Endokrine Disruptoren

Diethylstilbestrol oder DES. Die 1938 erstmalig synthetisierte nicht-steroidale Verbindung war das erste künstliche Estrogen und wird als endokriner Disruptor eingestuft. Von 1940 bis 1971 wurde es Millionen von schwangeren Frauen verabreicht, um Komplikationen im Schwangerschaftsverlauf zu verhindern, obwohl sich schon in den 1950er Jahren Anzeichen seiner weitgehenden Wirkungslosigkeit für diese Aufgabe häuften - mit Folgen für die behandelten Frauen. Die Substanz kam außerdem bei der Hormontherapie des Prostatakarzinoms und als Mastbeschleuniger in der Viehzucht zum Einsatz. Bild: Bernd Schröder

Interessengruppen wollen das Vorsorgeprinzip aushöhlen, die EU-Kommission macht mit - Umwelthormone, die EU und der Freihandel - Teil 2

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Teil1: Umwelthormone: Nur ein moderner Mythos?

In den 1990er Jahren prüfte die Europäische Kommission, ob endokrine Disruptoren ähnlich wie andere Gefahrstoffe reguliert werden sollten, unabhängig von der zu erwartenden Konzentration in der Umwelt. Dieser von Umweltwissenschaftlern favorisierte "gefährlichkeitsbasierte" Ansatz wurde unter anderem in der europäischen Stoff-Regulierung für Pflanzenschutzmittel festgeschrieben. Doch vor dem Hintergrund der Einflussnahme großer internationaler Agrarexporteure und der Pestizidhersteller drängt die Kommission auf einen stärker risikobasierten Ansatz.

Der Streit um die Einführung wissenschaftlich gesicherter Kriterien, die definieren, was unter einem endokrinen Disruptor im regulatorischen Kontext zu verstehen ist, findet vor dem Hintergrund starker wirtschaftlicher Interessen statt. Zum Beispiel die der Pestizidhersteller.

Abkehr vom Vorsorgeprinzip

2009 hatte das Europäische Parlament für eine neue Pestizidregulierung gestimmt: Pestizide, die von vornherein als ED definiert würden, sollten nicht mehr auf den Markt kommen oder in Umlauf bleiben können, es sei denn, die Exposition bliebe vernachlässigbar.

Dieser gefahrenbasierte Ansatz der Pestizidregulierung führte zu Spannungen mit internationalen Handelspartnern, die weiterhin ihre Agrarerzeugnisse in die EU exportieren wollen und nun aufgrund möglicher Rückstände dann nicht mehr zugelassener Substanzen Einbußen befürchten, allen voran die USA. Die sieht einen eklatanten Widerspruch zur dort praktizierten Risikobewertung und hat mittlerweile eine lose Gemeinschaft von mehr als 20 Ländern um sich geschart, darunter China. Auf verschiedenen Kanälen finden Versuche der Einflussnahme statt, zum Beispiel über das Komitee für technische Handelshemmnisse der Welthandelsorganisation WTO.

Der in Kosmetika verwendete UV-Filter 3-Benzylidencamphor (3-BC) wurde als besonders besorgniserregender Stoff in die REACH-Kandidatenliste und wird seit Februar 2016 nicht mehr als Kosmetikinhaltsstoff eingesetzt. Die Chemikalie führt bei Konzentrationen im Mikrogramm-pro-Liter-Bereich bei Fischen zur Bildung des Eidotterproteins Vitellogenin, das in der Ökotoxikologie als Biomarker für Verweiblichung gilt. Bild: Bernd Schröder

Mittlerweile drängt die EU-Kommission in ihrem Vorschlag auf einen stärker risikobasierten Ansatz der Pestizidregulierung. Sie hat den ursprünglichen Text abgeändert: Nun sei es ausreichend, das Risiko von Fall zu Fall zu bewerten, falls Probleme nach der Markteinführung aufträten.

Das entspricht einer Abkehr vom Vorsorgeprinzip, das eine tragende Säule der europäischen Umweltpolitik ist und nach dem Belastungen oder Schäden für Umwelt und Gesundheit von vornherein zu vermeiden oder weitestgehend zu verringern sind. Dieses Prinzip kollidiert mit den Auffassungen zur Regulierung von Chemikalien in Nordamerika: dort werden Substanzen erst dann reguliert, wenn ihre Schädlichkeit für Umwelt und Gesundheit durch wissenschaftliche Studien zweifelsfrei bewiesen werden.

Diese unterschiedliche Sichtweise war und ist ein Streitpunkt bei den Verhandlungen zu TTIP und CETA. Kritiker befürchten die Aushebelung des Vorsorgeprinzips, das auf dem Altar des Freihandels geopfert werden soll.

Die grundlegende Wandlung in der Philosophie der Risikobewertung von Chemikalien geht einigen EU-Parlamentariern zu weit, die damit die Befugnisse der Kommission eindeutig überschritten sehen. Fast sähe es so aus, als hätte die Kommission die Initiative ergriffen, um eine Durchführungsverordnung zu entwerfen, die mit der Absicht der gewählten Volksvertreter nichts mehr gemein hätte. Kritiker sehen in der Textänderung die Schaffung einer Hintertür, durch die hindurch mittels fortgesetzten Einsatzes von Pestiziden mit ED-Potential der Schutz von Gesundheit und Umwelt unterlaufen werden könnte.

