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Einsam vor Gott: Godard, die Nouvelle Vague und die Verantwortung der Kunst

Le mépris

Die Nacht der Verachtung, Teil 2

Teil 1: Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot und eine Lampe im Lichte der #MeToo-Debatte [1]

Manchmal müssen klare Worte her. Das dachte sich auch der britische Kritiker Colin McCabe, als er Jean-Luc Godards Le mépris 1996 in Sight & Sound zum größten Kunstwerk erklärte, das im Nachkriegs-Europa geschaffen worden sei. Darüber lässt sich sehr anregend debattieren. In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass Die Verachtung unverkennbar ein Werk der Nachkriegszeit ist und auf eine Vergangenheit reagiert, die damals, 1963, noch sehr stark im allgemeinen Bewusstsein war. Godard stellt sich der Frage, welche gesellschaftliche Verantwortung der Kunst sich aus den "horrible years" (Fritz Lang in Le mépris) ergibt. Das eint ihn mit seinen Kollegen von der Nouvelle Vague.

Die Meinungen darüber, wie lange die Nouvelle Vague dauerte, gehen auseinander. Am strengsten ist man in Frankreich selbst. Dort wird gern der Zeitraum von 1958 bis 1962 genannt, in dem rund hundert junge Leute ihren ersten Film drehten, und oft den letzten. 1963 waren viele wieder von der Bildfläche verschwunden und andere, der Not gehorchend, zum Fernsehen abgewandert. Für den Schluss kämen auch die Jahre 1965/66 in Frage, in denen Godard mit Pierrot le fou und Made in U.S.A. seinen furiosen Abschied vom amerikanischen Kino inszenierte sowie von Anna Karina, seiner Frau und Muse.

Irgendwann vor dem Mai 1968 jedenfalls, darüber besteht weitgehend Einigkeit, war es vorbei mit der "Neuen Welle". Nur Nostalgiker versuchen, das Ende weiter hinauszuschieben, bis in den Mai oder Juni 1973. Godard schrieb Truffaut damals einen Brief, durch den es zum Bruch zwischen den beiden kam und der Filmliebhaber schockierte, als er 1988 (zusammen mit Truffauts ausführlicher Antwort) öffentlich wurde. Die zerbrochene Freundschaft war danach nicht mehr zu kitten. Der Nouvelle Vague - falls zu der Zeit noch existent - kam damit ein Kraftzentrum abhanden, dessen Verlust sich nicht kompensieren ließ.

Bei dem Zerwürfnis ging es in erster Linie um die Unabhängigkeit der Kunst und um gesellschaftliche Verantwortung, nicht um auf dem roten Teppich zu tragende Mode-Accessoires, Sexismus und das Versorgen des Publikums mit schmierigen Details von der Besetzungscouch. Die erotischen, sie nach Ansicht Godards korrumpierenden Bedürfnisse bestimmter Regisseure spielten durchaus eine Rolle, aber zum Rendezvous mit Jacqueline Bisset kommen wir, wenn es soweit ist. Jetzt erst die Neue Welle, deren Vorgeschichte damit beginnt, dass ein präpotenter junger Mann namens François Truffaut Filmkritiker wird. Das war in den frühen 1950ern.

Heikle Traditionspflege

In Truffauts Leben war auf eine schwierige Kindheit und Jugend (mit Aufenthalt in einer Besserungsanstalt) eine nicht minder schwierige Zeit als Soldat gefolgt (mit Aufenthalt im Militärgefängnis von Andernach und unehrenhafter Entlassung aus der Armee). Dann schlug ihm sein väterlicher Freund und Mentor André Bazin vor, für die 1951 von Bazin, Jacques Doniol-Valcroze und Joseph-Marie Lo Duca gegründete Zeitschrift Cahiers du cinéma zu schreiben. Als Rebell gegen Traditionen und Autoritäten machte sich Truffaut daran, mit "Papas Kino" abzurechnen, in Frankreich auch als "Qualitätsfilm" bekannt.

Francois Truffaut. Bild: Jack de Nijs / Anefo / CC0 1.0 [2]

"Zeit der Verachtung", wie das umfängliche, in moralisierendem Ton verfasste und nicht mit persönlichen Angriffen sparende Pamphlet zunächst heißen sollte, war ein Rundumschlag gegen so ziemlich alles, was als gutes französisches Kino galt und vor dem sich die Mehrzahl der Kritiker ehrfürchtig verneigte, weil es sich brav an Konventionen hielt. Hintergrund ist das Blum-Byrnes-Abkommen von 1946, benannt nach den Chefunterhändlern Léon Blum auf französischer und James F. Byrnes auf amerikanischer Seite.

Die USA erklärten sich bereit, Frankreich die überwiegend noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammenden Kriegsschulden zu erlassen (das sind die Schulden, gegen die Präsident Hammond wettert, der Proto-Trump in Gabriel Over the White House) und neue Kredite zu gewähren. Im Gegenzug öffnete Frankreich seine Märkte für amerikanische Produkte, insbesondere für Filme aus Hollywood. Die Franzosen verzichteten darauf, zum System der Vorkriegszeit zurückzukehren, als es zum Schutz der heimischen Industrie eine jährliche Quote für ausländische Produktionen gegeben hatte.

Die neue vierteljährliche Kontingentregelung sah vor, dass jeweils vier von 13 Wochen für französische Filme reserviert wurden. In den übrigen neun Wochen eines Quartals durften die Kinos abspielen was sie wollten. In Hollywood hatten sich seit dem 1940 von den deutschen Besatzern erlassenen Aufführungsverbot für Produktionen aus Nicht-Achsenländern ein paar tausend Filme angestaut, mit denen die Amerikaner jetzt den französischen Markt überschwemmten. Die französische Filmindustrie, in der Okkupationszeit eine der wichtigsten Arbeitgeberinnen des Landes, stürzte das in eine tiefe Krise.

Nach öffentlichen Protesten und einer Großdemonstration der Filmschaffenden im Januar 1948 wurde die Kontingentregelung im September 1948 von der Nationalversammlung gekippt, wieder eine jährliche Quote für ausländische Produktionen eingeführt und außerdem auf jede verkaufte Eintrittskarte eine Steuer zur Unterstützung der französischen Filmindustrie erhoben. So zahlten auch die Hollywoodstudios in den Topf mit dem Geld ein, das vom 1946 etablierten Centre national de la cinématographie (CNC) an heimische Produzenten weitergereicht wurde.

Die Amerikaner wollten nicht nur einen möglichst freien Zugang für ihre Produkte durchsetzen, weil das wirtschaftliche Vorteile brachte. Angesichts des sich abzeichnenden Kalten Krieges sollte auch der American Way of Life propagiert werden. Bei einem Teil der Franzosen, nicht zuletzt im Establishment, weckte das die Angst vor einer kulturellen Überfremdung. Das im Ministerium für Kultur angesiedelte CNC begegnete der befürchteten Amerikanisierung, indem es vorzugsweise Filme förderte, die "typisch französisch" waren.

Mit der Definition des typisch Französischen tat man sich ähnlich schwer wie jetzt die CSU bei ihrem aus der Landwirtschaft übernommenen Konzept von der Leitkultur. Besonders gern gefördert wurden Produktionen, die sich irgendwie französischen Stoffen widmeten (oder was man eben dafür hielt), französische Stars hatten, auf zum Kanon der französischen Literatur gezählten Werken basierten und die eine oder andere Tradition fortführten. Letzteres war insofern heikel, als der französische Nachkriegsfilm bemüht war, an den poetischen Realismus der 1930er anzuknüpfen, ohne verleugnen zu können, dass das nicht alles war.

Die Okkupationszeit war durchaus prägend gewesen und nicht einfach abzuschütteln. Die personellen Kontinuitäten waren ohnehin offensichtlich. Viele von denen, die nach 1945 Filme drehten, hatten das auch unter deutscher Besatzung gemacht und lernten ihr Handwerk nicht völlig neu, als die Deutschen nicht mehr da waren. Da Truffaut gegen eine französische "tradition de la qualilté" polemisierte, die mehr beinhaltete als nur die glorreichen 1930er und deren Fortsetzung in den Nachkriegsjahren, schwang zwischen den Zeilen der Vorwurf der Kollaboration mit den Nazis mit.

