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Entsprang der NSU einem Thüringen-Sumpf?

Untersuchungsausschuss in Erfurt beleuchtet Bezüge von Neonazis zur Organisierten Kriminalität - Parallelen zu Sachsen

Wann entstand der NSU, wie kam er zustande, wer zählte alles dazu, was wollte er? Viele Grundfragen der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" sind bis heute ungeklärt. Ungeklärt auch deshalb, weil die Ceska-Mordserie an neun Migranten und der Polizistenmord von Heilbronn so gar nicht zusammenpassen wollen.

Fremdenhass als Mordmotiv hier - organisierte Kriminalität da? Wenn ja, wo ist die Verbindung? Identifiziert sind bisher nur Bestandteile der Tätergruppierung: Neonazis, V-Leute, kriminelle Geschäftemacher, Polizisten. Wie sie zusammenhängen, ist aber unklar.

Ein Stück Nachwendegeschichte

Der NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen nimmt sich seit einiger Zeit das Feld OK (Organisierte Kriminalität) vor und versucht, Verbindungen zu Rechtsextremisten, die zum Beispiel im Thüringer Heimatschutz (THS) aktiv waren, zu beleuchten. Dabei sorgt seit zwei Sitzungen eine Geschichte für Aufsehen, die sich vor über 16 Jahren ereignete, aber nun zu neuen Erschütterungen und anhaltenden Schlagwellen führte.

Und die möglicherweise zu Hintergründen führt, wie sie aus dem sogenannten "Sachsen-Sumpf" bekannt sind: illegale Geschäfte, an denen Anleger, Politiker und Amtsträger beteiligt waren, Korruption, kriminelle Machenschaften. Es ist auch ein Stück Nachwendegeschichte - Kämpfe um Verkauf und Aufteilung eines eigentumslosen Landes

Der Kronzeuge und die handelnden Personen

Kronzeuge ist ein früherer leitender Kriminalbeamter des Landeskriminalamtes (LKA) namens Andreas G., tätig im Bereich OK, Dienststelle war Weimar. Zu den handelnden Personen gehörte unter anderem der frühere NPD-Funktionär und V-Mann des Verfassungsschutzes Thomas Dienel, ganz früher einmal FDJ-Sekretär und SED-Mitglied.

Es gehörte ein Abteilungsleiter des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) dazu, ein ehemaliger Innenminister, ein SPD-Landtagsabgeordneter, ein unbekannter Neonazi und mutmaßlicher V-Mann aus Jena - sowie der höhere Polizeibeamte Michael Menzel, Finder der Kiesewetter-Pistole im ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach, in dem auch die toten Böhnhardt und Mundlos lagen. Er leitete im November 2011 die Ermittlungen um die Toten von Eisenach.

Heute ist Menzel Kriminaldirektor und im Thüringer Innenministerium tätig. Vor allem der unbekannte Mann aus Jena und Menzel sind die Links zum NSU.

Die Geschichte geht in aller Kürze so: Im Jahre 2000 berichtete der Informant Thomas Dienel dem Kripobeamten Andreas G. und dessen Kollegen M. von einem Geschäftsmann, der ihn beauftragt habe, einen Killer zu finden, der seine Frau umbringen soll. Die Angaben bewahrheiteten sich, der Geschäftsmann wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Gestohlene Festplatten

Im Juni 2001 gab es ein weiteres Gespräch der beiden OK-Fahnder mit Dienel in Weimar. Dabei schilderte er, dass ein ZDF-Journalist im Besitz der Festplatten aus den PCs sei, die 1997 im Innenministerium gestohlen wurden, und dass auf diesen Festplatten Unterlagen zur Telefonüberwachung des LfV gespeichert seien.

Er berichtete über Gespräche mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Heiko Gentzel und Informationen über Telefonüberwachungen, die er von ihm bekommen haben will. Er erwähnte, dass Informationen aus dem LfV über einen Abteilungsleiter des Amtes (Herr H.) an den früheren Innenminister Richard Dewes (SPD) gingen, sogar noch als Dewes nicht mehr Minister, sondern nur noch Abgeordneter war.

