in den obersten Kreisen weiter aus. Der Harvard-Philosoph Michael Sandel warnt, "dass die Vermögenden und Erfolgreichen ihre Einkommen tendenziell als Ergebnis eigener Leistung ansehen und deshalb auf diejenigen, die weniger haben, herabblicken". Sie vergessen in seinen Augen "allzu leicht, was sie der Gesellschaft schulden, der sie angehören und die die Voraussetzungen für ihren Aufstieg geschaffen hat". Aus diesem Grund verlören sie seiner Meinung nach den Bezug zum Gemeinwohl.
Wir beobachten also einen mentalen Wandel in dieser Klasse der Globalisierungsgewinner. Der Soziologe Andreas Reckwitz arbeitet zielgenau heraus, dass sich dieser obere Teil der Gesellschaft immer stärker über sogenannte Singularitäten definiert, womit er alle Arten von Besonderheiten meint. Mit ihnen stellt diese Klasse einen exklusiven und ausgefallenen Lebensstil zur Schau.
Zu diesen Besonderheiten zählen räumliche Singularitäten, also besondere Orte, an denen sich die Angehörigen dieser Kaste treffen oder leben. Das sind die hippen Wohnviertel der begehrten Metropolen, aus denen sie mittels Wucherpreisen andere fernhalten. Sie bevorzugen auch "zeitliche Besonderheiten", etwa ausgefallene Reisen, auf denen sie besondere Momente genießen können, die die breite Masse so nicht erlebt. Und diese obere Kaste und ihre Anhänger erzielen damit letztlich eine allgemeine Unvergleichbarkeit als Klasse - in Abgrenzung von den lediglich mittelmäßigen Individuen der breiten Masse.
Moral als Klassenunterschied
Denn zugleich mit ihrem Aufstieg sorgt diese Kaste für den Abstieg anderer Klassen. Einerseits drängt sie die alte Mittelschicht vor allem moralisch ins Aus. Andererseits schafft sie eine neue Klasse der Geringqualifizierten, die "service class" oder die Dienstleistungsklasse. Reckwitzʼ amerikanischer Kollege Kotkin spricht sogar von einer Klasse der "new serfs", also der neuen Diener. Die überlegene Klasse macht so die Globalisierungsverlierer zu Absteigern oder zu Abstiegsbedrohten - und straft sie zusätzlich mit Verachtung ab.
Das Tragische daran ist, dass sie damit viele Mitglieder der jüngeren Generation - vom ungelernten Arbeiter bis zum hochqualifizierten Akademiker - abwertet und ausgrenzt. So steigen die Enttäuschung und Ernüchterung bei all denen, die die exklusiven Werte und Besitzansprüche nicht erfüllen können.
Die oberen Kasten lenken aber nicht ein. Sie führen im Gegenteil aller Welt vor Augen, wie exklusiv sie leben und wie wenig beneidenswert die Normalbevölkerung dagegen abschneidet: All jene, "die bloße Rollenträger sind und Routinearbeiten oder ein Routineleben führen müssen: die wenig besondere Dinge als schnöde Industrieware, also von der Stange oder aus dem Discounter konsumieren, die in gesichtslosen Räumen wohnen und dort ihren Urlaub verbringen und die in zeitlichen Routinezwängen befangen sind, die man schnell vergisst".
Die oberen Kasten kultivieren sich selbst als ultimative Lebensform und damit einen marktkonformen Extremismus, der die Gesellschaft gefährlich spaltet. Aus diesem Grund rechnet Reckwitz Kollege, der Soziologe Oliver Nachtwey, mit einer Zunahme sozialer Konflikte. Diese Konflikte entstehen, gerade weil viele Menschen und vor allem junge Menschen und solche mit Migrationshintergrund sich anstrengen, um sozial aufzusteigen, aber die materiellen und mentalen Schranken nicht überwinden.
Anmerkung: Sämtliche Quellenverweise finden sich im Buch.
Hans-Christian Lange: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Ein Insider entlarvt die neue Geld- und Politikkaste, 255 Seiten, Westend Verlag 2021