Elektronische Gesundheitskarte teurer als erwartet?
Die erste unabhängige Kostenschätzung für das ehrgeizige Projekt kommt für die Regierung und die zerstrittenen Verbände des deutschen Gesundheitswesens zu einem kritischen Zeitpunkt; im Gesundheitsministerium zieht man die Daumenschrauben derweil weiter an
Die Studie mit dem spröden Titel "Erfolgversprechende Geschäfts- und Finanzierungsmodelle für Telematik im Gesundheitswesen", die von dem Wirtschaftsforschungsunternehmen Soreon vorgelegt wurde, ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil sie seit dem politischen Start des Projekts eGesundheitskarte im Gefolge der Lipobay-Diskussion im Jahr 2001 die erste derartige Wirtschaftlichkeitskalkulation ist. Weil sie nicht von irgendeinem unmittelbar Beteiligten in Auftrag gegeben wurde, kann sie außerdem als ein einigermaßen unabhängiger Blick von außen auf das Geschehen rund um die Karte angesehen werden.
Die Zahlen, mit denen sowohl die Bundesregierung als auch die Verbände der medizinischen Selbstverwaltung, insbesondere die Krankenkassen als Hüterinnen der Krankenversicherungsbeiträge, beim Thema elektronische Gesundheitskarte rechnen, stammen in ihren Grundzügen aus dem Jahr 2001. Damals hatte die Hamburger Beratungsfirma Debold & Lux ein von der Bundesregierung bestelltes Gutachten vorgelegt, das einer elektronischen Vernetzung des Gesundheitswesens ein erhebliches Einsparpotenzial bescheinigte. Die Zahlen sind seither zumindest einmal in für die Öffentlichkeit zugänglicher Form überarbeitet worden, und zwar von Mitarbeitern des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), die sich aber wesentlich auf die von Debold & Lux geleistete Vorarbeit verließen.
Hinsichtlich der Einspareffekte sind sich die Analysten von Soreon mit ihren Vorgängern relativ einig. Die beiden großen Brocken bei den Pflichtanwendungen, denen sich qua Gesetz niemand entziehen kann, sind das elektronische Rezept und die Online-Aktualisierung der Vertragsdaten des Versicherten. Dadurch, dass der enorme administrative Aufwand, der mit den herkömmlichen Papierrezepten einher geht, durch ein elektronisches Rezept eingedampft wird, sollten im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) jährlich 135 Millionen Euro gespart werden. Dazu kommen insgesamt 285 Millionen Euro pro Jahr, die die Versicherungen sparen, weil sie in dem geplanten Onlinesystem die Versichertenkarten via Netzwerk aktualisieren können und nicht mehr, wie jetzt die reinen Speicherkarten, ganz austauschen müssen. Auch die zusätzlichen Einnahmen durch die zeitnahe Online-Aktualisierung des Zuzahlungsstatus sind in diesen 285 Millionen Euro enthalten.
Summa summarum sind das inklusive einiger kleinerer Bröckchen 450 Millionen Euro pro Jahr. Denen stehen nach den Soreon-Berechnungen 183 Millionen Euro jährliche Betriebskosten gegenüber, was die Wartung der Public Key-Infrastruktur sowie die Kosten für den Unterhalt der Kommunikationsplattform, für Trustcenterfunktionen und für die Erneuerung von Chipkarten einschließt. Bleiben rund 270 Millionen Euro übrig, die allein durch die Pflichtanwendungen seitens der Gesetzlichen Krankenkassen jährlich eingespart werden könnten.
Geldsparen ja, doch wann kommt der Break even?
So weit, so gut. Diese Zahl liegt in der Größenordnung dessen, was auch vom Bundesgesundheitsministerium (BMGS) immer wieder verbreitet wird. Stark geändert haben sich allerdings die Kostenschätzungen für die Anfangsinvestitionen, was insofern bemerkenswert ist, als das Projekt sich ja nach wie vor in der Planungsphase befindet.
Anfangs war aufbauend auf dem Debold & Lux-Gutachten von 700 Millionen Euro die Rede. Irgendwann fragte man dann auch einmal die Krankenkassen, die mit der Produktion und Distribution von Chipkarten seit der Einführung der Krankenversichertenkarte im Jahr 1993 mehr Erfahrung sammeln konnten als irgendjemand sonst in Europa, wenn nicht auf der Welt. Das führte dazu, dass die Schätzungen deutlich nach oben korrigiert wurden: Je nachdem, wen man heute interviewt, hört man Werte zwischen einer und 1,9 Milliarden Euro. Der Löwenanteil davon, nämlich ungefähr zwei Drittel, fällt auf die Herstellung und Verteilung der über 80 Millionen eGesundheitskarten, deren Preis unter anderem stark von den darauf abgelegten Kryptografiefunktionen abhängt. Soreon kalkuliert im Einklang mit den Krankenkassen mit etwa 1,6 Milliarden Euro.