Autant-Lara und die Phantome

Bazin war das Pamphlet zu heftig. So wollte er es nicht drucken. Er forderte Truffaut auf, den Text zu straffen, nicht ganz so wild zu polemisieren und in der Zeit, die er für die Überarbeitung brauchte, über aktuelle Filme zu schreiben und so an seinem Stil zu feilen. Truffaut wurde rasch zum viel gelesenen Kritiker, gefürchtet wegen der Schärfe seiner Urteile. Sein Lieblingsfeind war Claude Autant-Lara, der unter den deutschen Besatzern einige ebenso elegante wie eskapistische Ausstattungsfilme gedreht hatte, was man ihm als Beitrag zur Stabilisierung eines Unterdrückungssystems auslegen konnte.

Sichtbarer Ausdruck von Kontinuitäten, mit denen man sich in Frankreich nicht mehr beschäftigen wollte, war der in der Okkupationszeit begonnene, aber erst 1946 in die Kinos gekommene Sylvie et le fantôme (Jacques Tati spielt den Geist). Nach dem Krieg erlebte Autant-Lara mit Filmen wie Die rote Herberge (1951), Rot und Schwarz (1954) und Mit den Waffen einer Frau (1958, mit Brigitte Bardot) sehr produktive Jahre. Als seine Karriere schließlich ins Stocken geriet gab er die Schuld einer "jüdischen Verschwörung", zu der er - trotz fehlender Juden - auch die Nouvelle Vague zählte.

Sylvie et le fantôme

1989 zog Autant-Lara für den Front national seines Freundes Jean-Marie Le Pen in das Europaparlament ein. Das Mandat musste er bald niederlegen, weil er als Alterspräsident (geboren 1901) eine Eröffnungsrede hielt, in der er die Gaskammern zur Lüge der jüdischen Verschwörer erklärte und der Holocaust-Überlebenden Simone Veil vorwarf, von dieser Lüge zu profitieren. Um den peinlichen Auftritt schnell vergessen zu können wurde er unter "Wirres Gerede eines verbitterten alten Mannes" abgehakt. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in einer Tradition stand, die zurück in das besetzte Frankreich und zum in Kollaborateurskreisen gepflegten Antisemitismus führt.

Aus dem Umfeld von Marcel Déat kam 1943 das Pseudo-Dokudrama Forces occultes. In der fast ausschließlich als "unpolitische Unterhaltung" verkauften Filmproduktion der Okkupationszeit sticht "Dunkle Mächte" [3] dadurch hervor, dass das zumeist in kleineren Zirkeln und vor Multiplikatoren gezeigte Werk offen propagandistisch ist. Man erfährt, dass die jüdischen Weltverschwörer mit den Freimaurern unter einer Decke stecken. Geboten wird ein Sammelsurium von kruden Thesen, die seither von Demagogen wie Jean-Marie Le Pen unters Volk gebracht und ständig neu aufgewärmt werden, mit wechselndem Personal (je nachdem, wer sich gerade als Sündenbock eignet).

Marcel Déat trat für die Kollaboration mit den Nazis ein, träumte von einem von Frankreich und Deutschland geführten Europa und gründete 1941 die antisemitische Partei Rassemblement national populaire (Nationale Sammlung des Volkes). Lässt man "populaire" weg hat man den neuen Namen des Front national: Rassemblement national (in rassemblement steckt auch der Aufmarsch drin). Die Umbenennung ist Teil einer Strategie, mit der Marine Le Pen den Front entdämonisieren und bürgerliche Wähler ansprechen will, die der Antisemitismus ihres Vaters abstößt. Hat Marine also im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst oder will sie alten Kameraden signalisieren, dass man sie nicht vergessen hat?

Die von Autant-Lara beklagte Unterwanderung des französischen Qualitätsfilms durch die Nouvelle Vague und das Weltjudentum erlebte Déat nicht mehr mit. In Abwesenheit zum Tode verurteilt, verschied er 1955 in einem Karmelitenkloster in Italien, wo ihn die frommen Schwestern freundlich aufgenommen und versteckt hatten. Und wie kommt man von da zurück zum Kino und zu Jean-Luc Godard? Über den Journalisten François Brigneau beispielsweise, früher Mitglied in Déats alter Antisemitenpartei und 1972 ganz vorne mit dabei, als der Front national gegründet wurde, mit Jean-Marie Le Pen als Parteichef (mit dem sich Brigneau bald danach überwarf).

Als Brigneau 2012 starb war er unter Frankreichs Rechtsradikalen eine legendäre Figur. Das verdankte er jahrzehntelangen politischen Aktivitäten und der Tatsache, dass er nach der Befreiung von den Nazis zusammen mit Robert Brasillach inhaftiert gewesen war. Brasillach ist eine Art Heiliger und ein Märtyrer der französischen Rechten. Niemand konnte so anrührende und heroische Anekdoten über ihn erzählen wie Brigneau, der ihn seinen Mentor und "großen Bruder" nannte. Brasillach war ein begabter Autor. Leider verfasste er nicht nur Romane und Gedichte.

Für Brasillach war der Nationalsozialismus die "Poesie des 20. Jahrhunderts". Als Chefredakteur des antisemitischen Hetzblattes Je suis partout (Ich bin überall) veröffentlichte er die Klarnamen von Résistance-Kämpfern und von untergetauchten, unter falscher Identität lebenden Juden, mit Angabe von Straße und Hausnummer. Im Februar 1945 wurde er als Kollaborateur hingerichtet, obwohl sich viele Schriftstellerkollegen - auch solche, die unbelastet waren - für seine Begnadigung eingesetzt hatten. Bald danach begannen die Bemühungen, ihn zu rehabilitieren. Die Rechten verklärten ihn als Opfer einer politischen Säuberungswelle, hinter der jüdisch-kommunistische Verschwörer steckten.

Histoire du cinéma ( Ausgabe von 1942 und zwei Ausgaben von 1964)

Einen ersten Höhepunkt erreichte der Brasillach-Kult im Sommer 1963, als Godard Le mépris drehte. Eine Luxusausgabe von Brasillachs Gesamtwerk war trotz des stolzen Preises von 700 Francs rasch ausverkauft. In Frankreich sorgte das für heftige Debatten. Diskutiert wurde auch über die Verantwortung des Films und der Filmkritik. Brasillach hatte selbst Kritiken geschrieben und zusammen mit seinem Schwager, dem Rechtsintellektuellen Maurice Bardèche, eine Geschichte des Kinos. Eine erweiterte, nun zweibändige Neuauflage der Histoire du cinéma war bereits angekündigt und Bardèche inzwischen der führende Vertreter eines Revisionismus, der versuchte, die Kollaboration zu relativieren.

Hollywood am Tiber

Trotz langer Dialogpassagen sollte man von Le mépris nicht erwarten, dass sich eine der Figuren hinstellt und einen Leitartikel zur politischen Lage im Jahre 1963 vorträgt. Godard gibt lieber Hinweise für Interessierte als alles für uns durchzukauen. Man darf das als Aufforderung verstehen, sich aus der passiven Konsumentenrolle zu lösen und sich nicht sagen zu lassen, was man denken soll, auch wenn das bequemer wäre. Der Missbrauch des Mediums Film für Propagandazwecke durch Goebbels und Konsorten hatte gezeigt, wie politisch das passive Konsumieren von Unterhaltung sein kann.

Originalschauplätze erzählen ihre eigene Geschichte. In einem Film von 1963, der uns am Anfang in die Atelierstadt mitnimmt, die einst gebaut wurde, weil Mussolini von dort aus den Propagandakrieg gewinnen wollte, ist die jüngere Vergangenheit automatisch mit dabei, und die Verantwortung der Filmemacher, die sich aus ihr ergibt. Paul Javal trifft sich in Cinecittà mit Jeremy Prokosch und dessen Assistentin Francesca Vanini. Prokosch produziert den Odysseus-Film, den Fritz Lang gerade dreht. Paul soll neue Szenen schreiben, um den Film kommerzieller zu machen.

Hollywood am Tiber (6 Bilder) [4]

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Le mépris

Jack Palance, bekannt als Darsteller von Gangstern und Revolverhelden, absolviert seinen ersten Auftritt als amerikanischer Produzent im Stile eines zur Theatralik neigenden Schmierenkomödianten. "Only yesterday there were kings here!", schallt sein erster Dialogsatz von der Rampe. Die kürzlich noch anwesenden Könige, das sind die faschistischen, im Krieg besiegten Diktatoren, die Protagonisten der Monumentalfilme, die in den 1950ern und frühen 1960ern in Cinecittà entstanden und auch die mitunter diktatorisch agierenden Produzenten dieser Filme, die inzwischen wieder abgezogen waren.

