Einzigartiges Ökosystem verborgen in der Antarktis
Forscher vom Alfred-Wegener-Institut haben die Lebensgemeinschaften unter dem Larsen-Schelfeis erkundet, woraus sich auch Erkenntnisse über den Klimawandel ableiten lassen
Selbstverständlich kommt einem der Bestseller „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ des dänischen Schriftstellers Peter Hoeg in den Sinn, in dem Smilla Jaspersen ihr Wissen und Gefühl für Schnee fast mit dem Leben bezahlt. Im wahren Leben könnte uns unser mangelndes Wissen über Eis und Schnee irgendwann einmal in eine bedrohliche Situation bringen. Unser komplexes Klimasystem zu verstehen, gehört zu eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Eine Hauptrolle in der Erforschung unseres Klimas spielen dabei die Polargebiete, denn wenn das Eis schmilzt, steigt der Meeresspiegel und große Bereiche der Küstengebiete werden unbewohnbar. Tauen die Dauerfrostgebiete, werden riesige Mengen des Klimagases Methan freigesetzt. Forschung in diesen Regionen bedeutet, wichtige Erkenntnisse zur Entstehung unseres Klimas zu erlangen.
Auch das internationale Polarjahr 2007/08, das dieses Jahr sein 125-jähriges Jubiläum feiert, hat sich zum Ziele gesetzt, durch internationale Initiativen und umfangreiche Projekte ausreichend Daten zu sammeln, um die exakte Rolle der Polargebiete für die Steuerung der globalen Systeme und damit auch für unser Klima zu verstehen. Als eines der führenden Länder in der internationalen Polarforschung mit einer Infrastruktur, die Stationen in der Arktis und Antarktis, einen Forschungseisbrecher, zwei Polarflugzeuge und umfangreiche Technik umfasst, liefert Deutschland - allem voran das Alfred-Wegener-Institut (AWI) - einen wesentlichen Informationsbeitrag.
Viele Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts setzen sich den polaren Extrembedingungen schon seit vielen Jahren aus und forschen in der Arktis, Antarktis und in den Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Das Institut koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung.
Im Zuge des Census of Antarctic Marine Life-Projektes (CAML) haben unter der Leitung des AWI 52 Wissenschaftler aus 14 Nationen erstmals die Lebensgemeinschaften am Meeresboden unter dem ehemaligen Larsen-Schelfeis untersucht, das seit Tausenden von Jahren von Eis bedeckt war. Das Larsen-Eisschelf besteht aus den drei einzelnen Schelfen A, B und C, diese erstrecken sich an der östlichen Seite der Antarktischen Halbinsel von Norden nach Süden. Larsen-A ist der kleinste, Larsen-C der größte Schelf.
Die durchschnittlichen Temperaturen auf der Antarktischen Halbinsel sind in den vergangenen 50 Jahren um ein ca. 2,5-3 Grad Celsius nachweislich gestiegen. Der Anstieg gilt als Zeichen einer globalen Erwärmung, die auch als Ursache des Eisrückgangs und des Auseinanderbrechens von Larsen-B und Larsen-A vermutet wird - insgesamt rund 10 000 Quadratkilometer. Für die Wissenschaftler bedeutete dies aber auch einen einzigartigen Blick in einen Lebensraum, der bisher verschlossen blieb.
„Solche Erkenntnisse sind die Basis, um das Funktionieren von Ökosystemen zu verstehen. Die neuen Ergebnisse werden uns dabei ein gutes Stück weiter bringen, um die Zukunft unserer Biosphäre im Klimawandel vorhersagen zu können“, sagt Dr. Julian Gutt, Biologe am Alfred-Wegener-Institut und wissenschaftlicher Leiter der 23. Antarktis-Expedition, die vom 23. November 2006 bis zum 31. Januar 2007 im Weddell-Meer, den Gewässern rund um die Antarktische Halbinsel und der Bransfieldstrasse mit dem Forschungsschiff Polarstern unterwegs war.