Die Investitionskosten haben sich also gut verdoppelt, und demnach war es an der Zeit, dass sich irgendjemand einmal hinsetzte und laut vorrechnete, dass sich damit auch die Zeit bis zur Amortisierung des Projekts eGesundheitskarte verdoppelt. Während das BMGS nach wie vor stoisch verkündet, dass die Gesetzliche Krankenversicherung die Kosten innerhalb von zwei bis drei Jahren wieder drin hat, kommt man, wenn man die gestiegenen Investitionskosten berücksichtigt und ansonsten genauso rechnet wie das Ministerium auch, auf sechs Jahre, eine Zahl, die auch von den Soreon-Analysten angegeben wird.
Wieviel Geld bringt der medizinische Nutzen?
Die große Unbekannte dieser ganzen Rechnungen sind die freiwilligen, "medizinischen" Anwendungen, also die Arzneimitteldokumentation und die elektronische Patientenakte. Die Arzneimitteldokumentation soll mittels automatisierter Analysen von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Präparaten rechtzeitig Alarm schlagen, wenn Gefahr droht, also das tun, was damals bei Lipobay nicht passiert ist. Die elektronische Patientenakte, bei der Befunddaten auf via Chipkarten zugänglichen Servern abgelegt werden, soll Doppeluntersuchungen vermeiden helfen. Man kann kaum anders als zugeben, dass beides prinzipiell medizinisch nützlich ist und dem Patienten zugute kommt. Es ist Ulla Schmidts großes Verdienst, die Gelegenheit, die sich mit Lipobay bot, beim Schopfe ergriffen und das deutsche Gesundheitswesen in diese Richtung gelenkt zu haben.
Aber: Finanziell wirkt sich das nur aus, wenn auch wirklich ein hinreichend großer Teil der Bevölkerung diese freiwilligen Anwendungen nutzt. Die Analysten von Soreon rechnen - optimistisch - mit einem Drittel der Bevölkerung und kommen damit auf immerhin noch einmal knapp 500 Millionen Euro Einsparungen jährlich, vor allem durch vermiedene Doppeluntersuchungen und weniger Krankenhausaufenthalte. Diese Zahl allerdings ist hoch spekulativ, denn weder gibt es belastbare Zahlen darüber, wie groß das Problem der vermeidbaren Arzneimittelinteraktionen rein finanziell gesehen tatsächlich ist, noch bedeutet die auch von Radiologen nicht bestrittene Tatsache, dass jede zweite bis dritte Röntgenuntersuchung überflüssig ist automatisch, dass sie nicht mehr durchgeführt wird, wenn eine ePatientenakte existiert beziehungsweise dass das dann "frei" werdende Geld nicht anderweitig ausgegeben wird.
Wer es also ernst meint, der darf auf diese Einsparungen zwar hoffen, sie aber nicht einrechnen und zur Grundlage von Politik machen. Was bleibt sind die sechs Jahre Amortisierungszeit durch die Pflichtanwendungen, die für ein ehrgeiziges IT-Projekt im Prinzip vertretbar erscheinen. Für die Regierung allerdings ist das von Soreon gemalte Szenario ein Super-GAU, denn es würde bedeuten, dass die Krankenversicherungsbeiträge steigen, weil die Versicherungen nicht auf Goldreserven sitzen, und zwar nicht ein bisschen, sondern gleich 0,7 Prozent im ersten Jahr, kurz vor der Wahl auch noch, ein Wert der dann erst über die Jahre dank der Einsparungen wieder abfällt bis nach etwa sechs Jahren der Break even erreicht ist.
Es gibt drei Wege, dieses Szenario zu vermeiden. Der erste besteht in einer kreativen Finanzierungslösung, die die Krankenkassen zumindest zeitweilig entlastet. Ins Spiel gebracht wurde hier eine Vorfinanzierung durch die IT-Branche, was elegant ist und alle Beteiligten das Gesicht wahren ließe. Doch wie bei allen Krediten ist das langfristig wahrscheinlich teurer, als wenn man es nicht täte. Variante zwei wäre eine Streckung des im Moment auf eine Ziellinienüberquerung im Jahr 2006 angelegten Projekts, wodurch der Anstieg der Versichertenbeiträge nicht vermieden aber gebremst werden könnte. Das ist der Vorschlag der Krankenkassen. Variante drei ist die Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Methode, die die Bundesregierung im Augenblick zu favorisieren scheint: Die freiwilligen Anwendungen sollen so schnell wie möglich realisiert werden, um die damit verbundenen, postulierten Einsparungen zu erreichen und damit den sonst unvermeidlichen Anstieg der Krankenkassenbeiträge abzumildern oder zu verhindern.
Kraftmeierei oder ernst gemeinte Muskelspiele vor dem drohenden Showdown?
Was die Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Methode praktisch bedeutet, hat das BMGS in den vergangenen zwei Wochen einmal mehr vorexerziert: Dem bIT4health-Konsortium, das ursprünglich für die Erarbeitung der Telematikrahmenarchitektur zuständig war und diese zur CEBIT in Hannover termingerecht abgeliefert hatte, wurden neue Aufträge erteilt, die so anfangs nicht vorgesehen waren.