Einige Jahre lang waren die Filmstudios in Rom als "Hollywood am Tiber" bekannt. Die Amerikaner ließen hier produzieren, weil die Löhne niedrig waren, es steuerliche Vorteile gab und sie Gewinne investieren konnten, die sie nicht ausführen durften. Mit den goldenen Zeiten war es vorbei, als bei einer Reihe von Großprojekten die Kosten explodierten. Das System kollabierte, als die 20th Century Fox durch Cleopatra an den Rand der Pleite geriet. Le mépris trägt dem Rechnung. Cinecittà ist eine Geisterstadt. Prokosch hat fast alle seine Angestellten entlassen. Das Atelier, vor dem er steht, soll in einen Supermarkt umgewandelt werden. Mit Odysseus will er zurück in die Erfolgsspur.

Prokosch, heißt das, will Geld mit einem Remake verdienen. Eine originelle Idee hat er so wenig wie die Leute, die uns heutzutage mit ihren Sequels, Prequels und Versuchen quälen, alte Erfolge nachzumachen. G. W. Pabst haben wir es zu verdanken, dass er Homer verfilmen lässt und nicht zum x-ten Mal Quo Vadis oder Ben-Hur. Pabst sind wir schon im ersten Teil dieses Artikels begegnet, als Regisseur von Die Büchse der Pandora mit Louise Brooks und als schönem Beispiel dafür, wie sich Godard in der Filmgeschichte verortet. Zur Erinnerung: Anna Karina trägt in Vivre sa vie eine Brooks-Perücke, aus der in Le mépris eine Karina-Perücke wird, auf dem Kopf von Brigitte Bardot.

Pabst entwickelte 1950 ein Filmprojekt über einen Soldaten, der aus dem Krieg heimkehrt: Odysseus. Er hoffte, für die Titelrolle Clark Gable oder Orson Welles engagieren und Greta Garbo überreden zu können, Circe und Odysseus’ Frau Penelope zu spielen. Als sich die Pläne zerschlugen wurde er von seinen Co-Produzenten Dino De Laurentiis und Carlo Ponti ausgekauft. Den in Deutschland als Die Fahrten des Odysseus verliehenen Film inszenierte 1954 schließlich Mario Camerini, mit etwas Hilfe von seinem Kameramann Mario Bava. Kirk Douglas spielte jetzt Odysseus, die mit De Laurentiis verheiratete Silvana Mangano Circe/Penelope.

Am Drehbuch schrieben mindestens sieben italienische und amerikanische Autoren mit. Pabst, der ein Fragment hinterlassen hatte, ist da noch gar nicht dabei. Alberto Moravia arbeitete nach dem Krieg auch als Filmkritiker. Er kannte die Vorgeschichte, war mit Carlo Ponti befreundet und hatte Gelegenheit, die Dreharbeiten zu beobachten. Das war die Grundlage für den Roman Il disprezzo (Die Verachtung). Bei Moravia ist der Regisseur ein Deutscher namens Rheingold. Der Drehbuchautor (im Roman ein Italiener) sagt von ihm, dass er irgendwo unter Pabst und Lang einzuordnen sei.

Godard brachte das auf den Gedanken, dass einer von den beiden den Regisseur spielen könnte. Pabst war an Parkinson erkrankt und hatte sich ins Privatleben zurückgezogen. Langs Augen wurden immer schlechter, er sagte aber zu. Ihn rührte die Verehrung, die ihm durch die jungen Franzosen von der Nouvelle Vague zuteil wurde, und die Gage war auch nicht zu verachten. Das hatte Folgen. Man kann nicht eine lebende Kinolegende wie Fritz Lang engagieren und ihr vorgefertigte Dialoge in die Hand drücken. Godard ließ ihm große Freiheiten bei dem, was er sagen wollte. Aus Le mépris wurde daraus ein anderer Film als der, den Godard ohne Lang und dessen Mitwirkung gedreht hätte.

Verkehrende Macht des Geldes

Das Vorbild für den Produzenten im Roman war Moravias Freund Carlo Ponti. Man fragt sich, wie innig die Freundschaft wirklich war, wenn man liest, dass der Mann Batista heißt. Das ist nur ein t vom kubanischen Diktator Battista entfernt, der Geschäfte mit der Mafia machte und den Fidel Castro 1954, beim Erscheinen des Romans, noch nicht vertrieben hatte. "Mussolini" (Godard über Ponti) wäre wahrscheinlich zu demonstrativ gewesen. Die Selbstinszenierung des Produzenten in Le mépris jedenfalls hat etwas von der Bombastik des Duce.

Dabei redet Prokosch überwiegend dummes Zeug daher. Die Odyssee, erklärt er, müsse ein Deutscher verfilmen, weil auch Heinrich Schliemann, der Entdecker Trojas, ein Deutscher war. Aber Lang (genau genommen ein gebürtiger Österreicher) hat nicht geliefert, was Prokosch haben will. Paul Javal soll neue Szenen schreiben, die den Film kommerzieller machen; nicht nur Sexszenen, versichert Prokosch, sondern mehr. Mehr eben. Genaueres weiß er selber nicht. Für solche Fälle hat er sein Mini-Büchlein mir schlauen Sprüchen dabei.

Verkehrende Macht des Geldes (13 Bilder) [6]

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Le mépris

"Zu wissen, dass man nichts weiß, ist die Gabe eines überlegenen Geistes", liest Prokosch mit erhobenem Zeigefinger vor. Das kommt, in einen Satz gepresst, von Sokrates oder auch von Cicero und ist eine Spitze gegen eine durchkommerzialisierte Welt, in der das kulturelle Erbe in leicht konsumierbaren Häppchen verabreicht wird. Mit Lang, Javal und Francesca Vanini stellt der Film dem Produzenten Charaktere gegenüber, die Bücher noch ganz gelesen haben, von der Odyssee über Dantes Göttliche Komödie bis zu den Dramen von Corneille, nicht zum Zitat kondensiert und als Beigabe zum Glückskeks.

Durch den Dialog wird das Kulturelle mit dem Politischen verbunden. Lang, wendet Javal ein, werde sich Eingriffe in sein Werk nicht gefallen lassen. Schließlich habe ihm Goebbels 1933 die Führerschaft über den deutschen Film angetragen, und er habe Deutschland noch in derselben Nacht verlassen. Diese berühmte Geschichte hat Lang aller Wahrscheinlichkeit nach erfunden und im Laufe der Jahre immer mehr ausgeschmückt. Das ändert nichts daran, dass er nach Hitlers Machtübernahme emigrierte, statt den Nazis seinen großen Namen und sein künstlerisches Genie zur Verfügung zu stellen und das Regime dadurch zu legitimieren.

Jetzt sei aber nicht 1933 sondern 1963, sagt Prokosch (mit erhobenem Arm), "und er wird inszenieren, was im Drehbuch steht, genauso wie ich weiß, dass Sie es schreiben werden". Warum? Weil Prokosch der Mann mit dem Bankkonto ist. Im Audiokommentar der Criterion-DVD erinnert Robert Stam an Karl Marx’ Konzept von der "verkehrenden Macht" des Geldes, die durch den Produzenten illustriert wird. "[Das Geld] verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn", schreibt Marx [8].

Prokosch ist ein Idiot, kann sich aber dank seines Reichtums die Intelligenz anderer Leute kaufen. Der Film spielt auf mehreren Ebenen durch, was das bedeutet. Javal verrät Lang und die Kunst, Camilles Liebe zu ihm verwandelt sich in Verachtung, die tugendsame Ehefrau wird behandelt wie eine Hure und so weiter. "Verkehrt" wird auch die Gewalt der Stiefel, transformiert in die Gewalt der Ökonomie. Für Godard verkörpert Prokosch eine neue Art von Faschismus, den Faschismus des Geldes.

Man kann das zu polemisch finden oder Godard vorwerfen, dass er selbst zur Relativierung schlimmster Verbrechen beiträgt, indem er gegen einen Hollywood-Produzenten die Nazi-Keule schwingt. Andererseits steht Prokosch für eine "klassische", bestimmten Regeln gehorchende Form des Filmemachens, welche die Nouvelle Vague auch an einer anderen Front bekämpfte: der gegen die tradition de la qualité, die aus Sicht der Neuen Welle mehr mit der Professionalisierung der französischen Filmindustrie durch die deutschen Besatzer und ihre Propagandaabteilung zu tun hatte, als man es nach dem Krieg wahrhaben wollte.

