Email, Internet und die Justiz
Strafanzeige wegen Email-Klau und Internetzensur
Nach mehreren Jahren Domainkriegen - teils gar nicht um Webauftritte, sondern Email geführt - nehmen auch Juristen endlich wahr, dass es noch etwas anderes als Webseiten im Internet gibt. Geschafft hat diesen Durchbruch eine Klage des Netzaktivisten Alvar Freude.
Die Email hat inzwischen ihr 30-jähriges Jubiläum erlebt: Ray Tomlinson entwickelte 1971 das erste Email-Programm, nachdem 1969 gerade erst das ARPA-Net aus vier Computern in Betrieb gegangen war. 1976 schrieb "Her Majesty" Königin Elizabeth II. schon ihre erste Email - vorbildlich gegenüber deutschen Managern, die solch niedere, aber dennoch anscheinend die eigenen Fähigkeiten überfordernde Tätigkeiten heute noch auf das Sekretariat abwälzen. 1979 folgte das Usenet mit den Newsgroups, 1982 wurde das Internet-Protokoll TCP/IP fixiert. 1983 kam dann die heutige Haupteinnahmequelle einer völlig branchenfremden Spezies - der Juristen - hinzu: Name Server und damit die Möglichkeit, Rechner über einen alphanumerischen Namen (Domain) anzusprechen statt zuvor nur über Ziffern (IP-Adressen). Als letztes kam 1989 das von Tim Berners-Lee entwickelte World Wide Web hinzu.
Die Email ist also nicht nur dreimal älter als das WWW, sie ist den meisten Usern auch deutlich wichtiger. Email ist eine persönliche Kommunikation, wenn auch fast ohne Sicherheitsmechanismen, weil niemand vor 30 Jahren die heutigen Entwicklungen absehen konnte: Während über Wasserdampf geöffnete und dann neu verpackte Postbriefe nicht unbemerkt bleiben, fällt so etwas bei Emails nicht auf - sie sind in dieser Hinsicht eher mit eine Postkarte zu vergleichen. Trotzdem ist ein solches Vorgehen nicht legal, sondern ein Verstoß gegen § 206 des Strafgesetzbuches (Post- und Fernmeldegeheimnis). Auch Postkarten darf nicht jeder lesen. Und schon gar nicht einfach klauen.
Technik und Recht verstehen sich nicht
Seitdem die Anwälte das Internet heimsuchen, sind solche Selbstverständlichkeiten allerdings in Vergessenheit geraten. Für Juristen ist das Internet mit dem World Wide Web identisch, weil sie mit Email selbst nur selten etwas anfangen können: Während Faxe im juristischen Schriftverkehr inzwischen auch vor Gericht anerkannt werden, ist dies bei Email nicht der Fall. "Zu fälschungsgefährdet" und "keine Unterschrift" sind die Kritikpunkte, die auch die digitale Signatur bislang nicht ausgeräumt hat. Somit gilt Email für Juristen als nicht ernst zu nehmendes Spielzeug und spielt auch bei millionenschweren bei Entscheidungen keine Rolle, auch wenn Emails als solche - dann aber bitte ausgedruckt - in Prozessen eine Rolle spielen können. Microsoft weiß dies inzwischen, einige interne Emails, die nicht intern blieben, spielten eine große Rolle bei den Monopol-Anklagen. Prompt geht nun Microsoft selbst möglichen Konkurrenten an die Email.
Bei Domainstreitigkeiten in Deutschland wurde die unfreiwillige Übergabe des Email-Verkehrs innerhalb weniger Tage bei den üblichen Drohungen mit einstweiligen Verfügungen bislang nicht ernst genommen. Dabei werden - trotz großen Lauschangriffs - in einem Strafverfahren oder polizeilichen Ermittlungen durchaus sehr hohe Ansprüche gestellt, bevor ein solcher Eingriff in Brief- oder Fernmeldegeheimnis genehmigt wird. Im eigentlich weniger mächtigen Zivilrecht reicht dagegen bereits ein behaupteter Marken- oder Wettbewerbsrechtsverstoß. Und in Düsseldorf reichte sogar noch weniger - der Netzaktivist Alvar Freude, der bereits mit Online-Demonstrationen von sich reden machte, hat dies nun geändert und eine solche potentielle Email-Beschlagnahme publik gemacht (Plattform für Online-Demonstrationen).
Vorsicht: Feind liest mit!
Die Situation: Bei den von der Bezirksregierung Düsseldorf erbetenen Webseitensperrungen von drei Naziadressen und einer als jugendgefährdend angesehenen Adresse (Rotten.com), die zwar für eine Sammlung makabrer und geschmackloser Geschichten und Bilder bekannt und somit nicht jedermanns Ding ist, doch dabei durchaus auch interessante Informationen enthält, leiteten die Provider nämlich kurzerhand zwecks Zensur Internetzugriffe auf diese Adressen auf eine Informationsseite der Bezirksregierung Düsseldorf um (Keine Zensur, sondern Schutz der Verfassung). Und woran weder Regierung noch Provider dachten: Weil man, statt nur zu sperren, die potentiellen Besucher von Rotten.com & Co. direkt an die Bezirksregierung weiterreichte, wurde der an diese Adressen gerichtete Email-Verkehr gleich auch mit durchgereicht. Ebenso könnte die Bezirksregierung Düsseldorf nun anhand ihrer Logfiles feststellen, wer - wenn auch vergeblich - versuchte, eine der gesperrten Websites aufzurufen.
