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Endlich Schluss mit EU-Wahlpropaganda: Welches Europa wollen wir wirklich?

Peter Nowak
EU-Flagge mit Euro-Zeichen

Wertegemeinschaft: Was heißt das im SpĂ€tkapitalismus konkret? Symbolbild: jorono / Pixabay Licence

Diese Frage soll nicht gestellt werden. Kritiker der realen EU-Verfasstheit werden daher als antieuropÀisch bezeichnet. Dabei sind sie sehr divers. Ein Kommentar.

An diesem Sonntag enden die EU-Wahlen. Das ist erfreulich fĂŒr das politische Klima in Deutschland. Denn in den vergangenen Wochen war rund um die EU-Wahl eine Dauerpropaganda zu hören und zu sehen, in der argumentative Auseinandersetzung durch Feindbestimmung und Ausgrenzung ersetzt wurde. So wurde in Kommentaren und auch in den Nachrichtenmeldungen von "antieuropĂ€ischen Parteien" gesprochen, die gestoppt werden mĂŒssten.

Damit war in Deutschland vornehmlich die AfD gemeint, aber auch das BĂŒndnis Sahra Wagenknecht (BSW). Dass nicht auch Parteien links davon ins Visier gerieten, lag einfach daran, dass sie von den Meinungsmachern entweder als gezĂ€hmt oder als irrelevant angesehen werden.

Wo es in den EU-Staaten noch linke Parteien gab, die kritisch zur real existierenden EU stehen, wie die Bewegung La France Insoumise [1] war man auch sehr freigiebig mit dem Etikett "antieuropÀisch".

AntieuropĂ€isch: Was heißt das ĂŒberhaupt?

Nur: Was soll dieses Adjektiv eigentlich bedeuten? Bei der Beantwortung dieser Frage stellt sich der propagandistische Charakter der Klassifizierung gleich in mehrfacher Hinsicht heraus. Denn natĂŒrlich sind diese Bewegungen nicht gegen Europa. Sie haben sehr unterschiedliche Kritik an der gegenwĂ€rtigen EuropĂ€ischen Union. Die ist aber ein Staatenblock auf dem europĂ€ischen Kontinent.

Es ist tatsĂ€chlich ein demagogischer Trick, die EU mit Europa gleichzusetzen und im nĂ€chsten Schritt dann die Kritiker der real existierenden EU als antieuropĂ€isch zu bezeichnen. Man stelle sich vor, eine Partei oder ein ParteienbĂŒndnis bezeichnet alle Kritiker der gegenwĂ€rtigen Bundesregierung als antideutsch. Das wĂŒrde zu Recht als autoritĂ€re Anmaßung begriffen und zurĂŒckgewiesen.

Zudem hat diese Beschuldigung eine klar nationalistische Konnotation, wenn Kritiker der aktuellen Regierung und des jeweiligen Staatsapparats praktisch zu VaterlandsverrÀtern gestempelt werden. Genau das aber geschieht im EU-Wahlkampf, wenn Kritiker der Verfasstheit der gegenwÀrtigen EU mit dem Etikett antieuropÀisch versehen werden.

Welches Europa wollen wir?

Mit solchen Charakterisierungen soll nur von der Frage abgelenkt werden, welches Europa wir eigentlich wollen. Hier ist es dieser weite Begriff bewusst gewÀhlt. Und es darf schon gar nicht die Frage gestellt werden, ob die aktuelle Verfasstheit der EU womöglich zur Spaltung Europas beitrÀgt.

Dazu ist ein kurzer Exkurs zur Geschichte der EU nötig. Sie entstand als EuropÀische Wirtschaftsgemeinschaft [2], mit der sich einige westeuropÀische Staaten bessere Ausgangspositionen im westlichen Block in Zeiten des Kalten Krieges verschaffen wollten.

Damals stand die westliche Welt unter der Hegemonie der USA. In Zeiten des Kalten Krieges wĂ€re es vermessen gewesen, hĂ€tte sich der EWG-Zusammenschluss mit Europa gleichgesetzt. Doch nationalistische Kreise sprachen von der Lösung der deutschen Frage, das heißt, einer Wiedervereinigung, und hofften darĂŒber auch wieder Macht und Einfluss in ganz Europa zu bekommen.

Deutschland und die EU: Ein Machtspiel

Aber erst nach dem Ende des nominellen Sozialismus in Osteuropa gewannen diese PlĂ€ne reale Chancen auf Umsetzung. So war es das wiedervereinigte Deutschland, dass sehr frĂŒh mit der Europa-Propaganda seinen Einfluss vor allem auf die osteuropĂ€ischen LĂ€nder ausdehnte.

Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland bestrebt, einen befreundeten osteuropĂ€ischen Hinterhof zu schaffen, der klar gegen Russland gerichtet sein sollte. Dabei konnte Deutschland auf alte VerbĂŒndete des deutschen Imperialismus zurĂŒckgreifen, die nicht selten auch zumindest zeitweise VerbĂŒndete von Nazi-Deutschland waren.

FĂŒr diese Allianz war es als großer Erfolg zu werten, als 2014 in der Ukraine die prodeutsche Fraktion die Macht ĂŒbernahm. Hier liegt der Ursprung des Ukraine-Konflikts, der dann mit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine 2022 eskalierte.

Die Ukraine-Frage: Europa der Kooperation in weiter Ferne

Aber dieser Konflikt war spĂ€testens seit 2014 vorprogrammiert. Und genau hier stellt sich die Frage, welches Europa es sein soll. Denn es wĂ€re auch ein BĂŒndnis mit einer blockfreien Ukraine denkbar gewesen, die Beziehungen sowohl zur EU als auch zu Russland unterhalten könnte. Das wĂ€re die Grundlage fĂŒr eine Kooperation innerhalb Europas gewesen.