Wenn im Dialog Hitlers Propagandaminister erwähnt wird, in der von den italienischen Faschisten zu Propagandazwecken errichteten Filmstadt Cinecittà, kann das bei Godard nur die Ankündigung eines ästhetischen Gegenentwurfs zum Übermächtigungskino der Nazis sein. Die manipulative Kraft des Films beruht auf seiner Fähigkeit zum Verschleiern. Wir sollen vergessen, dass wir nicht am echten Leben von Menschen teilhaben, sondern eine interessengesteuerte Inszenierung sehen. Oberstes Gebot ist, dass wir uns dieser Inszenierung nicht bewusst werden sollen.

Wenn das Publikum darauf aufmerksam wird, was gespielt wird, ist das ein Zeichen für schlechtes Handwerk, sagt die Filmindustrie. Propaganda ist nur gute Propaganda, wenn man nichts davon bemerkt, sagt Dr. Goebbels. Aus den Erfahrungen des Dritten Reichs und der Okkupationszeit ergibt sich für Godard die Verantwortung des Filmemachers, der Manipulation etwas entgegenzusetzen. Sein Gegengift ist die Transparenz. Also legt er den Apparat hinter der Illusion bloß, der sonst verborgen bleibt.

Die Szene bei den an die Supermarktkette verkauften Ateliergebäuden ist in einem der langen, für Le mépris charakteristischen Tracking Shots aufgenommen. Die Kamera bewegt sich parallel zu den Gebäuden und macht auf sich aufmerksam, weil das wieder eine von Godards langen Plansequenzen ist. Je länger es dauert, bis geschnitten wird, umso länger hat man als Zuschauer die Gelegenheit, sich der Anwesenheit der Kamera bewusst zu werden. Während Prokosch sein Credo auf die Macht des Geldes ablegt leistet Godard durch die Regelverstöße in der Inszenierung ästhetischen Widerstand.

Vorher, in der ersten Einstellung des Films, haben wir Raoul Coutard gesehen, die von ihm bediente Kamera und die Schienen, die verlegt werden mussten, um die Tracking Shots zu ermöglichen. Die von der Kamera begleitete Francesca geht an der Rampe vorbei, auf der Prokosch ein paar Leinwandminuten später den Königsdialog spricht, und danach wird der Produzent seine Assistentin behandeln wie eine Untertanin, über die (und deren Körper) der Herrscher nach Belieben verfügen kann. Da treffen sich die physische Gewalt und die des Scheckbuchs, als Formen des Machtmissbrauchs.

Sättigungstechnik

Prokosch hat Paul Javal zu sich bestellt, weil er der Drehbuchautor von Totò gegen Herkules ist (Totò, der populärste Komiker Italiens, hatte gerade die Komödie Totò e Cleopatra abgedreht). 1963 musste man kein Insider sein, um zu wissen, auf wen das abzielt. Joseph E. Levine, Carlo Pontis Geschäftspartner, war auch den Lesern der Klatschpresse ein Begriff, weil er es durch eine Kombination aus Geltungsdrang und Verkaufsgenie auf die Titelseiten geschafft hatte: als der Mann, der durch Herkules und die "Sättigungstechnik" (saturation technique) zum Millionär geworden war.

1959 kaufte Joe Levine Le fatiche di Ercole (Die unglaublichen Abenteuer des Herkules) mit dem kalifornischen Bodybuilder Steve Reeves. Der Film von Pietro Francisci war ihm eigentlich nicht bunt genug, hatte aber sonst alles, was so ein Film seiner Meinung nach haben musste: "Muskelmänner, Weiber und ein Schiffsunglück und einen Drachen für die Kinder." Levine investierte 120.000 Dollar in die Verleihrechte und weitere 120.000, um Ercole synchronisieren und umschneiden zu lassen. Dann ließ er 635 Verleihkopien ziehen, damals eine rekordverdächtige Zahl.

Üblicherweise lief ein Film zuerst in einigen der größeren Städte an, dann nacheinander in ausgewählten Regionen und so weiter. So dauerte es Wochen und Monate, bis er einmal quer durch die Vereinigten Staaten gewandert war. Levine trat zunächst eine mit einer Million Dollar unterfütterte Werbekampagne los (flächendeckende Anzeigen in der Lokalpresse, Werbespots bei den örtlichen Radio- und TV-Stationen, Interviews mit den Stars, Sonderveranstaltungen, knallige Plakate und eine Flut von sonstigem Werbematerial), mit ihm selbst als Zirkusdirektor in der Manege, dem keine Marktschreierei peinlich war.

Dieses Mediengewitter donnerte schon einen Monat lang durchs Land, als der Film endlich anlief, in mehreren Regionen gleichzeitig und in so vielen Kinos wie nur möglich. Das war die Sättigungstechnik, die im Idealfall so viel Aufmerksamkeit generierte, dass es nicht mehr auf die Qualität des zum Event gewordenen Films ankam und auf die Meinung der Kritiker schon gar nicht. Hercules spielte in den USA und Kanada 15 Millionen Dollar ein. Hercules Unchained (Herkules und die Königin der Amazonen), eine Art Fortsetzung, tourte in mehr als tausend Kopien durchs Land, und der Rummel war noch größer.

1959 noch weitgehend unbekannt, war Levine 1960 eine prominente Medienpersönlichkeit. Sein Erfolg zog Nachahmer an. Dadurch stiegen die Preise für Billigware aus Italien, die man günstig umarbeiten und dann in die amerikanischen Kinos drücken konnte. Levine brauchte ein neues Geschäftsmodell und stieg auf ein hochklassigeres Produkt um, den "art film" (Kino mit Kunstanspruch, wobei "art" oft nur ein Synonym für "ausländisch" war). Er hatte den Ehrgeiz, seinen Ruhm als Importeur von Sandalenfilmen mit kulturellem Prestige anzureichern.

Die Zeiten waren günstig. Bis Mitte der 1950er galten amerikanische Arthouse-Kinos, die fremdsprachige Filme zeigten, als "sure-seaters", in denen man garantiert einen Platz bekam. Das änderte sich, als man bei Akira Kurosawas Die sieben Samurai oder Ingmar Bergmans Das siebente Siegel plötzlich Schlange stehen musste. Die Arthouse-Szene wurde zu einem Wachstumsmarkt, auf dem europäische Schauspieler und Regisseure die Stars waren. Levines Stunde schlug, als ihm Carlo Ponti die US-Rechte an La ciociara verkaufte, Vittorio De Sicas Verfilmung eines Romans von Alberto Moravia.

Sophia Loren spielt in Und dennoch leben sie (deutscher Titel) eine Mutter, die versucht, ihre Tochter heil durch die Wirren der letzten Kriegswochen zu bringen, mit wechselndem Erfolg. Angeblich wurde sich Levine mit Ponti einig, ohne den ganzen Film gesehen zu haben; die Massenvergewaltigung durch marodierende Soldaten reichte ihm. Vielleicht wollte er sich aber auch als vulgärer Emporkömmling und eher kulturloser "Mann aus dem Volke" inszenieren, um sich selbst zur Marke zu machen. Jedenfalls begann er nun, mit seinen Herkules-Millionen und seinen Sättigungskampagnen den Arthouse-Markt aufzurollen.

Andere Anbieter hatten gezögert, die Rechte an De Sicas Film zu erwerben, weil Lorens Rolle nicht zu ihrem Image als Sexgöttin passte. Levine ließ für Two Women (US-Titel) trotz Kunst und ernster Botschaft ein Plakat drucken, auf dem sie mit Ausschnitt, zerrissener Bluse und reichlich Oberschenkel zu sehen ist. Dann organisierte er durch aggressive Lobbyarbeit einen Oscar für Sophia Loren als beste Hauptdarstellerin. Damit hatte er sich erfolgreich als großer Zampano der - von ihm nach Kräften erweiterten - Arthouse-Nische eingeführt.

Wie er sich gerne sehen wollte zeigt ein Bericht, den eine von Levine beauftragte PR-Agentur im Branchenblatt Variety (29.4.1963) unterbrachte. Dort hieß es, Federico Fellini habe zugestimmt, die US-Rechte an 8 ½ an Levine zu vergeben, obwohl andere mehr geboten hätten. Der Grund: "Der Erfolg von 8 ½ in Amerika ist gesichert, weil niemand besser weiß als Joe Levine, wie man einen guten Film verkauft." Das Problem dabei: Es war Joe Levine, der bestimmte, was ein guter Film ist und nun dazu überging, sich bereits bei den Dreharbeiten einzubringen.

