Endokrine Disruptoren
Interessengruppen wollen das Vorsorgeprinzip aushöhlen, die EU-Kommission macht mit - Umwelthormone, die EU und der Freihandel - Teil 2
Teil1: Umwelthormone: Nur ein moderner Mythos?
In den 1990er Jahren prüfte die Europäische Kommission, ob endokrine Disruptoren ähnlich wie andere Gefahrstoffe reguliert werden sollten, unabhängig von der zu erwartenden Konzentration in der Umwelt. Dieser von Umweltwissenschaftlern favorisierte "gefährlichkeitsbasierte" Ansatz wurde unter anderem in der europäischen Stoff-Regulierung für Pflanzenschutzmittel festgeschrieben. Doch vor dem Hintergrund der Einflussnahme großer internationaler Agrarexporteure und der Pestizidhersteller drängt die Kommission auf einen stärker risikobasierten Ansatz.
Der Streit um die Einführung wissenschaftlich gesicherter Kriterien, die definieren, was unter einem endokrinen Disruptor im regulatorischen Kontext zu verstehen ist, findet vor dem Hintergrund starker wirtschaftlicher Interessen statt. Zum Beispiel die der Pestizidhersteller.
Abkehr vom Vorsorgeprinzip
2009 hatte das Europäische Parlament für eine neue Pestizidregulierung gestimmt: Pestizide, die von vornherein als ED definiert würden, sollten nicht mehr auf den Markt kommen oder in Umlauf bleiben können, es sei denn, die Exposition bliebe vernachlässigbar.
Dieser gefahrenbasierte Ansatz der Pestizidregulierung führte zu Spannungen mit internationalen Handelspartnern, die weiterhin ihre Agrarerzeugnisse in die EU exportieren wollen und nun aufgrund möglicher Rückstände dann nicht mehr zugelassener Substanzen Einbußen befürchten, allen voran die USA. Die sieht einen eklatanten Widerspruch zur dort praktizierten Risikobewertung und hat mittlerweile eine lose Gemeinschaft von mehr als 20 Ländern um sich geschart, darunter China. Auf verschiedenen Kanälen finden Versuche der Einflussnahme statt, zum Beispiel über das Komitee für technische Handelshemmnisse der Welthandelsorganisation WTO.
Mittlerweile drängt die EU-Kommission in ihrem Vorschlag auf einen stärker risikobasierten Ansatz der Pestizidregulierung. Sie hat den ursprünglichen Text abgeändert: Nun sei es ausreichend, das Risiko von Fall zu Fall zu bewerten, falls Probleme nach der Markteinführung aufträten.
Das entspricht einer Abkehr vom Vorsorgeprinzip, das eine tragende Säule der europäischen Umweltpolitik ist und nach dem Belastungen oder Schäden für Umwelt und Gesundheit von vornherein zu vermeiden oder weitestgehend zu verringern sind. Dieses Prinzip kollidiert mit den Auffassungen zur Regulierung von Chemikalien in Nordamerika: dort werden Substanzen erst dann reguliert, wenn ihre Schädlichkeit für Umwelt und Gesundheit durch wissenschaftliche Studien zweifelsfrei bewiesen werden.
Diese unterschiedliche Sichtweise war und ist ein Streitpunkt bei den Verhandlungen zu TTIP und CETA. Kritiker befürchten die Aushebelung des Vorsorgeprinzips, das auf dem Altar des Freihandels geopfert werden soll.
Die grundlegende Wandlung in der Philosophie der Risikobewertung von Chemikalien geht einigen EU-Parlamentariern zu weit, die damit die Befugnisse der Kommission eindeutig überschritten sehen. Fast sähe es so aus, als hätte die Kommission die Initiative ergriffen, um eine Durchführungsverordnung zu entwerfen, die mit der Absicht der gewählten Volksvertreter nichts mehr gemein hätte. Kritiker sehen in der Textänderung die Schaffung einer Hintertür, durch die hindurch mittels fortgesetzten Einsatzes von Pestiziden mit ED-Potential der Schutz von Gesundheit und Umwelt unterlaufen werden könnte.
Dabei war die EU-Kommission Anfang 2013 noch auf einem anderen Weg. Die Generaldirektion Umwelt hatte gerade ihre gewählte Option vorgestellt, nach der in Frage kommende Substanzen als "verdächtigte" oder "bekannte" ED kategorisiert werden sollten - eine Option, die von wissenschaftlicher Seite befürwortet wurde. Die Industrie war strikt dagegen. Lobbyisten der US-Pestizidhersteller schlugen nun vor, diesen Vorschlag mithilfe der WTO-Regeln zu attackieren.
Der Vorschlag der Generaldirektion Umwelt wurde im Juli 2013 begraben, doch auch der als industriefreundlich geltende Vorschlag der EU-Kommission vom Juni 2016 fand weder bei der Industrie noch bei der WTO Gefallen.
Noch eine Ausnahmeregelung
Kurz vor Weihnachten 2016 überraschte der neue Vorschlag der EU-Kommission mit einem neuen Detail: Pestizide, die die Häutung von Insekten oder das Wachstum von Pflanzen beeinflussen, seien extra dafür konzipiert worden und sollten deshalb am Markt bleiben können.
Die vorgeschlagene Ausnahmeregelung beruht auf einer alten Forderung der Hersteller von BASF, Bayer und Syngenta und beträfe 15 Insektizide und eine Handvoll Herbizide, darunter 2,4-D, insgesamt mit einer Herstellungsmenge von 8700 Tonnen pro Jahr.
Kritiker bemängeln am neuen Vorschlag, dass nach wie vor eine zu hohe Beweislast eingefordert wird, um eine Chemikalie als ED identifizieren zu können: Substanzen sollen nur dann als endokrine Disruptoren eingestuft werden, wenn Beweise auf schädigende Wirkungen bei Menschen und Wildtieren vorliegen - eine beispiellose Beweislast, die höher ist als bei Chemikalien, die im Verdacht stehen, Krebs zu verursachen.
Und nach wie vor bestehe die Kommission auf einer Änderung von "vernachlässigbarer Exposition" zu "vernachlässigbarem Risiko" - die Kommission führt wissenschaftliche Gründe ins Feld, doch die Einführung eines neuen Regulierungsprozesses ist vor allem eine politische Entscheidung.
Aufgrund des Widerstands vieler Mitgliedsstaaten hat die EU-Kommission den neuen Vorschlag nicht zur Abstimmung vorgelegt. Weitere Vorschläge werden folgen.
Aufgrund hoher Grundwasserwerte wurde seine Verwendung in der EU 2004 verboten. In den USA ist es nach wie vor im Einsatz, der jährliche Austrag liegt in der Größenordnung von 30.000 Tonnen. Atrazin ist damit das am zweithäufigsten genutzte Herbizid in den Vereinigten Staaten. Seine verbreitete Verwendung wird als eine der möglichen Ursachen für den weltweiten Rückgang der Populationen verschiedenster Amphibienarten diskutiert.
Die US-Umweltbehörde EPA hält an ihrer Einschätzung fest, dass das umstrittene Pflanzenschutzmittel sicher ist. Eine vom Hersteller Syngenta gesponserte Studie kam 2014 zum Schluss, dass die Qualität der meisten bis dahin veröffentlichte Daten keine Rückschlüsse über eine Verbindung von Atrazin mit Problemen bei der Fortpflanzung zuließen.