Energiewende: Sind Windräder auf Kahlschlägen sinnvoll?
Wo Fichtenforste nicht mehr zu retten sind, stünden mehr Flächen für Windkraftanlagen zur Verfügung. Bei der Standortwahl sollten grundsätzlich mehr Industriebrachen genutzt werden.
In einem Gemeindewald in Hünstetten im südhessischen Rheingau-Taunus-Kreis stehen kaum noch Bäume. Auf einer 160 mal 80 Meter großen Fläche liegen nur noch Baumstümpfe, Totholz, kahle Sträucher. In den letzten Jahren wütete hier zuerst die Trockenheit, dann der Borkenkäfer, der die gestressten Fichten erledigte. Im Revier von Simon Rätz sind 250 von einst 280 Hektar Fichtenwald abgestorben, fast 90 Prozent des Bestands. Die Spuren an den Stämmen, wo der Käfer sich unter der Rinde entlangbohrte, sind noch zu sehen.
Gemeinsam mit seinen Waldarbeitern räumte der Förster innerhalb von zwei Jahren 50.000 Kubikmeter Schadholz beiseite. Von den 40.000 Kubikmetern Holz, die er vor zwei Jahren schlug, waren 38.000 Kubikmeter Schadholz. Im Folgejahr wurde der geplante Einschlag auf 1.800 Festmeter reduziert. Mit 11.000 Kubikmeter wurde es dann doch sechs mal so viel – wieder vor allem Schadholz.
Bei einem Bürgerentscheid im März stimmte in den zehn Ortsteilen eine überwältigende Mehrheit von 76 Prozent samt Bürgermeister und Gemeinderäte für den Windpark. Für die zunächst als "Windkraftmonster" diffamierte Anlagen stimmte schließlich eine breite Mehrheit. Ein überzeugendes Argument war wohl auch, dass die Erträge aus der Stromproduktion der Gemeinde zugute kommen. Weil die meisten Flächen im gemeindeeigenen Wald liegen, profitieren auch die Bürger davon.
Möglich sind 130.000 Euro Pacht jährlich pro Windrad, sowie bis zu 70.000 Euro über die Umlageregelung im Erneuerbare-Energien-Gesetz. Nur diejenigen Unternehmen sollten zum Zug kommen, bei denen sich auch private Investoren beteiligen dürfen. Immerhin 1,9 von den geplanten zwei Prozent der Landesfläche sind inzwischen als Vorrangflächen für die Windenergie ausgewiesen, freut sich der grüne Energieminister Tarek Al-Wazir.
Das Ergebnis beweise, dass sich der Ausbau der erneuerbaren Energien auf eine breite Mehrheit stützt – gerade dort, wo die Anlagen stehen sollen. Drei Monate vor der Abstimmung hatten sich Umwelt- und Klimaschützer in der Initiative Nachhaltiges Hünstetten zusammengeschlossen. In Hessen zählt ein Bürgerentscheid nur dann, wenn mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmen. In Hünstetten lag die Wahlbeteiligung bei 57 Prozent.
Auf drei Veranstaltungen wurde über das Thema informiert, ohne sie wäre das Wahlergebnis undenkbar gewesen. Immerhin gehe es um einen gravierenden Eingriff in die Kulturlandschaft, gibt der Bürgermeister zu Bedenken.
Pflanzaktionen neben Windrädern
Im Idsteiner Land prägen Wiesen, Äcker, Weiden und Pappeln die Landschaft, durchzogen von Bachläufen. Der weite Blick geht über Hügel über die Hochflächen des nördlichen Taunus. Im Gemeindewald sind drei Vorranggebiete für Windenergie definiert. In einem intakten Laubwald, der zu den Vorranggebieten gehört, entschied der Förster, keine Windräder aufzustellen. Der Fichtenwald ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt, wurde hingegen bereits für die WKA "geräumt". Auf der Gemeinde-Homepage drehen sich die geplanten Windräder bereits.
Parallel dazu läuft die Wiederaufforstung. Im Frühling startete Simon Rätz mit seinem Team eine Bürgerpflanzaktion mit Freiwilligen aus der Gemeinde. 27.000 junge Douglasien und 10.000 Eichen setzten auf einer kahlen Stelle. Nur an Stellen mit guten Böden und einer intakten Wasserversorgung gelinge noch die natürliche Verjüngung, erklärt der Förster.
Unter dem Dach der hohen Bäume soll ein junger Mischwald heranwachsen, der resistent ist gegen Trockenheit, Schädlinge und Hitze. Dennoch bleibt das System fragil. Je schlechter die Böden, je dünner die Erdschicht über den Schieferfelsen, desto schwieriger sei die Aufforstung. Sechs Windräder auf den kahlen Flächen dazwischen fielen hingegen nicht wirklich ins Gewicht, findet der Förster.
Auf welchen Flächen dürfen Windräder stehen?