Schweigekartell

8 ½ kaufte Levine noch unbesehen, weil Fellini seit La dolce vita ein Arthouse-Superstar war. Ein paar Monate später, bei Le mépris, fungierte er als Co-Produzent und nervte Godard mit täglichen Forderungen per Telex aus New York. Godard beklagte sich öffentlich über diese Einmischungsversuche. Das fand Eingang in einen Artikel, der eine Woche vor der New-York-Premiere von Vivre sa vie in der Variety (14.8.1963) erschien und Godard sehr schadete. Das Umfeld, das einem rät, den Mund zu halten, gibt es nicht nur, wenn Frauen von Produzenten sexuell belästigt werden.

Anders als beim sexuellen Missbrauch sind die Eingriffe eines Produzenten in einen Film nicht per se verwerflich. Filme werden dadurch besser oder schlechter oder bleiben, wie sie sind, und natürlich würden sie ohne die Produzenten gar nicht erst entstehen. Jenseits dieser Binsenweisheit wäre eine Diskussion trotzdem wünschenswert. Schließlich geht es darum, was wir für unser Geld zu sehen kriegen oder eben nicht. Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource. Anschläge auf die Filmkunst sind nicht annähernd so sexy wie ein Produzent, der schönen Frauen nachstellt. Die Parallelen könnten trotzdem von Interesse sein.

Wer aber öffentlich gegen Eingriffe in sein Werk protestiert wie Godard verstößt gegen die Etikette und muss die Folgen tragen. Das Wort, das in der Filmbranche Karrieren zerstören kann, ist "schwierig". Oft ist das ein Synonym für: nicht zu Willen sein. Die Schauspielerin Ashley Judd verklagt Harvey Weinstein jetzt auf Schadenersatz [9] und macht geltend, dass er sie als "schwierig" verleumdet und so ihrer Karriere geschadet habe, weil sie seine sexuellen Avancen zurückwies. Wie ist das mit dem "schwierigen" Jean-Luc Godard, der verlangte, dass Joe Levine die Finger von Le mépris ließ?

Le mépris

Im Film läuft es auf einen Befund hinaus, den Fritz Lang aus dem Off so formuliert: "Ein Produzent kann dem Regisseur ein Freund sein [nicht mit ihm befreundet sein wie in den deutschen Untertiteln der Arthaus-DVD]. Aber Prokosch ist kein richtiger Produzent. Er ist ein Diktator." Im echten Leben war es so, dass Levine sich weigerte, Le mépris beim Festival von Venedig einzureichen - trotz guter Chancen, eine der prestigeträchtigen (und werbewirksamen) Auszeichnungen mitzunehmen. War das die Revanche für Godards Unbotmäßigkeiten oder lag es daran, dass Levine nicht an den Film "glaubte" (eine von den Lieblingsvokabeln der Weinstein-Brüder)? Schwer zu sagen, wie immer in solchen Fällen.

Le mépris

Von seiner Ankündigung, Godard zum "neuen Fellini" zu machen, wollte Levine jedenfalls nichts mehr wissen. Im Dezember 1964, als Le mépris (Contempt) mit gehöriger Verzögerung in den USA anlief, ein Jahr nach dem Start in Frankreich, fehlte das übliche Tamtam. Levine hatte eine um drei Minuten gekürzte Synchronfassung anfertigen lassen und vermarktete sie nicht als Arthouse-Film wie den nicht weniger selbstreflexiven 8 ½ (Oscar 1964 für den besten fremdsprachigen Film), sondern als Mainstream-Produkt, das er überwiegend in Kinos brachte, wo Contempt auf das Unverständnis eines Publikums stieß, das auf so etwas nicht vorbereitet war.

Bei der US-Kritik und an der Kinokasse fiel der Film durch. Godard wurde als undankbarer Querulant abgestempelt, der künstlerisch abgewirtschaftet habe und sich darin gefalle, fremdes Geld zu vernichten. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob es anders gewesen wäre, wenn Levine in der Arthouse-Szene sein übliches PR-Feuerwerk abgebrannt hätte, statt den Film ohne Plan irgendwo abzuladen und hinterher als Verlustgeschäft zu verbuchen. Festzuhalten ist, dass der Erfolg eines Films durch die Sättigungstechnik verstärkt davon abhing, ob in überfallartige Werbekampagnen investiert wurde oder nicht.

Einem finanzstarken Investor wie Joe Levine gab das sehr viel Macht. Er hatte die Mittel, sich erst einen Markt und dann seine eigene Wirklichkeit zu schaffen - eine Wirklichkeit, in der der Publikumsgeschmack der seine war, weil dieser Geschmack sehr viel mit Verfügbarkeit, Gewöhnungseffekten und medialer Verstärkung zu tun hat. Seine Form der Machtausübung ist die Blaupause für die Regentschaft der Weinstein-Brüder, lange Jahre Chefs der Firma Miramax (und danach der Weinstein Company).

Miramax first

Man ignoriert nicht die Opfer von Harvey Weinsteins sexuellen Übergriffen und schmälert nicht deren Anspruch auf Gerechtigkeit, wenn man darauf hinweist, dass seine Herrschaft mehr beinhaltete als den Boulevard elektrisierende Sexgelüste. Ob er und sein Bruder Bob an einen Film "glaubten" entschied darüber, ob er ordentlich beworben, auf Festivals gezeigt, umgeschnitten oder zum Verstauben im Archiv abgelegt wurde. Jonathan Rosenbaum [10] fordert aus gutem Grund, außer den Frauen auch die Künstler und die Zuschauer der Filme als Opfer zu betrachten, die Harvey Weinstein missbraucht hat.

Auch wenn manche von Harveys und Bobs Einkäufen nie verliehen oder verramscht wurden stimmte die Rendite, weil andere Anbieter den Weinsteins mit Filmen, die als totes Kapital im Archiv der Miramax lagen, keine Konkurrenz und ihnen somit keine Kinoleinwände streitig machen konnten. Die Brüder betrieben etwas, das man die "Miramaxierung" des Arthouse-Kinos nennen könnte, also die Herstellung und den Vertrieb von kommerziell geglättetem Kunstgewerbe mit angetäuschter Widerständigkeit gegen eine normierte Filmästhetik als zusätzlichem Verkaufsargument. Was nicht ins Schema passte wurde zurechtgestutzt.

Gerechtfertigt wurde das als notwendige Anpassung an den - von den Weinsteins definierten - Geschmack des amerikanischen Publikums. In den USA prägte die marktbeherrschende Stellung der Miramax die Wahrnehmung des nicht-amerikanischen Kinos. Jacques Tatis Jour de fête und Jacques Demys Les demoiselles de Rochefort sind Meisterwerke des europäischen Films und hätten Inseln der Vielfalt im von der Miramax mit einer Schleife aus Schein-Originalität präsentierten Einerlei sein können. Die Weinsteins kauften die restaurierten Fassungen und befanden, dass Amerikaner so etwas nicht sehen wollten.

Les demoiselles de Rochefort

Die Einspielergebnisse gaben ihnen recht. Kaum beworben und lustlos auf den Markt gekippt verschwanden Tatis Briefträger und Demys Garnier-Schwestern rasch aus den wenigen Arthouse-Kinos, in denen sie überhaupt gezeigt wurden. Filme, an die Bob und Harvey "glaubten", wurden gekürzt und neu montiert. Ein Beispiel aus China, um nicht zu eurozentrisch zu sein: Chen Kaiges Temptress Moon kriegt man in Ländern des Westens fast nur noch in der Miramax-Fassung zu sehen, mit erklärenden Einschüben und zerstörtem Rhythmus.

Fans von Martial-Arts-Filmen haben wenigstens die Wahl zwischen der "amerikanisierten" und einer "restaurierten" Version (in England bei Eureka) von Woo-ping Yuens Iron Monkey. Wer eine DVD oder Blu-ray mit der Miramax-Fassung erwischt sieht fünf Minuten weniger, wird nicht mit Politik belästigt (Auslassungen in den Untertiteln), hört eine neue Musik und erfährt (im Bonusmaterial) von Quentin Tarantino, wodurch sich die Erwartungshaltung chinesischer Kinogeher von jener der Amerikaner unterscheidet. Gemeint ist ein Amerikaner: Harvey Weinstein, mit dem Tarantino damals noch befreundet war.