Aufgekommen ist das alles, weil es in einer Presseerklärung der Bezirksregierung Düsseldorf heißt: "Die Bezirksregierung geht davon aus, dass es sich nach den Inhalten zahlreicher Emails, die sie heute erhalten hat, um die Nutzer rechtsextremistischer Angebote im Internet handelt". Dies interpretierte Alvar Freude durchaus logisch als "Wir bekamen auf einmal viele Mails, die wohl eigentlich an die gesperrten beziehungsweise umgeleiteten Naziangebote gerichtet waren" und erstattete Strafanzeige (Strafanzeige wegen Website-Sperrungen). Damit auch Juristen verstehen, worum es geht, hat er dieser gleich noch mal eine halbe Diplomarbeit, nämlich einen 38-seitigen Schriftsatz beigefügt, in dem alles ganz genau erklärt wird. Während die Justiz im Zivilrecht hier gerne weghört, musste sie im Strafrecht reagieren: Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf wurde umgehend tätig.
"Wer Nazisites ansehen will, muss ein Nazi sein"
Die Bezirksregierung Düsseldorf schlug unter der Gürtellinie zurück: Jürgen Schütte, Chef der Medienaufsicht Nordrhein-Westfalen, unterstellt Alvar Freude eine "politische Kampagne". Nichts liegt diesem ferner, als Nazis zu unterstützen. Es geht ihm ums Prinzip, denn auch Besucher angesehener Webangebote wie der New York Times oder der Frankfurter Allgemeinen könnten mit einem Klick auf einen Link zur abgeschalteten oder umgeleiteten Adresse Rotten.com in der Düsseldorfer Rasterfahndung landen. Ebenso könnte es Internet-Usern ergehen, die ausländische Sexsites anwählen, welche nicht über die in Deutschland momentan vorgeschriebene Alterskontrolle der Besucher verfügen, somit nicht deutschem Recht entsprechen und daher zukünftig auch von derartigen Abschaltungen oder Umleitungen betroffen sein könnten. Werden gar IP- statt Domain-Adressen umgeleitet, so erwischt es alle bei einem Hoster untergebrachten Webangebote auf einmal - auch völlig harmlose Sites. Da sich Alvar im Rahmen seiner Diplomarbeit mit dieser Thematik beschäftigt, stieß ihm die Düsseldorfer Webzensur mit Umleitung auf. Inzwischen wird dieses Thema auch im Internet-Form der Bezirksregierung eifrigst diskutiert.
Tatsächlich, so sagt Jürgen Schütte, seien die bewussten Emails jedoch Beschwerden empörter Internetnutzer über die Websitesperrung und somit tatsächlich an die Bezirksregierung Düsseldorf adressiert gewesen, man habe sie also rechtmäßig erhalten. Stellt sich zwar immer noch die Frage, wieso Leute, die sich über Zensur aufregen, nun automatisch potenzielle oder aktive User der Naziangebote gewesen sein müssen. Einer der beteiligten Provider, die Firma Ahrens, hat explizit an die gesperrten Internetadressen gerichtete Emails auf sich selbst umgeleitet und mindestens ein anderer, die Firma ISIS, auch Email auf die Bezirksregierung Düsseldorf weitergeschickt. Wenn dort nichts ankam, so wird dies also lediglich daran gelegen haben, dass keine Mails verschickt wurden. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass man es bei der Bezirksregierung lediglich nicht bemerkt hat. Auch Universitäten leiten potenzielle Besucher der bewussten Internetadressen um.
Ob die Strafanzeige zu einem Verfahren führt, wird von Experten zwar angezweifelt. Sie hat aber bereits einige Auswirkungen: Ausgerechnet der westdeutsche Rundfunk widmete sich nun beispielsweise dem Thema Fernmeldegeheimnis und stellte auch anderweitig klar, dass er kein Interesse an Emails vermeintlicher Wettbewerber hat. Trotzdem sind Bezirksregierung und Juristen immer noch überfordert mit dem Internet: Weil sie denken, jede Adresse im Internet beginne mit "www", wurde beispielsweise stets www.rotten.com gesperrt. Auf dieser Startseite liegen die bösen Bildchen jedoch gar nicht, sondern auf Subdomains wie coke.rotten.com - ein Fall für eine der beliebten Markenrechtsklagen? -, dem gar nicht so christlichen vatican.rotten.com oder gar der eindeutig fischelnden vagina.rotten.com.