Eingesperrt wegen Corona in der Nachbarschaft: MaĂnahme war rechtswidrig
Der GebÀudekomplex gilt als "Problemimmobilie". So kam der Verdacht auf, dass Behörden sozial Benachteiligte bedenkenlos einsperrten. Foto: Francisco Welter-Schultes / CC0 1.0
"Sozialer Brennpunkt" eingezÀunt und polizeilich bewacht: Göttinger Familie siegt nach dreieinhalb Jahren vor Gericht. WÀren Wohlhabende besser behandelt worden?
Das Wissen war defizitÀr, an Impfstoffen wurde noch gearbeitet: Im Juni 2020, wenige Monate nach Beginn der Corona-Infektionswellen in Deutschland, war das Virus in einem Hochhauskomplex in Göttingen ausgebrochen. Die drastische Reaktion der Behörden wurde nun gerichtlich aufgearbeitet.
Die Stadtverwaltung stellte den gesamten GebĂ€udekomplex unter QuarantĂ€ne und zĂ€unte ihn ein. Niemand durfte das GelĂ€nde verlassen. Eine der betroffenen Familien hat dagegen vor dem örtlichen Verwaltungsgericht geklagt â und am Donnerstag nach dreieinhalb Jahren Recht bekommen [1].
Das Gericht erklĂ€rte den Freiheitsentzug durch EinzĂ€unung und polizeiliche Bewachung fĂŒr rechtswidrig. FĂŒr die mehrtĂ€gige MaĂnahme habe es keine Rechtsgrundlage gegeben, hieĂ es zur BegrĂŒndung.
Aus Sicht vieler Bewohner funktionierte auch die Versorgung mit Lebensmitteln schlecht: "Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Ăpfel und abgelaufene Chips", hatte damals eine Frau laut einem Bericht der taz [2] gesagt.
Drei Tage nach Beginn der QuarantĂ€ne, am 21. Juni, eskalierte die Lage, als eine Demonstration durch die Groner LandstraĂe zog. Gefordert wurde der Abbau der ZĂ€une. Innerhalb der Absperrungen versammelten sich rund 100 Anwohner und rĂŒttelten an den aufgestellten BauzĂ€unen.
Manche versuchten, ĂŒber die Absperrungen zu klettern. Die Polizei setzte Pfefferspray ein, Flaschen, Pyrotechnik und Hausrat wurden in Richtung der EinsatzkrĂ€fte geworfen. Gegen mehrere Hausbewohner wurden spĂ€ter Strafverfahren eingeleitet.
Aber auch ein Ehepaar mit zwei Kindern zog vor Gericht. Die Klage der Familie richtete sich nicht gegen die QuarantÀneanordnung als solche, sondern gegen die EinzÀunung und den damit verbundenen Freiheitsentzug.
"VerschÀrfter Arrest": Nur zufÀllig nicht in feinerer Gegend?
Die Wohnanlage in der Groner LandstraĂe gilt als "sozialer Brennpunkt". Der evangelische Pfarrer und GrĂŒnen-Ratsherr Thomas Harms warf deshalb die Frage auf, ob eine solche MaĂnahme wohl auch in den "besseren" Vierteln der Stadt angeordnet worden wĂ€re und sprach von einem "verschĂ€rften Arrest" fĂŒr rund 700 Personen. Unter diesen Betroffenen waren rund 200 Kinder und Jugendliche. Kritisiert wurde auch die GefĂ€hrdung der Nicht-Infizierten auf dem GelĂ€nde.
Die Behörden hatten seinerzeit Tests fĂŒr alle Bewohner angeordnet, nachdem sich zwei Frauen mit dem Coronavirus infiziert hatten. Mehr als 100 Personen wurden positiv getestet. Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, stellte die Stadt den Komplex zunĂ€chst fĂŒr eine Woche unter QuarantĂ€ne. Vom 18. bis 25. Juni 2020 waren die Bewohner faktisch eingesperrt.
Lieferwagen brachten Lebensmittel und Hygieneartikel, das Rote Kreuz und die Johanniter betrieben eine mobile SanitÀtsstation.
"Die Stadt hat wesentliche verfahrensrechtliche Anforderungen nicht erfĂŒllt und damit erheblich und rechtswidrig in die Grundrechte der betroffenen und ohnehin sozial marginalisierten Bewohner des GebĂ€udekomplexes eingegriffen", sagte der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam laut einem aktuellen Bericht der taz.
Das Urteil habe weitreichende Bedeutung fĂŒr den kĂŒnftigen Umgang mit GebĂ€udekomplexen im Pandemiefall. Die MaĂnahme "hĂ€tte trotz der pandemiebedingten dynamischen und sowohl tatsĂ€chlich als auch rechtlich schwierigen Situation in dieser Form niemals durchgefĂŒhrt werden dĂŒrfen".
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.verwaltungsgericht-goettingen.niedersachsen.de/aktuelles/presseinformationen/absperrung-eines-gebaudes-als-coronamassnahme-war-rechtswidrig-227674.html
[2] https://taz.de/Ausschreitungen-wegen-Corona-Quarantaene/!5690924/
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