Niemand weiß, wie viele Filme - auch europäische - nicht erst durch nachträgliche Bearbeitungen, sondern durch vorauseilenden Gehorsam "miramaxiert" wurden, um Zugang zum wichtigen US-Markt zu erhalten. Da hilft dann die schönste Restaurierung nichts, weil man nichts restaurieren kann. Levines Aufstieg begann übrigens mit Godzilla, King of the Monsters, der "amerikanisierten" Version von Ishirō Hondas Gojira. Da fehlte eine Viertelstunde (Hinweise auf die Atombombe und die nukleare Verseuchung des Meeres), es gab neue Szenen mit Raymond Burr als US-Reporter, das Ganze war mit Toneffekten aufgepeppt.

Macht der Bilder

Im Oktober 1965 schenkte Levine dem Museum of Modern Art in New York sieben Filme. Le mépris - bis in die 1990er hinein selbst bei Godard-Retrospektiven kaum noch zu sehen - war nicht dabei, obwohl ihn sich das MoMA sehr gewünscht hätte. Auf Nachfrage erwiderte Levine, Godard sei die Personifizierung dessen, was schief laufe in Frankreich. In einem Interview mit dem New Yorker (16.7.1967) erklärte er Le mépris zum schlechtesten Film, den er je produziert habe. Seine Firma habe eine Million Dollar verloren, weil sich der Regisseur nicht an das Drehbuch gehalten habe. Das war das Drehbuch, das Godard selbst geschrieben hatte und das sich recht genau an die Romanvorlage hält.

Denselben Vorwurf macht Jeremy Prokosch, in Le mépris, Fritz Lang. Godard legt bei der Gelegenheit wieder einen Teil des Apparats bloß, der verborgen bleibt, wenn sich ein Filmemacher an die Regeln hält. Wir sind in einem Vorführraum in Cinecittà. Dort erleben wir das Medium Film nicht als "Fenster zur Welt" (eine Lieblingsmetapher der Industrie), sondern als ein im Entstehen begriffenes Konstrukt. Wir sehen Zuschauer, den Filmvorführer, den Projektor, die Klappe, den Regisseur (als Namen auf der Klappe sowie in der Person von Fritz Lang) und stilisierte Bilder, die er inszeniert hat.

Macht der Bilder (13 Bilder) [11]

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Le mépris

Auf der Leinwand erscheinen Statuen antiker Götter, eine Büste von Homer, Penelope, Odysseus mit Pfeil und Bogen und einer der getöteten Freier. Godard zeigt uns das Sichten der Muster und das Filmen als die Herstellung von vielen Einzelteilen, die später verworfen oder so montiert werden, dass eine Geschichte daraus entsteht. Die Nummern auf der Klappe (für Szene und Take) braucht man, um sich beim Schneiden in der Fülle des Materials zurechtzufinden. Bei jedem Schritt gibt es Eingriffsmöglichkeiten, sei es durch den Regisseur oder durch den Produzenten, die einen Film verändern können.

Godard nimmt sich Zeit für Prokoschs Reaktionen. Auf der Leinwand planscht eine nackte junge Frau im Wasser herum. Prokosch freut sich darüber wie ein Säugling beim Blick auf die Mutterbrust. Angesichts der Statuen wirkt er konsterniert, glaubt aber zu wissen, wie sich die Götter fühlen, weil er sich selbst für einen hält. Lang holt ihn vom Sockel und erwidert, dass nicht die Götter den Menschen erschaffen hätten sondern der Mensch die Götter - so wie der Autor Homer die Odyssee erschaffen hat, ist gemeint, und der Regisseur Godard den Film Le mépris. Damit wird die Kunst in ihr Recht gesetzt, das ihr Prokosch bestreiten will.

Macht der Bilder (18 Bilder) [13]

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Le mépris

In die Muster hat Godard Bilder von den Dreharbeiten auf Capri eingeschmuggelt, die erst noch stattfinden müssen. Der chronologische Ablauf der Ereignisse ist auch nur eine Konvention des Filmgewerbes, an die man sich hält oder eben nicht. Für den Produzenten ist das, was Lang bisher abgeliefert hat (und noch abliefern wird), brotlose Kunst, mit Ausnahme der nackten Schwimmerin. Das führt zu dem Vorwurf, den Lang im Laufe einer langen Karriere schon oft gehört hatte. Prokosch fühlt sich betrogen, weil sich der Regisseur nicht an das Drehbuch gehalten habe.

Lang erklärt geduldig, dass im Drehbuch etwas Geschriebenes steht, während man auf der Leinwand Bilder sieht. Bei der Übertragung vom Wort ins Bild zeigt sich die Macht des Regisseurs. Dort kann er Widerstand leisten. "Bardot nackt und mit Piccoli im Bett" stellten sich Levine und Ponti sicher anders vor als das, was sie dann zu sehen kriegten. Die Odyssee, sagt Lang, erzählt vom Kampf der Menschen gegen die Götter. Wenn der Produzent ein Gott ist sind Lang und Godard zwei von den Menschen, die gegen ihn aufbegehren. Godard erfuhr dann, wie es ist, wenn sich Gott das nicht gefallen lässt.

Erfindung mit Zukunft

In Le mépris kriegt Prokosch einen Wutanfall und schlägt dem Projektionisten einen Stapel mit Filmbüchsen aus den Händen. Nach einem Blick in das Manuskript muss er zugeben, dass der Regisseur tatsächlich inszeniert hat, was da steht, nur anders als erwartet. Eine Frau im blauen Arbeitskittel sammelt die Büchsen wieder auf. Man beachte auch die blauen Sessel im Vorführraum, das bläuliche Licht des Projektionsstrahls, den farblichen Hintergrund in den Mustern von Odysseus, Penelope und dem Freier sowie die Anmerkungen zur Farbkodierung im ersten Teil dieses Artikels.

Unterhalb der Leinwand, auf blauem Untergrund, ist ein Ausspruch von Louis Lumière angebracht, der zusammen mit seinem Bruder Auguste am 28. Dezember 1895 im Pariser Grand Café die (zumindest in Frankreich) erste Filmvorführung vor zahlendem Publikum veranstaltete: "Das Kino ist eine Erfindung ohne Zukunft". Wie man sich täuschen kann. Das Zitat signalisiert, womit wir hier zu rechnen haben. Über Godard gibt es das Bonmot, dass er mehr aus dem Dunkel der Cinémathèque hervorkam als aus dem Bauch einer biologischen Mutter.

Erfindung mit Zukunft (11 Bilder) [15]

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Le mépris

Er und die anderen von der Nouvelle Vague waren die erste Generation von Regisseuren, die über eine umfassende Kenntnis der Filmgeschichte verfügten und das in ihrer Arbeit auch reflektierten. Das heißt nicht, dass sie sich in ihr verloren hätten. Ausgangspunkt und Anker war das Hier und Jetzt. Ist das also die wahre Zukunft (bzw. Gegenwart) des Kinos: Ein sich für allmächtig haltender Produzent lebt auf Kosten anderer Leute seine Launen aus? Und wie verhält es sich mit der Zukunft, die inzwischen zur Vergangenheit geworden ist, also mit den Jahren zwischen 1895 und 1963, als Godard Le mépris drehte? Die Antwort gibt der Film.

Prokosch greift sich eine von den Büchsen und schleudert sie wie einen Diskus durch den Vorführraum. "Endlich kriegen Sie ein Gefühl für die griechische Kultur", kommentiert Lang ironisch. Mit Kritik an der Bildungsferne eines vornehmlich an Geld, Macht und Frauen interessierten Kapitalisten hat das nur an der Oberfläche zu tun. Darunter gähnt ein Abgrund. Godard schrieb einmal, dass Fritz Lang das Gewissen von Le mépris sei. Was damit gemeint ist lässt sich anhand der Szenen im Vorführraum studieren. Ohne Lang, ohne seine Biographie, ohne sein Wissen und ohne seine Verankerung in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte wären sie ganz anders.