Unter anderem werden jetzt von diesem Konsortium (aus den Firmen Orga Kartensysteme, SAP, InterComponentWare, IBM und dem Fraunhofer IAO) in einem "Solution Outline" genannten Teilprojekt Vorschläge für die sogenannte Lösungsarchitektur erarbeitet, die etwas präziser sagen soll, wie die Anwendungen der eGesundheitskarte und der zugehörigen Sicherheitsfunktionen technisch und vor allem organisatorisch aussehen werden. Außerdem wurde die Ausarbeitung der Spezifikation der elektronischen Gesundheitskarte an das Fraunhofer-Institut für Sichere Telekooperation (SIT) vergeben, genauso wie Teile der Kommunikationsinfrastruktur. Das ganze bewegt sich zumindest hart am Rande der üblichen Vergabepraxis öffentlicher Einrichtungen, wobei man dem BMGS zugute halten kann, dass die Verantwortlichen clever genug waren, die ursprüngliche Ausschreibung für das bIT4health-Projekt aus dem März 2003 hinreichend vage zu formulieren.
All die genannten Aufgaben waren aber in jedem Fall ursprünglich Jobs, die die medizinische Selbstverwaltung erledigen sollte, also die Spitzenverbände der Krankenkassen, Ärzte, Zahnärzte, Krankenhausträger und Apotheker. Die haben sich Anfang des Jahres in einem Projektbüro zusammengefunden, das auch Monate nach seiner Gründung noch "Interims-Projektbüro" heißt und dem es bis heute nicht gelungen ist, sich auch nur auf einen Abstimmungsmodus zu einigen, geschweige denn auf die Finanzierung des anderthalb Milliarden Euro-Projekts oder gar auf technische Details. Man kann also das Vorpreschen des Ministeriums, das betont, dass die im "Solution Outline" zu entwickelnden Vorschläge zunächst unverbindlich bleiben, gut und gerne als pragmatischen Akt der Geburtshilfe für ein schwächelndes Verbandsgremium deuten, dass sich beim Kreißen sichtlich schwer tut.
Man könnte über all das fast grinsen, wenn es nicht um so viel Geld ginge und wenn nicht der erste Oktober bedrohlich näher rücken würde, jene Deadline, die die Bundesregierung den Verbänden der Selbstverwaltung für eine Einigung gesetzt hat, soll der politisch angeordnete Kaiserschnitt vermieden werden. Stehen bis dahin nicht Finanzierung und Lösungsarchitektur, dann behält sich das Ministerium das Recht vor, den Verbänden vorzuschreiben, wie ihre künftige Chipkartenarchitektur auszusehen hat.
Der Vorgang nennt sich Ersatzvornahme und ist von allen denkbaren Lösungen die schlechteste, weil man ein System, das den Alltag in den Arztpraxen und Apotheken so stark verändert wie ein elektronisches Chipkartensystem, nicht per ordre di mufti an den Anwendern vorbei einführen kann. Ein Viertel bis die Hälfte aller Arztpraxen werden ihre EDV über Bord kippen müssen, weil sie entweder noch mit DOS-Systemen arbeiten oder mit Programmen, die bessere Adressverwaltungen sind, die nicht mehr aktualisiert werden. Es werden Kiosksysteme in den Praxen installiert werden müssen, damit die Patienten ihre Daten einsehen können und in den drei bis fünf Minuten, die einem Arzt für einen Patienten zur Verfügung stehen, wird er künftig auch noch mit Chipkarten hantieren müssen. Das alles kann gehen, keine Frage, aber nur, wenn die Betroffenen davon zumindest ein bisschen überzeugt sind.
Ein schmaler Grat zwischen Prinzipientreue und übermäßigem Stolz
Das weiß man natürlich auch im BMGS, weswegen der worst case, der diskutiert wird, so aussieht, dass man, bleibt eine termingerechte Einigung der Selbstverwaltungsgremien aus, die Entscheidungen hinsichtlich der Kartenarchitektur nur soweit im Alleingang trifft, bis die Karten zumindest produzierbar sind. Das würde man dann für rund eine Milliarde Euro tun und stünde am Ende mit 80 Millionen Chipkarten da, auf die zwar diverse Anwendungen prinzipiell aufspielbar sind, die aber zunächst nicht mehr können als die aktuelle Versichertenkarte, weil noch keinerlei Infrastruktur und keinerlei standardisierte Anwendungen zur Verfügung stehen.
Das muss nicht so kommen und zum Glück sitzen an den entscheidenden Stellen bei fast allen Beteiligten auch einige sehr fähige Menschen, die sehr gut wissen, was auf dem Spiel steht. Das BMGS beweist in Sachen eGesundheitskarte eine Standfestigkeit, von der die Verbände des Gesundheitswesens ganz offenkundig überrascht sind. Der Druck, der aufgebaut wurde, ist enorm. Es muss sich jetzt zeigen, ob die Beteiligten auch souverän genug sind, ihn rechtzeitig wieder abzulassen.