Wunderwelt Antarktis
Erste Untersuchungsergebnisse dieser Expedition zeigen, dass die Sedimente des Meeresbodens sehr unterschiedlich sind. Vom felsigen Untergrund bis hin zu weichem Schlick sind alle Bodentypen vertreten. Ebenso vielfältig gestaltet sich die Besiedlung, da Tiere unterschiedliche Vorlieben bezüglich ihres Lebensraumes haben. Vergleicht man die Meeresbodenfauna von Larsen A/B mit der im östlichen Weddel-Meer, so ist sie weitaus ärmer. Umso auffälliger ist die hohe Dichte einer bestimmten Tiergruppe, der Seescheiden, die mit verschiedenen Arten vertreten ist. Da diese Organismen besonders langsam wachsen, ist anzunehmen, dass Seescheiden erst nach dem Abbruch des Schelfeises im Larsen B-Gebiet ansiedeln konnten.
Die Anzahl größerer, langsam wachsender Tiere, z. B. der Glasschwämme, war im Larsen-A-Gebiet höher als bei Larsen B, da sie dort wahrscheinlich schon sehr lange leben. Die hohe Anzahl kleinerer Exemplare dieser Arten ist vielleicht ein erster Schritt zu einer deutlichen Veränderung der Artenzusammensetzung nach dem Abbruch des Schelfeises vor zwölf Jahren. Mit Hilfe eines ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs (Remotely Operated Vehicle. kurz ROV), das mit Video- und Fotokameras ausgestattet war, konnte die Zerstörung des Meeresbodens durch Eisberge in geringeren Wassertiefen gezeigt werden. In einer Wassertiefe von circa 220 Metern war der Artenreichtum deutlich höher, aber es waren auch deutliche Spuren der Zerstörung durch Eisberge zu sehen. Glasschwämme kommen dort als langsam wachsende und lang lebende Organismen nur selten vor, da sie immer wieder von den strandenden Eisbergen vernichtet werden. Auffällig häufig waren auch verschiedene Tiefseearten wie Seegurken und gestielte Haarsterne im Larsen-B-Gebiet.
Neue Arten
Im Rahmen von CAML wurden weiterhin die Aspekte Physiologie, Genetik, Schadstoffe und die Nahrungsbeziehungen untersucht. Die Wissenschaftler entdeckten eine Reihe neuer Arten. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang 15 voraussichtlich neue Amphipodenarten, die zu den Krebsen gehören, darunter einer der größten Amphipoden der Antarktis. Er ist fast 10 Zentimeter lang und gehört zur Gattung Eusirus. In der Gruppe der Nesseltiere wurde eine neue Art der Gattung Malacobelemnum gefunden, sowie eine neue Seeanemone. Sie lebt in Symbiose mit der Schnecke Harpovoluta.
Die wertvolle Fracht an wissenschaftlichen Daten und gesammeltem Tiermaterial ist jetzt in den Heimatinstituten der Expeditionsteilnehmer. Erste Ergebnisse werden im September dieses Jahres erwartet.
Der Krill ist ein globales Fieberthermometer
Interview mit dem Expeditionsleiter Dr. Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI)
Was haben Sie und Ihr Team auf dieser Expedition untersucht?
Julian Gutt: Von besonderem Interesse war die Frage, welche marinen Lebensformen/Organismen unter den großen, bis zu mehreren hundert Meter dicken, auf dem Wasser schwimmenden Schelfeisflächen vorkommen, die mit der riesigen antarktischen Eisdecke verbunden sind. Zum ersten Mal hatten wir nun, nachdem vor einigen Jahren Schelfeisplatten im Larsen A- und Larsen B-Gebiet durch regionale Erwärmung zusammenbrachen, die Gelegenheit, das Leben in einem solchen Gebiet zu studieren. Neben Walbeobachtungen stand im Vordergrund, die antarktische Lebensvielfalt zu erfassen.
