"Elend für Millionen von Menschen"
Seite 2: Der Sieg des Monetarismus über die wirtschaftspolitische Vernunft
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Die Einführung der gemeinsamen Währung folgte in der Konzeption weitgehend dem Delors-Bericht von 1989, der die Resultate einer Arbeitsgruppe aus den damals 12 Notenbankchefs der EU-Staaten unter dem Vorsitzt von Jacques Delors zusammenfasste.
Das Ganze begann mit einem geschickten diplomatischen Spiel über die Bande zwischen Hans-Dietrich Genscher und Jacques Delors bei dem sich am Ende alle Seiten selbst so gefesselt hatten, dass niemand mehr von dem Zug Richtung Euro abspringen konnte, ohne eine existenzielle Vertrauenskrise der EU zu riskieren. Alle Beteiligten hatten dabei ein gutes Gewissen, glaubten sie würden etwas Notwendiges und Gutes für Europa tun, da das monetaristische Verständnis des Geldes ihnen die Gefahren ihres Tuns hinter einem "Schleier des Nichtwissens" verbarg.
Den Anfang machte Genscher mit einem Memorandum, das er der Bundesversammlung der FDP am 27. Februar 1988 vorlegte. Der Text galt damit als "privat" und zirkulierte unter der Hand in diplomatischen Kreisen, wurde aber als Initiative der Bundesregierung wahrgenommen, obwohl er mit niemandem in der Regierung abgesprochen war. Mitautor war Peter-Wilhelm Schlüter, Leiter des Referats Europäische Geldpolitik in der Bundesbank.1
Der Text formulierte dezidiert monetaristische Grundsätze. Volkswirtschaftlichen Überlegungen, wie sie noch 1976 in Publikationen der Bundesbank vertreten wurden, waren in Kreisen der Bundesbank verschwunden:
Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Währungsraums mit einer Europäischen Zentralbank ist eine ökonomisch notwendige Ergänzung des europäischen Binnenmarktes. Sie ist außerdem der Katalysator für die notwendige Konvergenz der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten, ohne die es keine Währungsunion geben kann.
Genscher-Memorandum
Damit verwandelte sich die logisch verständliche Argumentation von 1975:
Es gibt politische (umfänglicher gemeinsamer Haushalt) und wirtschaftliche (gleichartige Wirtschafts- und Lebensbedingungen) Voraussetzungen, ohne die eine Währungsunion unmöglich ist.
in einen fehlerhaften, absurden Zirkelschluss, in einen Münchhauseneffekt:
Die Währungsunion ist der Katalysator für eine notwendige Konvergenz der Wirtschaftspolitiken, ohne die es keine Währungsunion geben kann.
Nachdem so der letzte Rest volkswirtschaftlicher Vernunft vernichtet wurde, bleibt als einziges ein monetärer Dogmatismus:
Unter dem Gesichtspunkt der Geldwertstabilität ist die finanzielle Autonomie besonders wichtig: Die beiden Kreisläufe - Schaffung von Geld (durch die Notenbank) und Finanzierung von öffentlichen Ausgaben (durch die Gemeinschaft oder die Regierungen) - müssen streng getrennt bleiben. Eine Europäische Zentralbank darf nicht zur Finanzierung nationaler oder gemeinschaftlicher Haushaltsdefizite verpflichtet sein.
Genscher-Memorandum
Das Memorandum spricht von einer "Magna Charta europäischer Stabilitätspolitik". Priorität hat die Geldwertstabilität und die absolute Autonomie der Notenbank. Damit verloren die Staaten der Währungsunion den von László Andor angemahnten "Kreditgeber in letzter Instanz "schon in den allerersten Gründungsdokumente.
Jacques Delors, Präsident der Europäischen Kommission von 1985 bis 1995, nutzte die Steilvorlage von Genscher und veranlasste im Juni 1988, dass der europäische Rat ihn mit der Leitung einer Sachverständigengruppe zur Wirtschafts- und Währungsunion beauftragte. Delors gelang es, alle 12 Notenbankpräsidenten in dieser Gruppe zu versammeln, und legte 1989 einen Drei-Stufen-Plan zur Verwirklichung der Währungsunion vor, der die "Magna Charta europäischer Stabilitätspolitik" Genschers und der Bundesbank auf EU-Ebene festzurrte.
Der Fall der Mauer 1989 und die deutsche Wiedervereinigung verliehen dem Projekt Währungsunion eine neue Dynamik. Die Angst kam auf, das neue Deutschland könne sich von der EU abwenden und eigene Wege gehen, die Währungsunion erschien als deutscher Treuebeweis zu Europa. Eine kritische Diskussion der Grundlagen und der Tragfähigkeit des Projektes wurde damit unmöglich. Helmut Kohl formulierte dieses Totschlagargument 1992 unmissverständlich:
Manch einer in Politik und Publizistik, der Stimmung gegen die europäische Währung macht, hat in Wahrheit ganz andere Ziele. Diese Kritiker wollen die Europäische Union nicht! Sie schüren bewußt Zweifel an der Stabilität der künftigen europäischen Währung, um Bürgerinnen und Bürger gegen die Europäische Union aufzubringen.
Rede von Helmut Kohl zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, 25. Mai 1992
1993 wurden die monetaristischen Glaubenssätze im Vertrag von Maastricht europäisches Recht und es begann das absurde politische Theater um die Stabilitätskriterien von Maastricht. Statt über die notwendige Größe des europäischen Budgets und die Kompetenzen der europäischen Institutionen, über Strategien zur Angleichung der Wirtschafts- und Lebensbedingungen, über das wirtschaftliche und sozialen Gefälle zwischen den europäischen Staaten und den daraus resultierenden Unterschieden in der nationalen Wirtschaftspolitik und ihren Zielprioritäten, die eine Währungsunion zerreißen würden, zu diskutieren, erregte sich die ganze Republik darüber, ob die Staatsverschuldung 1/10 % über oder unter der 3% Marke liegen wird.
Mit dieser absurden und unverantwortlichen Problemverschiebung, weg von den wirklichen Probleme und hin zu tatsächlich völlig bedeutungslosen Scheinproblemen wurde der Grund gelegt für die deutsche Wahrnehmung der Eurokrise als Staatsschuldenkrise, das tödliche Rezept der Austeritätspolitik und damit für das Elend für Millionen von Menschen in Südeuropa.