"Einigung zwischen den USA und dem Iran wäre für Israel eine Katastrophe"
Israel kämpft an sieben Fronten. Die Kräfteverhältnisse in der Region haben sich verändert. Was bedeutet das für die Verteidigungspolitik des Landes?
In unserem Interview mit dem Nahost-Experten Sergei Melkonian werfen wir einen Blick auf die komplexe geopolitische Lage, in der sich Israel derzeit befindet. Während Israels Premierminister Benjamin Netanjahu von Kämpfen an sieben Fronten spricht, analysiert Melkonian, wie sich die Kräfteverhältnisse in der Region verändert haben und welche Auswirkungen dies auf die Verteidigungspolitik Israels hat.
Besonders im Fokus steht die Bedrohung durch den Iran, dessen fortschreitendes Raketenprogramm und direkte Angriffe auf Israel eine neue Eskalationsstufe markieren. Melkonian ist Research Fellow am Applied Policy Research Institute von Armenien in Jerewan und Nahost-Experte.
▶ Herr Melkonian, unlängst haben sich die Hamas-Angriffe auf Israel gejährt. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu spricht davon, sein Land kämpfe an sieben Fronten. Wie haben sich die Kräfteverhältnisse in der Region im letzten Jahr verändert und wie hat sich Israels Verteidigungspolitik entwickelt?
Sergei Melkonian: Die Machtverhältnisse in der Region haben sich verändert. Das betrifft vor allem drei Dinge. Erstens hatte die israelische Armee vor Oktober 2023 viele Jahre lang keine Erfahrung mit Bodeneinsätzen. Alle Operationen, die sie gegen die Hamas, den Islamischen Dschihad oder andere Organisationen in Gaza durchführten, wurden mit der Luftwaffe oder Drohnen durchgeführt. Zweitens startete der Iran als Reaktion auf die Zerstörung seines Konsulatsgebäudes in Damaskus mit dem Angriff auf Israel eine neue Eskalationsstufe.
▶ Was war an diesem Angriff neu?
Sergei Melkonian: Zuvor hatte der Iran als Reaktion auf israelische Aktionen, etwa die Ermordung iranischer Generäle, Stellvertreter eingesetzt oder israelische oder US-Stellungen in Drittstaaten wie in Syrien oder im Irak angegriffen. Nun ist das direkte Ziel Israel selbst. Das Gleichgewicht ändert sich dabei nicht nur wegen des Angriffs. Sondern wegen der Fortschritte des Iran bei seinem Raketenprogramm. Der Iran kann jetzt schnell und billig Raketen produzieren, Israel billig angreifen. Israel werden wiederum die Verteidigungsmaßnahmen ein Vielfaches kosten.
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▶ Gleichzeitig ist aber auch der Iran verwundbar. In Teheran wurde Ismail Haniyya, Chef des Hamas-Politbüros eliminiert. Das war doch ein schmerzhafter Schlag, auch für das Image?
Sergei Melkonian: Sie haben gerade selbst die dritte Komponente bei der Verschiebung des Machtgleichgewichts angesprochen. Mit der Eliminierung von Haniyeh und vieler hoher und mittlerer Offiziere der Hisbollah wurde die Widerstandskraft des Iran deutlich geschwächt. Dafür treten gleichzeitig die Huthis in Erscheinung, die von weit weg Raketen mit einer Reichweite von mehr als 1000 Kilometern abfeuern.
▶ Israel hat den UNO-Generalsekretär António Guterres gerade zur Persona non grata erklärt, "weil er den iranischen Raketenangriff auf Israel nicht verurteilt". Schon 2023 erregte Guterres Aufsehen und israelische Kritik, als er meinte, "die Verbrechen der Hamas gegen Israel seien nicht im luftleeren Raum erfolgt". Wie bewerten Sie diese Bemerkungen?
Sergei Melkonian: Das ist nichts wirklich Neues. Solche Dinge gab es bereits – 1961 kritisierte die UdSSR Dag Hammerskjöld, damals UNO-Generalsekretär, und wollte unter Protest alle Kontakte abbrechen. Israel versteht, dass es keine ernsthafte Reaktion zu erwarten hat, solange die Beziehungen zu den strategischen Alliierten wie den USA gleichbleiben. Auch bei der UNESCO gab es eine große Zahl antiisraelischer Resolutionen. Irgendwann forderte Israel die USA auf, die Finanzierung dort einzustellen. Niemand wollte dieses Geld ersetzen und so wurde Druck auf die UNESCO ausgeübt.
▶ Spiegelt dieser harte Kurs Israels die dortige allgemeine Haltung gegenüber den Vereinten Nationen und deren Fähigkeiten zur Konfliktlösung?
Sergei Melkonian: Die UNO ist heute zur Lösung dieser Konflikte nicht in der Lage. Jeder versteht, dass sie gebraucht wird, um Vereinbarungen zu formalisieren, die irgendwo getroffen wurden. Wenn eine Einigung erzielt wird, wird das dem UNO-Sicherheitsrat vorgelegt, wo alle darüber abstimmen und so weiter. Diese Formalisierung ist eine wichtige Institution und muss beachtet werden. Aber es ist keine entscheidende Kraft.