In Zusammenarbeit mit MARUM/RKOM setzen wir ein so genanntes ROV (remotely operated vehicle) ein. Das ist ein mit Videokameras bestückter Unterwasser-Roboter, mit dem wir kleinräumige Muster und Prozesse beobachten und registrieren können. Das ROV ist auch mit einem Greifarm ausgerüstet, der es uns erlaubt, bestimmte Tiere oder Bodenproben zu entnehmen, wenn wir sie auf dem Monitor zu Gesicht bekommen.
Was haben Sie dort vorgefunden?
Julian Gutt: Zu unserer größten Überraschung haben wir eine sehr auffällige und dominierende Tiefseefauna vorgefunden. Eine große Anzahl an Tiefseeschwämmen und Seegurken aber auch Haarsterne, die jetzt in einer Tiefe von ca. 250 m unter dem Schelfeis zu finden sind, während diese sonst nur in einer Tiefe von 3000-7000 Meter vorkommen. Im Gegensatz zu anderen Gebieten der Antarktis gibt es hier keine farbenfrohen Unterwassergärten, dies liegt auch an der extremen Bodengeschaffenheit, die zwischen sehr felsigem und sehr weichem Untergrund abwechselt. Im felsigen Bereich fanden wir sehr viele Korallen.
Zu welchem Ergebnis kommen Sie nun auf Basis der jetzt neu gewonnen Informationen?
Julian Gutt: Durch das Wegbrechen des Eises hat sich eine sehr hohe Dynamik entwickelt, was die Neubesiedlung bzw. das Wachstum angeht. Wir haben eine auffällig hohe Anzahl an Seescheiden feststellen können, die nach ca. 3 Jahren ausgewachsen sind. Diese Entwicklung steht in direktem Zusammenhang mit dem großen Larsen B Schelfeis-Abbruch im März 2002. Bei Larsen A waren hingegen sehr viele Jungtiere von Glasschwämmen, aber extrem wenige Erwachsene zu finden. Da Glasschwämme sehr langsam wachsen, ist dies ein wiederum ein Nachweis für den großen Schelfeis-Abbruch 1995. Im Gegensatz dazu sieht es auf dem Meeresboden noch so aus wie vor dem Eisabbruch. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind Hunderte von Jahren notwendig, bis sich dort ein neues Gleichgewicht eingestellt hat. Das Ökosystem gewöhnt sich an die neuen Bedingungen, Zwergwale zum Beispiel fühlen sich dort jetzt sehr wohl, was aus ihrer hohen Anzahl zu schließen ist. Auch Schwämme, Seescheiden und Krillen kommen dazu.
In welche Richtung entwickelt sich dieses System in Anbetracht des Klimawandels?
Julian Gutt: Ich denke, da die Bodenfauna extrem langsam wächst - Schwämme als Strukturbilder benötigen Hunderte von Jahren -, wird sich das ganze Gebiet dort in Zukunft langsam zu einer reich an Artenvielfalt bestehenden Faune entwickeln. Ob aber jemals ein ökologisches Gleichgewicht erreicht wird, wenn der Klimawandel weitergeht, was zu erwarten ist, wage ich zu bezweifeln. Dieses sich neu entwickelnde Ökosystem wird auch wieder verschwinden, wenn die Einflüsse von Außen, wie zum Beispiel „Zuspülungen“ von Flüssen, zum Tragen kommen.
Die Erwärmung an der antarktischen Halbinsel ist ganz klar nachgewiesen, dies gilt aber nicht für die restlichen Gebiete der Antarktis, ganz im Gegensatz zu Arktis, die generell unter einer Erwärmung zu leiden hat. Der Krill im offenen Ozean zeigt aktuell eine geografische Verbreitung Richtung Süden, da es ihm anscheinend in seinem ursprünglichen Gebiet zu warm wird. Man könnte den Krill als eine Art globales Fieberthermometer ansehen, der über feinere Antennen bzw. über ein feineres Gespür verfügt als der Mensch.