Leni Riefenstahls Olympia-Film (12 Bilder) [17]

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Olympia 1. Teil - Fest der Völker

Godard und Lang wussten, dass auch den alten Griechen die Unschuld abhanden gekommen war, seit sie die Nazis für ihre Propaganda missbraucht hatten. Wer beim die Büchse schleudernden Prokosch an den Prolog von Leni Riefenstahls Olympia-Film denkt liegt sicher richtig. Durch Überblendung wird aus der Statue eines Diskuswerfers der gestählte Körper eines Athleten, der den Diskus symbolisch aus dem Nebel der Geschichte in das Berliner Olympiastadion wirft. Dort marschiert die griechische Mannschaft mit gestrecktem Arm an Adolf Hitler vorbei. So inszenierten sich die Nazis als die Nachfolger der Hellenen.

Zwischen Ithaka und Edeka

Der Kontext für die Wurfbemühungen des Produzenten ergibt sich aus den folgenden Dialogen. "Wenn ich das Wort ‚Kultur’ höre hole ich mein Scheckheft raus", antwortet Prokosch auf den Kommentar des Regisseurs. In der deutschen Synchronfassung von 1964 erwidert Lang: "Vor ein paar Jahren - es ist noch gar nicht so lange her - zog man den Revolver anstelle des Scheckbuchs." Da hat man die Nazis wieder mal entfernt. In deutschen Synchronstudios hatte das Methode. Auch die FSK mischte sich ein, wenn ein Film zu deutlich wurde.

Verweise auf die braune Vergangenheit, zumal in Filmen von Ausländern, wurden als Angriff auf die Völkerverständigung gewertet. Diesem Aufruf zur Amnesie muss man nicht folgen. Im Original sagt Lang (erst englisch und ab den Hitleranhängern französisch): "Some years ago - some horrible years ago - les Hitleriens disaient revolver au lieu de carnet de chèques." Gemeint ist ein in den horrible years häufig verwendetes Zitat aus Schlageter [19], einem NS-Propagandastück. In der deutschen Fassung sind die fürchterlichen Jahre und die Hitleriens verschwunden. Das macht es schwieriger, die Anspielung zu erkennen.

Der Weltkriegsveteran und Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter wurde 1923 von den Franzosen wegen Sprengstoffanschlägen im besetzten Ruhrgebiet hingerichtet, von den Nazis als nationaler Märtyrer gefeiert und der deutschen Jugend als Vorbild präsentiert, um deren Opferbereitschaft zu steigern. Uraufgeführt wurde das Stück am 20. April 1933, an Hitlers Geburtstag und in dessen Anwesenheit. Danach spielten es 115 deutsche Bühnen und es wurde Schullektüre. "Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning!", sagt eine der Figuren. Oft wird das Zitat Goebbels zugeschrieben, und gelegentlich Hermann Göring.

Lang, der im Sommer 1933 nach Paris übersiedelte und vorher miterlebte, wie die Nazis Das Testament des Dr. Mabuse verboten und das Land mit ihrer Propaganda überzogen, kannte bestimmt die Quelle. Aber auch, wenn man beim gezogenen Revolver an Goebbels denkt, oder an die "Hitleriens" ganz allgemein, ist der Zweck erreicht. Wer sich informiert kriegt einen Mehrwert. Beim Hören der deutschen Version wird das erschwert, weil man ohne eigenes Vorwissen gar nicht erst auf die Idee kommt, dass es etwas gibt, worüber man sich informieren könnte. So war das von den Synchronzensoren wohl beabsichtigt.

Wer trotzdem mehr wissen will: Der Autor von Schlageter, Hanns Johst, wurde 1935 von Goebbels zum Präsidenten der Reichsschrifttumskammer ernannt. In dieser Funktion hatte er die Aufgabe, "Schädlinge" vom deutschen Schrifttum fernzuhalten. Als "Barde der SS" gab er einer menschenverachtenden Ideologie einen pseudo-intellektuellen Anstrich und wurde von den Nazis mit Preisen überhäuft. Der "NS-Dichterfürst" sah sich schon als den Homer der Herrenrasse, als er mit seinem Angelfreund Heinrich Himmler übereinkam, eine "Saga des Großgermanischen Reiches" zu schreiben (der "liebe Heini" hielt es mehr mit den Römern und nannte Johst seinen "Tacitus").

Wenn man das weiß ergeben sich aus der Verbindung von Bild (die von Lang abgefilmte Homer-Büste) und Dialog (das Revolver-Zitat) Bezüge, die einen direkt in eines der thematischen Zentren von Le mépris führen: die Verantwortung der Kunst angesichts der NS-Verbrechen. Wer sich gruseln möchte lese Ruf des Reiches - Echo des Volkes! (1940), ein Werk, das es bis 1944 auf acht Auflagen und knapp 150.000 Exemplare brachte. Der Nazi-Homer schildert da eine mit seinem Freund Heini unternommene "Ostfahrt", Bemerkungen über die "deutsche Odyssee" inklusive.

Reiseziel war das kürzlich überfallene und nun zu kolonisierende Polen, wo Johst Zeuge von Massenumsiedelungen und des beginnenden Völkermords wurde. Ruf des Reiches war der erste Teil seines Germanen-Projekts, und zum Glück der letzte. Stalingrad scheint ihn demotiviert zu haben, und nach dem Krieg war der Heroismus auf Naziart nicht mehr gefragt. Vorübergehend als Hauptschuldiger eingestuft und 1955 nach einem Jahre dauernden Entnazifizierungsverfahren "rehabilitiert", schrieb Johst anstelle der einst geplanten Saga nun Gereimtes für Die kluge Hausfrau, die Kundenzeitschrift von Edeka (als "Odemar Oderich").

Man muss leiden

Während also die Nazis ihren Revolver (oder Browning) zogen und Menschen ermordeten, sagt der Film, kauft sie Prokosch einfach. Francesca, der er später das Oberteil beschmutzen wird, muss sich nach vorne beugen und ihm als Schreibunterlage dienen, damit er den Scheck für Paul Javal ausstellen kann. Wir sehen das Bild einer Vergewaltigung. Alle im Raum sind peinlich berührt, niemand sagt etwas. Godard braucht nur diese Einstellung, um zu demonstrieren, dass es sich beim sexuellen Missbrauch nicht um Sex oder Erotik handelt, sondern um eine Form des Machtmissbrauchs, und um ein gesellschaftliches Versagen.

Prokosch gibt den Scheck Francesca. Francesca reicht ihn an Javal weiter. "Ich will jetzt wissen, ob sie das Zeug umschreiben oder nicht?", sagt der Produzent. Javal schaut auf den Scheck (10.000 Dollar) und dann zu Lang. Lang hebt die Hände, als Zeichen der Hilflosigkeit und um zu signalisieren, dass es Javals Entscheidung ist. Später, wenn ihn Prokosch wie einen Lakaien behandelt, wird Lang noch einmal diese Handbewegung machen und mit der spöttischen Gelassenheit von einem, der nach einer langen Karriere alles kennt, sagen: "Man muss leiden."

Man muss leiden (11 Bilder) [20]

[21]
Le mépris

Selbst der von der Nouvelle Vague als Gigant der Kinematographie verehrte Fritz Lang, heißt das, ist in dieser Branche Demütigungen ausgesetzt, weil auch er Geld zum Leben und zum Filmemachen braucht. Javal steckt den Scheck ein und zündet sich verlegen eine Zigarette an. Er ist bereit, die Nacktszenen zu schreiben, die Prokosch von ihm haben will, damit der Produzent Langs Film nach seinen Vorstellungen ändern kann. Prokosch hat bewiesen, was er beweisen wollte und geht aus dem Raum. Die Szene mit dem gewechselten Oberteil (siehe Teil 1 [22]) ist schlimm. Diese hier ist fast noch schlimmer.

In der Einstellung mit Prokosch, der auf Francescas Rücken und vor passiv bleibenden Zuschauern seinen Scheck ausstellt ist alles drin, was die Weinstein-Affäre ausmacht (und was in einer Berichterstattung fehlt, die zu sehr auf diejenigen Elemente fixiert ist, die sich auf dem Boulevard verwerten lassen): die zum Objekt reduzierte Frau, die geschändete Kunst, die Mitverantwortung des Publikums (im Vorführraum von Cinecittà und im Kinosaal), das Geld als Instrument der Machtausübung. Alles zusammen ergibt das komplette Bild: das Verhalten des Produzenten und der Kontext, in dem dieses Verhalten erst möglich wird.