Dibutylphthalat (DBP). Phthalate werden in großen Mengen als Weichmacher in Kunststoffen eingesetzt, besonders in PVC. Phthalate können sich später aus Kunststoffprodukten herauslösen und im Falle von Lebensmittelverpackungen in Lebensmittel übergehen. Die Verwendung in Spielzeugen und Babyartikeln ist bereits seit Jahren verboten. Phthalate wie DBP oder DEHP (Di(2-ethylhexyl)phthalat) werden als gefährlich für die Fortpflanzung eingestuft. Über die Folgen einer Exposition mit Niedrigdosen gibt es bisher keine aussagekräftigen Studien. Tierexperimentelle Studien legen eine additive Wirkung bei der Störung der Testosteronbildung in der Nachkommenschaft der Tiere nahe. Bild: Bernd Schröder

Dabei war die EU-Kommission Anfang 2013 noch auf einem anderen Weg. Die Generaldirektion Umwelt hatte gerade ihre gewählte Option vorgestellt, nach der in Frage kommende Substanzen als "verdächtigte" oder "bekannte" ED kategorisiert werden sollten - eine Option, die von wissenschaftlicher Seite befürwortet wurde. Die Industrie war strikt dagegen. Lobbyisten der US-Pestizidhersteller schlugen nun vor, diesen Vorschlag mithilfe der WTO-Regeln zu attackieren.

Der Vorschlag der Generaldirektion Umwelt wurde im Juli 2013 begraben, doch auch der als industriefreundlich geltende Vorschlag der EU-Kommission vom Juni 2016 fand weder bei der Industrie noch bei der WTO Gefallen.

Noch eine Ausnahmeregelung

Kurz vor Weihnachten 2016 überraschte der neue Vorschlag der EU-Kommission mit einem neuen Detail: Pestizide, die die Häutung von Insekten oder das Wachstum von Pflanzen beeinflussen, seien extra dafür konzipiert worden und sollten deshalb am Markt bleiben können.

Die vorgeschlagene Ausnahmeregelung beruht auf einer alten Forderung der Hersteller von BASF, Bayer und Syngenta und beträfe 15 Insektizide und eine Handvoll Herbizide, darunter 2,4-D, insgesamt mit einer Herstellungsmenge von 8700 Tonnen pro Jahr.

Acetochlor, beim Menschen möglicherweise krebserregend. In den USA kamen 2014 18000 Tonnen der Verbindung auf die Felder - hauptsächlich im Maisanbau. Sie ist dort das in Gewässern am dritthäufigsten festgestellte Herbizid. In der EU sind keine Formulierungen mit diesem Wirkstoff zugelassen. Acetochlor stört unter anderem die Schilddrüsenfunktion und beschleunigt die Metamorphose bei Amphibien. Bild: Bernd Schröder

Kritiker bemängeln am neuen Vorschlag, dass nach wie vor eine zu hohe Beweislast eingefordert wird, um eine Chemikalie als ED identifizieren zu können: Substanzen sollen nur dann als endokrine Disruptoren eingestuft werden, wenn Beweise auf schädigende Wirkungen bei Menschen und Wildtieren vorliegen - eine beispiellose Beweislast, die höher ist als bei Chemikalien, die im Verdacht stehen, Krebs zu verursachen.

Und nach wie vor bestehe die Kommission auf einer Änderung von "vernachlässigbarer Exposition" zu "vernachlässigbarem Risiko" - die Kommission führt wissenschaftliche Gründe ins Feld, doch die Einführung eines neuen Regulierungsprozesses ist vor allem eine politische Entscheidung.

Aufgrund des Widerstands vieler Mitgliedsstaaten hat die EU-Kommission den neuen Vorschlag nicht zur Abstimmung vorgelegt. Weitere Vorschläge werden folgen.

Das Herbizid Atrazin wird zur Unkrautbekämpfung beim Mais- und Zuckerrohranbau sowie auf Golfplätzen und auf anderen Rasenflächen eingesetzt. Bild: Bernd Schröder

Aufgrund hoher Grundwasserwerte wurde seine Verwendung in der EU 2004 verboten. In den USA ist es nach wie vor im Einsatz, der jährliche Austrag liegt in der Größenordnung von 30.000 Tonnen. Atrazin ist damit das am zweithäufigsten genutzte Herbizid in den Vereinigten Staaten. Seine verbreitete Verwendung wird als eine der möglichen Ursachen für den weltweiten Rückgang der Populationen verschiedenster Amphibienarten diskutiert.

Die US-Umweltbehörde EPA hält an ihrer Einschätzung fest, dass das umstrittene Pflanzenschutzmittel sicher ist. Eine vom Hersteller Syngenta gesponserte Studie kam 2014 zum Schluss, dass die Qualität der meisten bis dahin veröffentlichte Daten keine Rückschlüsse über eine Verbindung von Atrazin mit Problemen bei der Fortpflanzung zuließen.