▶ Wie steht die israelische Gesellschaft als Ganzes zu Netanjahus Kurs? Es gibt ja regelmäßig Berichte, dass Menschen mit seiner Kompromisslosigkeit unzufrieden sind.
Sergei Melkonian: In den vergangenen Jahren gab es tatsächlich viel öffentliche Unzufriedenheit mit Netanyahu. Das liegt an anderen Themen, etwa seinen Eingriffen in die verfassungsmäßige Ordnung. Seine Versuche, seine Macht gegenüber dem Verfassungsgericht durchzusetzen, Bestrafung nach Straftaten zu vermeiden, seine Allianz mit ultrakonservativen und ultrareligiösen Kräften, die der Großteil der Leute nicht akzeptiert. Dann kam der 7. Oktober. Wie wir wissen, versammelt sich die Gesellschaft in Krisen und Kriegen um eine politische Führungsfigur.
Es lässt sich an den Umfragen ablesen: Netanjahus bescheide Zustimmungswerte begannen allmählich zu steigen. Dann sanken sie wieder, da Israel mit der Hamas keine Einigung über die Rückkehr der Gefangenen erzielen konnte. Denn das Wichtigste für die Gesellschaft ist: "Sie konnten die Hamas dort nicht zerstören, haben sie aber wesentlich geschwächt, was schon passt. Sie sollen aber in erster Linie unsere Leute nach Hause bringen". Aber das schafft Israel nicht, Netanjahu kann einen solchen Deal aus politischen Gründen nicht machen.
▶ Aus welchen politischen Gründen?
Sergei Melkonian: Jedes Abkommen bedeutet eine Art Schwächung der israelischen Präsenz in Gaza. Das können Ultraorthodoxe und Ultrarechte nicht akzeptieren. Die Politik besteht aus: keine Verhandlungen mit Terroristen, Zerstörung der Hamas, Zerstörung der militärischen Infrastruktur.
Da kann man kein Abkommen mit der Hamas unterschreiben und Gebiete im Gazastreifen verlassen. Die Hamas könnte ihren Kopf neu erheben und das könnte eine echte Bedrohung für Israel sein. Deswegen kann Netanjahu das nicht machen. Aber er ist ein geschickter Politiker.
Er nahm einen seiner heftigsten Gegner von rechts, Gideon Saar, in sein Militärkabinett auf. Wenn man ihm vorwirft, dass er die Geiseln vergessen hat und nun gegen die Hisbollah zieht, sagt er: "Zum innersten Kabinett gehören Leute, die mich hassen - und diese Entscheidung haben wir gemeinsam getroffen. Sie ist also alternativlos und richtig".
▶ Auch die internationale Gemeinschaft übt Druck auf Netanyahu aus. Was erwartet etwa der Westen von Israel?
Sergei Melkonian: Der Westen, vor allem Deutschland und Frankreich, verfolgt eine humanitäre Agenda. Er sagt "Wir verstehen, dort gab es eine Katastrophe. Sie haben die Hamas geschwächt, fast zerstört. Aber warum Tausende von Kindern töten?" Es gibt auch das Problem, dass Israel Künstliche Intelligenz einsetzte. Sie machte Fehler, gab falsche Ziele aus und deshalb starben Hunderte von Menschen, die gar nichts mit der Hamas zu tun hatten, bei Angriffen. Solche Dinge werden viel publiziert und bringen die Zivilgesellschaft auf. Gerade muslimische Gemeinden und Menschenrechtsorganisationen.
▶ Und was ist mit den USA?
Sergei Melkonian: Dort fragt man sich, um das alles nicht in einen großen Krieg in der Region endet. Sie versuchen, Israel zurückzuhalten, um die roten Linien des Iran nicht komplett zu überschreiten. Denn dann wäre der Iran gezwungen, sich zu wehren und in den Krieg zu ziehen. Die neue Führung im Iran kündigte bei der UNO in New York an, zu einem neuen Atomabkommen bereit zu sein. Der Iran war zuvor passiv - Israel verübte den ersten Angriff, der Iran unternahm nichts,
Israel tötete Ismail Haniyya in Teheran, der Iran unternahm wieder nichts. Die USA wollen auch ihre Ressourcen nicht zu stark verstreuen - und es gibt noch neben Israel die Ukraine, den Iran, die Huthi, die Hisbollah, Taiwan, Südkorea. So wäre eine Einigung mit dem Iran willkommen.
▶ Wäre eine solche Einigung der USA mit dem Iran in Israel auch willkommen?
Sergei Melkonian: Sie wäre aus israelischer Sicht eine Katastrophe. Israel sagt, es könne sich nur dann sicher fühlen, wenn es das einzige Land mit Atomwaffen in der Region sei. Die Freigabe aller dortigen Vermögenswerte und die Ankurbelung der iranischen Wirtschaft, die sich noch in einem beklagenswerten Zustand befindet, würden zu einer wirtschaftlichen Erholung führen. Und das würde den Iran in die Lage versetzen, so schnell wie möglich Atomwaffen zu bekommen. Dann würde sich das Kräfteverhältnis wieder ändern.