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Einführung von Null-Euro-Jobs geplant

Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) will dafür Aktivcenter für "marktferne Langzeitleistungsbezieher" einrichten

Während der Bundestag sich nach langen Auseinandersetzungen zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns durchringt, denkt der Hamburger Senat über eine neue Möglichkeit nach, Lohnkosten drastisch zu senken. Im kommenden Jahr will Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) 500 "Arbeitsgelegenheiten" einrichten, die mit Null Euro vergütet werden. Billiger geht es nicht.

Hamburgs Vielfalt

Der Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration mag [1] an Hamburg "die Vielfalt und die Weltoffenheit":

Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe hier drei Töchter großgezogen. Hamburg ist die Heimat meiner Kinder, meiner Frau und von mir.

Detlef Scheele

Hamburg ist außerdem die Heimat von 42.000 Millionären - mehr gibt es in keiner anderen deutschen Stadt. In Hamburg lebt aber auch jeder zehnte Bürger von Hartz-IV, die Armutsgefährdungsquote beträgt rund 18 Prozent. Wer auf der Veddel wohnt, hat gute Chancen [2], mit einem durchschnittlichen Jahresgehalt von 15.000 Euro rund 11 Mal weniger zu verdienen als Zeitgenossen, die ihren Lebensmittelpunkt in Nienstedten gefunden haben.

Kein Wunder also, dass 49 Prozent der Hamburger sich um die Spaltung der Gesellschaft sorgen und von Kriminalität, Arbeitslosigkeit oder dem Klimawandel deutlich weniger beunruhigt [3].

Die Aktivierung der Kunden

In der Freien und Hansestadt gehen Arbeitslose und Empfänger von Transferleistungen nicht einfach zum Jobcenter, sondern zum "team.arbeit.hamburg". Die Behörde hat neben ihrem windschnittigen Namen noch 2.000 Mitarbeiter, 16 Standorte und obendrein ein Leitbild [4], in dem Leistungen nach dem SGB II als "temporäre Hilfe" definiert und die Bezugsempfänger zur zügigen Mitarbeit aufgefordert werden.

Zur schnellstmöglichen Beendigung des Leistungsbezugs sind wir auf die aktive Mitwirkung unserer Kundinnen und Kunden angewiesen. Deren individuelle Aktivierung zur Selbsthilfe ist deshalb wichtiger Bestandteil unserer Unterstützungsleistungen.

Jobcenter team.arbeit.hamburg: Unser Leitbild

Ein weiterer Bestandteil ist das Angebot sogenannter Arbeitsgelegenheiten (AGH). 2010 gab es in Hamburg noch rund 10.000 AGH-Teilnehmer, nach der Kürzung der Bundeszuschüsse für Ein-Euro-Jobs ist ihre Zahl auf gut 3.000 gesunken. Der Aufgabenbereich reicht von der Seniorenbegleitung über Grünarbeiten und Recycling bis zum Betrieb von Kleiderläden für SGB II-Empfänger, unterliegt aber dem Gebot der Zusätzlichkeit und dem der Wettbewerbsneutralität. Die Chancen, von einer AGH in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, sind (nicht nur in Hamburg) überschaubar. 2011 lag die Übergangsquote bei 13,2 Prozent, 2012 bei 10,9 Prozent.

Neue Strukturen auf dem sozialen Arbeitsmarkt

Sozialsenator Scheele kritisierte [5] die Ein-Euro-Jobs schon vor einigen Monaten als "weitgehend sinnfrei" und "nicht motivationsfördernd". Ab dem 1. Februar des kommenden Jahres will seine Behörde den sozialen Arbeitsmarkt nun neu strukturieren.

"team.arbeit.hamburg" wird Langzeitleistungsbeziehern 2015 insgesamt 3.631 Plätze in diesem Bereich anbieten. 2.320 entfallen auf "klassische" AGH, 500 richten sich unter dem Stichwort "Aktivcenter" an "marktferne Langzeitleistungsbezieher". Gemeint sind "Langzeitarbeitslose mit vielfältigen Problemlagen, die eine Vermittlung von Arbeitsplätzen im allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Qualifizierung erschweren oder unmöglich machen", erklärt Scheeles Sprecher Marcel Schweitzer auf Nachfrage von Telepolis.