FĂŒr die Hardliner in Russland wĂ€re es dann nĂ€mlich nicht so einfach gewesen, einen Krieg gegen das kleinere Nachbarland vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen – dies geschah oft gerade mit Verweis auf die NĂ€he der Ukraine zur Nato und den Westen als eigentlichen Gegner, der Russland bedrohe.

Doch das lag nicht im Interesse der EU und vor allem nicht an Deutschland, das nach 1980 die fĂŒhrende Rolle in dem aggressiver werdenden Staatenblock spielte. Der Kampf um die Ukraine war nur ein Ausdruck dieser Konflikte zwischen der EU, die sich anmaßt, Europa zu sein, und der Nicht-EU-Welt.

EU-Geschichtsrevisionismus in Wahlkampf-Endphase

Kurz vor der Europawahl wurden die Zeremonien zum "D-Day", mit denen an die Landung alliierter Truppen in der Normandie im Kampf gegen Nazi-Deutschland erinnert werden sollte, fĂŒr eine geschichtsrevisionistische Show genutzt. Denn vom Nachfolgestaat der Sowjetunion, die die Hauptlast im Kampf gegen Nazi-Deutschlands zu tragen hatten, war niemand eingeladen.

Das betraf nicht nur den russischen PrĂ€sidenten Putin – was verstĂ€ndlich gewesen wĂ€re –, sondern auch die noch lebenden sowjetischen Veteranen. DafĂŒr wurde die ukrainische Regierung eingeladen, die historisch fĂŒr die prodeutsche Fraktion in der Ukraine steht, die vor 80 Jahren den D-Day gar nicht als Befreiung gesehen hat.

Diese Fraktion stand bis zum Schuss im BĂŒndnis mit NS-Deutschland und nicht wenige ihrer FunktionĂ€re flohen mit den deutschen Truppen ins Nazireich vor der Roten Armee. Die hatte am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz erreicht und dafĂŒr gesorgt, dass die Shoah dort ein Ende fand. Teil dieser Roten Armee waren auch ukrainische Einheiten, die eine wichtige Rolle bei der Befreiung von Auschwitz und der Zerschlagung des deutschen Faschismus spielten.

Aber das waren gerade die Gegner der Fraktion, die seit 2014 die Macht in Kiew hat. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass Veteranen der Armee, die die grĂ¶ĂŸten Opfer im Kampf gegen die NS-Besetzung gebracht haben, beim D-Day-JubilĂ€um nicht eingeladen wurden, wĂ€hrend die ukrainischen Vertreter aus einer politischen Tradition stammen, in der man gar nicht von der NS-Herrschaft bereit werden wollte.

Die EU ist nicht Europa: Spaltung und WettrĂŒsten

Aber dieser Geschichtsrevisionismus ist heute aktuelle EU-Politik. Stimmen, die sich dagegen wenden, bekommen schnell das Etikett "prorussisch" und "antieuropÀisch" verpasst. Dabei könnte man auch fragen, ob antieuropÀisch nicht diejenigen sind, die mit der Formierung eines aggressiven EU-Blocks wesentlich zur Spaltung auf dem europÀischen Kontinent beitragen.

Es wird sich zeigen, ob nach der EU-Wahl eine grundsĂ€tzliche Debatte darĂŒber möglich wird, welches Europa wir wollen. Wenn die Antwort ein Europa in den geografischen Grenzen des Kontinents ist, dann wĂ€re die nĂ€chste Frage: Wie kann das WettrĂŒsten beendet werden, das eine gesamteuropĂ€ische AnnĂ€herung behindert?

EU: Von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft?

Und dann wĂŒrde sich auch die Frage stellen, ob es ĂŒberhaupt noch eine EU wie diese benötigt, die sich von der EuropĂ€ischen Wirtschafts- zur vorgeblichen Wertegemeinschaft gemausert hat und sauer ist, dass sich die Werte der EU eben viele nicht ĂŒberstĂŒlpen lassen.

Es ist schon vermessen, mit welcher SelbstverstĂ€ndlichkeit ein im Weltmaßstab kleiner Staatenbund meint, die Welt mit ihren teils zweifelhaften Werten beglĂŒcken zu können, zumal an dessen Außengrenzen in den vergangenen 20 Jahren nach Angaben von Pro Asyl Zehntausende Menschen gestorben sind. "EuropĂ€ische Mauertote" nannte sie einst das "Zentrum fĂŒr Politische Schönheit" [3].

Eigentlich wĂ€re die Aufgabe von linken KrĂ€ften, die materialistischen Grundlagen dieses Wertediskurses zu benennen. Doch nicht wenige Linke und Linksliberale wollen auf die EU und ihre Werte nichts kommen lassen. Sie werden nur bald die Erfahrung machen, dass der Rest der Welt höchstens darĂŒber lacht.

Doch spĂ€testens mit der zunehmenden Militarisierung der EU sollte der Spaß aufhören. Es wird Zeit, dass sich die gesellschaftliche Linke auf die linke EU-Kritik besinnt, die es noch vor 25 Jahren gab. Nach der EU-Wahl wĂ€re es höchste Zeit dafĂŒr.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9754281

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bpb.de/themen/europa/frankreich/240920/jean-luc-melenchon/
[2] http://www.europaeische-wirtschaftsgemeinschaft.de/
[3] https://politicalbeauty.de/erster-europaeischer-mauerfall.html