Einsam vor Gott

Zum künstlerischen Konzept von Le mépris gehört die Mehrsprachigkeit, der Wechsel zwischen französisch, englisch und deutsch. Godard sagte in Interviews, er habe den Film "synchronisierungssicher" gemacht. Da hatte er nicht mit der Entschlossenheit der Geldgeber und der von ihnen beauftragten Synchronstudios gerechnet. Je mehr man aber die Mehrsprachigkeit wegsynchronisiert, umso überflüssiger wird Francesca Vanini als Dolmetscherin. Dabei zeigt sich gerade beim Übersetzen, was für eine patente Person sie ist. Auch das ist eine doppelte Form des Missbrauchs. Der Film wird ebenso beschädigt wie die im Original sehr vielschichtige Frauenrolle.

Am weitesten ging Carlo Ponti. Er warf bei der italienischen Fassung gleich noch die Musik von Georges Delerue raus (die Musik, die Martin Scorsese in Casino anzitiert, als Hommage an Le mépris) und bestellte bei Piero Piccioni einen neuen, jazzigen Score [23], der für sich genommen sehr gut ist, aber gar nicht zu Godards Intentionen passt. Die deutsche Version ist seltsam. Fritz Lang scheint an Schizophrenie erkrankt zu sein und redet mit zwei Stimmen: der eigenen und der des etwas affektiert klingenden, als Stimmenimitator nur bedingt geeigneten Synchronsprechers. Ich vermute, das liegt an Godards Anti-Synchron-Strategie.

Einsam vor Gott (12 Bilder) [24]

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Le mépris

Es gibt Szenen, in denen Lang von einem Satz zum anderen die Sprache wechselt, oder sogar innerhalb eines Satzes. Irgendwie synchronisiert wurde das trotzdem. Da man sich aber offenbar dafür entschieden hatte, seine Originalstimme nicht völlig aus dem Film zu tilgen stellte das die Bearbeiter vor unlösbare Probleme. Hin und wieder wurde auch etwas weggelassen. Ich habe Die Verachtung zum ersten Mal in einer Fassung gesehen (und gehört), in der es Hölderlin erwischt hatte (auf der aktuellen Blu-ray/DVD ist er wieder drin wie von Godard und Lang beabsichtigt, deutsch und mit französischer Übersetzung von Francesca).

Lang zitiert im Vorführraum die letzte Strophe aus "Dichterberuf": "Furchtlos bleibt aber, so er muß, der Mann/Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn,/Und keiner Waffen brauchts und keiner/Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft." Was soll das jetzt wieder, mag man sich da denken. Gleich wird noch eins drauf gesetzt. Der Schluss sei rätselhaft, meint Lang. Hölderlin habe zuerst "Solange der Gott nicht da ist" geschrieben und dann "Solange der Gott uns nahe ist". Ist jetzt aus diesem Film, von dem die Produzenten in erster Linie erwarteten, eine nackte Brigitte Bardot zu sehen, ein germanistisches Seminar geworden? Nur gut, dass Prokosch schon gegangen ist. Der nächste Wutanfall wäre unvermeidlich.

Werke deutscher Eigenart

Bei Filmen ist es nicht nur erlaubt, sie mehrmals zu sehen (bei Godard so lohnend wie bei Lang oder Hitchcock). Man darf sich auch zur Lektüre eines Buches von ihnen anregen lassen. Hölderlin kannte ich schon. Also habe ich mich für ein Werk von Hanns Johst entschieden, erschienen 1935: Maske und Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten von Deutschland nach Deutschland. Der Autor reist mit seiner Frau durch West- und Nordeuropa und teilt mit, wie toll der Führer ist und seine "Adolf-Hitler-Bewegung". Wer das nicht glaubt ist ein Schuft oder den Kulturbolschewisten und Nihilisten auf den Leim gegangen.

Wenn man das Buch aufschlägt entdeckt man eine Widmung ("Für Heinrich Himmler in treuer Freundschaft") und - sieh an - auf der gegenüberliegenden Seite ein Hölderlin-Zitat: "Uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn". Das ganze Gedicht gibt es in Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (Zweiter Band, Zweites Buch). Ist das ein Zufall oder der Grund, warum Lang erst Johst und dann Hölderlin zitiert? Auszuschließen ist es nicht. Langs heuer noch erscheinendes Notizbuch aus den Jahren 1929 bis 1934 ("What makes him tick?", Verlag belleville) belegt, wie aufmerksam er Dinge registrierte, die er in seinen Filmen verwenden wollte, gleich oder später.

In der Hitlerzeit als Exilant in Los Angeles Hanns Johst zu lesen war so, als würde man den Feind abhören. Auch als Nachgeborener merkt man schnell, dass Zitat und Widmung programmatisch sind, als Kombination von Kultur (Hölderlin) und Soldatentum (Himmler). Nach ein paar Seiten wird das direkt angesprochen: "Potsdam und Nürnberg, die zwei Stätten, die aus kärglichem Grund und Boden die zwei lautersten Werke deutscher Eigenart gewannen: Soldatentum und Kultur! Exerzierplatz und Stadtbild! Friedrich der Große und die Meistersinger! Die marschierende Truppe und die Bewegung des Dritten Reiches!! Sanssouci und das Stadion des Parteitages!!"

In Schweden wird Johst mit dem Schlageter-Zitat konfrontiert, was er zu einer Richtigstellung nutzt. Nicht er spreche den Satz, sondern ein deutscher Soldat im Stück, "der sich gegen die heimtückischen Methoden des Kulturbolschewismus wendet". Anders gesagt: Es gibt eine gute Kultur (die von Johst, Himmler und Hitler) und eine minderwertige Kultur (die von Regimegegnern, Juden und anderen "Volksschädlingen"). Gegen die minderwertige muss man den Browning ziehen. Das ist auch der Standpunkt des Autors von Schlageter und Maske und Gesicht. Das "Bekenntnis eines Künstlers zu Adolf Hitler" ist für Johst der "kulturelle Anschluss an eine weltanschauliche Bewegung".

Manchmal ist das unfreiwillig komisch. In Interlaken ärgert sich Johst darüber, dass es auf der Käseplatte des Hotelrestaurants neben Gorgonzola, Roquefort und Bel Paese "keinen guten schlichten, echten Emmentaler" gibt, und weil für ihn dieser Speisesaal das neue Babylon symbolisiert, mit einem "unabänderlichen Totentanz" der Kosmopoliten, versteht er "vielleicht zum erstenmal bis zum Grunde den Zorn des Führers gegen das bloß Intellektuelle". "Euch muss man entweder einbürgern oder totschlagen!", sagt er zu seiner Tischnachbarin. Ironisch ist das nicht gemeint.

Johsts Geschwafel hat einen mörderischen Kern. Die "Adolf-Hitler-Bewegung", erfährt man, werde zertrümmern, was "für das Wohl der deutschen Lebensentfaltung" zertrümmert werden muss. Ein Wesensmerkmal des Nationalsozialismus war der Wahn von der ethnischen und kulturellen Überlegenheit der Deutschen, die er instrumentalisierte, um zwischen Menschen und "Untermenschen" zu unterscheiden. Das diente der Rechtfertigung der KZs, der Vernichtungslager und des Völkermords, der sich in Johsts Ruf des Reiches schon ankündigt. Das Anzitieren von Schlageter und Hölderlin in Le mépris ist die Reaktion darauf.

Letztlich kommt es nicht darauf an, ob Fritz Lang ein bestimmtes Buch gelesen hatte oder nicht, als er im Vorführraum von Cinecittà seine Dialoge sprach. Es kommt darauf an, dass er die Verbindung von Dichtkunst und Soldatentum nicht mitmacht, dass er klar trennt zwischen Kultur und der als Ausdruck einer kulturellen Überlegenheit getarnten Barbarei Himmlers und der SS, zwischen Hölderlin und dem Browning eines deutschen Soldaten in einem NS-Propagandastück. Dem Film gibt das eine zusätzliche Bedeutungsebene, die ihn vor der etwas schlichten Gleichsetzung von Faschismus und Kultur bewahrt, die in den 1960ern Konjunktur hatte.

Das waren Anmerkungen für Freunde der Dichtkunst und für User, die sich für NS-Propaganda interessieren, auch wenn sie so schwülstig ist wie bei Hanns Johst (eigentlich ist NS-Propaganda immer furchtbar schwülstig). Man muss aber weder Germanistik studiert noch Maske und Gesicht gelesen haben, um zu verstehen, was mit dem Hölderlin-Zitat gemeint ist. Hinhören und Hinsehen reicht völlig aus. Genaueres im nächsten Teil:

In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt


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