Menschen mit Suchtproblemen, mangelnder Arbeitserfahrung oder fehlender Ausbildung könnten sich also ab Februar im "Aktivcenter" wiederfinden. Sie sollen dann in Bereichen eingesetzt werden, die - im Vergleich zu den bisherigen AGH - "stärker produktionsorientiert" ausgerichtet sind.

Die 500 Plätze in Aktivcentern können in ausgewählten Gewerken, wie z.B. Holzbearbeitung, Garten- und Landschaftsbau, Metallbearbeitung, Küchen und Cafés, angeboten werden. Diese Arbeitsgelegenheiten sind deutlich marknäher, bilden die "reale Arbeitswelt" besser ab als klassische AGH und helfen den Menschen insofern als bessere Vorbereitung auf eine Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Da es sich nicht um klassische AGH handelt, kann eine Mehraufwandspauschale (wie bei klassischen AGH) nicht gezahlt werden.

Marcel Schweitzer, Sprecher der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration

Das Hamburger Jobcenter stehe allerdings mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Bundesarbeitsministerium in Kontakt, "um die Möglichkeit einer kompensierenden Entgeltzahlung zu schaffen". Dabei könnte es sich um einen Betrag von rund 100 Euro im Monat [6] handeln.

Die Gefahr, dass sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch Null-Euro-Jobs verdrängt werden, sieht Schweitzer nicht, "da sich die Zielgruppe für den Sozialen Arbeitsmarkt aufgrund der individuellen Vermittlungshemmnisse von jenen Arbeitslosen unterscheidet, die 'reguläre Arbeitsplätze' besetzen könnten". Überhaupt seien die geplanten Maßnahmen "kein Ersatz für Arbeitsplätze, sondern Qualifizierungsmaßnahmen für die Langzeitarbeitslosen".

"Die Ein-Euro-Jobs sind viel zu gut bezahlt"

Dass die bisherige Praxis, Menschen über AGH wieder an reguläre Beschäftigungsverhältnisse heranzuführen, grundlegend reformiert werden muss, forderte der Bundesrechnungshof bereits vor Jahren (Ein-Euro-Jobs keine Brücke in ersten Arbeitsmarkt). Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit e.V. votiert für strukturelle Veränderungen und hat erst im April Vorschläge für eine Vereinfachung und Entbürokratisierung von Förderkriterien veröffentlicht [7]:

In der Förderpraxis von AGH-Maßnahmen führt die rechtliche Unbestimmtheit der Förderkriterien bei der Durchführung von AGH zu einer völlig uneinheitlichen Bewilligungspraxis, zu zum Teil unsinnigen Maßnahme-Inhalten, mit denen ein arbeitsmarktpolitischer Nutzen nicht zu erreichen ist und die zu nicht vertretbaren Haftungsrisiken bei den Verfahrensbeteiligten führen.

Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit e.V.

Auf den Gedanken, die Lösung der Probleme in der Einführung von Null-Euro-Jobs zu suchen, wäre man bei der Bundesarbeitsgemeinschaft freilich nicht gekommen. Die ersten Reaktionen auf die Initiative des Hamburger Sozialsenators waren auch an anderer Stelle verheerend, doch seine Vorschläge sind keineswegs neu. Hochschulabsolventen kennen das Angebot undotierter Lehraufträge, Schüler und Studenten wissen, was es mit unbezahlten Praktika auf sich hat, und die Forderung nach Null-Euro-Jobs erhob vor acht Jahren bereits ein Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). "Die Ein-Euro-Jobs sind viel zu gut bezahlt", meinte [8] Viktor Steiner, der mittlerweile eine Professur für Empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik an der FU Berlin innehat.