Über diese Frage streiten Umweltverbände, Waldbesitzer, Forstwirtschaft und Anwohner. Beim Windkraft-Entscheid in Hünstetten (siehe oben) kam der Widerstand vor allem von der AfD, die gemeinsam mit einem lokalen Einzelkämpfer gegen das Projekt wetterte. Ein junger Rotmilan sei in der Nachbarschaft durch Windflügel regelrecht "zerfetzt" worden, erklärte dieser per Video. Das Getriebe- und Schmieröl in den WKA gefährde die Trinkwasserversorgung. Zudem verschandelten die Anlagen das Landschaftsbild.
Auch wirtschaftlich genutzte Wälder sind komplexe Ökosysteme und Lebensraum vieler geschützter und gefährdeter Arten, argumentieren Naturschützer. Schon deshalb sei es kontraproduktiv, wenn für Windparks im Wald Bäume gerodet werden. Die Anlagen sollten daher, wenn überhaupt, nur in industriell genutzten Nadelbaum-Forsten außerhalb von Schutzgebieten realisiert werden, fordert Jannes Stoppel, Wald- und Klimaexperte von Greenpeace.
Es brauche einen rechtlichen Schutz. Sonst bestehe die Gefahr, dass ökologisch wertvolle Wälder abgeholzt werden, um Platz für Windräder zu schaffen. Hinzu kommt: Fast die Hälfte des deutschen Waldes ist in Privatbesitz. Im Zuge des Waldsterbens mussten Eigentümer und Forstwirtschaft enorme Einbußen hinnehmen, klagt die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände. Die Windenergie böte den Waldeigentümern ein erhebliches Einkommenspotenzial.
Warum können die Anlagen nicht wenigstens auf Kahlflächen stehen, wo ohnehin Fichten gerodet wurden? Aus ökologischer Sicht wäre dies eine fatale Fehlentwicklung, warnt Heide Naderer vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu).
Denn auch geschädigte Waldbereiche, so genannte Kalamitätsflächen, leisten einen wichtigen Beitrag zu Nährstoffhaushalt, Artenvielfalt und zur Wasserspeicherung. Durch Wiederbewaldung könnten sie sich zu wertvollen Mischwaldbeständen entwickeln. Bevor Wald- in Gewerbegebiete umgewandelt werden, sollten zunächst die bestehenden Potenziale ökologisch weniger bedeutsamer Flächen ausgeschöpft werden.
Überhaupt sollten für den Ausbau der Windenergie stärker Gewerbe- und Industriestandorte genutzt werden. Zudem fordern die Umweltschutzverbände, die pauschale Mindestabstandsregelungen für WKA zu Wohnhäusern abzuschaffen. Zwischen 2010 und 2019 brachte der Nabu nach eigenen Angaben 45 Klagen auf den Weg. Immer wieder hätten Vorhaben und Planungen eklatant gegen Naturschutzrecht verstoßen, so die Begründung.
Alte Windkraftanlagen durch leistungsfähigere ersetzen
Auch in Thüringen wollen Linke und Grüne verstärkt Schad- und Kahlflächen im Wald für Windräder nutzen. Schließlich muss der Freistaat im kommenden Jahrzehnt 35.600 Hektar seiner Landesfläche für Windkraftanlagen reservieren. Bis 2032 sollen insgesamt 2,2 Prozent der Landesfläche für Windkraftstandorte ausgewiesen werden.
Die zuständigen Ministerinnen verwiesen auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts Ende November, demzufolge ein pauschales Windkraftverbot im Wald verfassungswidrig und somit nichtig ist. Susanna Karawanskij (Linke) will vor allem Kahlflächen mit Windkraftanlagen (WKA) bebauen. Es werde kein gesunder Baum für die Windenergie gefäll, versichert die Infrastrukturministerin.
Im November waren im Freistaat 861 Windräder im Betrieb - die dafür genutzte Landesfläche lag bei 0,4 Prozent. Bis 2040 soll Thüringes Energiebedarf zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden. Die Zahl der Windräder dürfe nicht entsprechend des Flächenziels von 2,2 Prozent einfach hochgerechnet werden, warnte Energieministerin Anja Siegesmund (Grüne).
Weil Windkraftanlagen immer leistungsfähiger werden, könnten bestehende Anlagen teilweise zurückgebaut bzw. durch modernere ersetzt werden. Ziel sei eine faire und angemessene Verteilung der Vorranggebiete Windenergie. Eine übermäßige Belastung einzelner Regionen solle vermieden werden. Gleichzeitig soll die Wiederaufforstung und der Umbau zu klimaresistenteren Wäldern weitergehen. Aus der Landeskasse ist dafür eine halbe Milliarde Euro bis zum Ende des Jahrzehnts vorgesehen.
Zum Jahresende drehten sich deutschlandweit rund 29.800 Windkraftanlagen. Sie erzeugten insgesamt fast ein Viertel der deutschen Stromproduktion. Die meiste Windenergie stammt aus Niedersachsen. Das Wind-an-Land-Gesetz soll den Ausbau künftig deutlich schneller voranbringen. Es sieht vor, dass zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie an Land ausgewiesen werden, statt wie bisher 0,8 Prozent.
Damit Deutschland seine Klimaversprechen einhält, sollen im Jahr 2030 mindestens 80 Prozent des Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Energien kommen. Glaubt man einer Analyse des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität in Köln, müssen dafür jeden Tag fünf bis sechs Anlagen gebaut werden.