Man sollte das Arbeitslosengeld II um 30 Prozent reduzieren, aber zugleich verbesserte Hinzuverdienstmöglichkeiten anbieten. Wer keine Arbeit findet, sollte eine gemeinnützige Arbeitsgelegenheit übernehmen. Wer diese Arbeitsgelegenheit nicht annimmt, bekommt nur noch den Basissatz von 70 Prozent.

Viktor Steiner, 23. Juni 2006

Testballon für den Widerstand?

Scheeles Parteifreunde, mehrheitlich Miterfinder der Agenda 2010, dürfte der Vorstoß des Hamburger Genossen ohnehin nicht überraschen. Schließlich dachte auch Hannelore Kraft (SPD) vor ihrem Amtsantritt als Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen schon öffentlich darüber nach, wie Mehrkosten für den Staat vermieden werden können, indem die von eben diesem Staat beschäftigten Langzeitarbeitslosen nur noch einen "symbolischen Aufschlag auf die Hartz-IV-Sätze" bekommen.

Diese Menschen können zum Beispiel in Altenheimen Senioren Bücher vorlesen, in Sportvereinen helfen oder Straßen sauber halten. In jeder Region sollte ein Expertenteam aus Mitarbeitern der Kommunen, der Bundesagentur für Arbeit, Unternehmern und Gewerkschaften festlegen, welche gemeinnützige Arbeit sinnvoll ist und der Privatwirtschaft keine Konkurrenz macht. (…) Wir müssen endlich ehrlich sein: Rund ein Viertel unserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einen regulären Job finden.

Hannelore Kraft, 8. März 2010

Harald Thomé, Fachreferent für Arbeitslosen- und Sozialrecht und Vorsitzender des Erwerbslosenvereins "Tacheles" in Wuppertal, interpretiert [9] die geplante Hamburger Neuregelung als Versuch, rechtliche Vorgaben, die für die alten AGH galten, "auszuhebeln". Durch die Verbindung mit Paragraph 45 des SGB III [10] könnten bislang gültige Bestimmungen über die Mehraufwandsentschädigung, den Arbeitsschutz, die Anwendung des Bundesurlaubsgesetzes oder die Wettbewerbsneutralität verändert werden. Der Vorstoß sei aber vor allem ein "Testballon", um die Stärke des Widerstands einzuschätzen.

Ein weiterer Testballon fliegt bereits durch Bremen, wurde aber immerhin von der dortigen Linksfraktion gesichtet [11]. Nach deren Erkenntnissen sollen auch hier demnächst Ein-Euro-Jobs gestrichen und die Arbeiten im Rahmen eines freiwilligen ehrenamtlichen Engagements weitergeführt werden.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3366202

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.hamburg.de/senatoren/2910682/senator-scheele/
[2] http://www.abendblatt.de/hamburg/article122221971/Hamburger-fuerchten-Kluft-zwischen-Arm-und-Reich.html
[3] http://stiftungfuerzukunftsfragen.de/fileadmin/user_upload/kolumne-hamburger-abendblatt/2014-05-05_So-ticken-die-Hamburger_Sozialer-Abstieg-ist-groesste-Sorge-der-Hamburger.pdf
[4] http://www.team-arbeit-hamburg.de/media/public/db/media/1/2012/06/168/jobcenterleitbild_210512.pdf
[5] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/langzeitarbeitslosigkeit-hamburger-senator-will-unsinnige-ein-euro-jobs-abschaffen-1.1914275
[6] http://www.taz.de/!140919/).
[7] http://www.bagarbeit.de/data/Positionen/2014-04-15-bag-arbeit-F%C3%B6rderkriterien-AGH.pdf
[8] http://www.welt.de/print-welt/article225071/Was-ein-Wirtschaftsprofessor-mit-Null-Euro-Jobs-fuer-Arbeitslose-erreichen-will.html
[9] http://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/tickerarchiv/d/n/1677/
[10] http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_3/__45.html
[11] http://www.dielinke-bremen.de/politik/presse/detail/zurueck/presse/artikel/ein-euro-jobs-bald-zu-null-euro-jobs-fraktion-die-linke-kritisiert-weitere-verbilligung-von-bes/