Dienel sprach über die Enttarnung des V-Mann Tino Brandt im Thüringer Heimatschutz (THS), und er wusste von der bevorstehenden Entlassung des LfV-Vizepräsidenten Peter Jörg Nocken. Nocken wurde wenig später tatsächlich entlassen und ins Innenministerium versetzt.

Offensichtlich verfügte Dienel, der zu diesem Zeitpunkt offiziell kein VS-Spitzel mehr gewesen sein soll, nach wie vor über Hintergrundinformationen aus dem Verfassungsschutz. War die angebliche Beendigung seiner Informantentätigkeit vielleicht wiederum nur eine Legende?

Schließlich berichtete Dienel den Kripomännern G. und M. noch über Bedrohungen seiner Person durch die rechte Szene in Jena und Erfurt. Allem Anschein nach flossen Informationen, auch über sein Insiderwissen, in die Szene ab.

Das wieder aufgetauchte, verschwundene Protokoll

Die Beamten Andreas G. und M. fertigten von den Aussagen Dienels ein dreiseitiges Protokoll [1]. Es trägt das Datum vom 7.6.2001 sowie die Überschrift: "Hinweis zum Verbleib möglichen Diebesgutes, Diebstahl Computer aus dem Thüringer Innenministerium".

Der MDR hat das Protokoll am Donnerstagmorgen (8. Juni 2017) noch vor Beginn der Ausschusssitzung ins Internet gestellt [2] und damit seine Existenz bestätigt. Es galt als verschollen oder wurde als Erfindung bzw. Fälschung hingestellt. Und das wiederum hängt mit Teil zwei der Protokoll-Affäre zusammen.

Denn, so der Zeuge und Ex-Kripomann Andreas G. weiter, am folgenden Tag, dem am 8. Juni 2001, exakt vor 16 Jahren, erschien jener Michael Menzel bei ihnen in der Dienststelle und verlangte die Aushändigung des Protokolls sowie die Löschung im Computer. Die Beamten taten wie befohlen - behielten für sich heimlich aber einen Ausdruck des Dokumentes zurück.

Die Anordnung Menzels sei "ungewöhnlich" gewesen, so Andreas G. im Ausschuss, denn "dass wir polizeiliche Unterlagen aus dem System herauslöschen, war undenkbar". So etwas sei niemals zuvor und niemals danach vorgekommen. Und er ergänzt: "Ich würde es auch nie wieder machen."

Als Andreas G. im Mai 2017 vor dem Ausschuss aussagte, wurde seine Befragung nach einer Intervention der Vertreter des Innenministeriums unterbrochen und auf die jetzige Sitzung im Juni vertagt. Das Ministerium sollte bis dahin das Dienel-Protokoll besorgen. Nun liegen beide Fassungen vor: eine mit den Unterschriften der beiden Beamten und eine ohne.

Versteckt gehaltene Dokumente?

Die vom MDR veröffentlichte, ist die mit den Unterschriften, die von Menzel eingezogen worden war. Es ist nicht die, die der Ausschuss vorgelegt bekommen hat, nämlich die heimlich ausgedruckte. Offensichtlich muss die Menzel-Fassung noch an einem geheimen Platz im Ministerium lagern, von wo sie an den MDR lanciert wurde. Versteckt gehaltene Dokumente?

Gibt es vielleicht einen Giftschrank mit Schriftstücken, die sich eignen, Personen gegebenenfalls unter Druck setzen zu können? In diesem Fall die Sozialdemokraten Gentzel und Dewes? War Dienel gar auf Gentzel angesetzt gewesen?

Die erste Aussage von Andreas G. im Mai führte zu Reaktionen. Heiko Gentzel räumte einen "kurzen Kontakt" zu Thomas Dienel ein, bestritt aber, ihn mit Informationen aus der Parlamentsarbeit versorgt zu haben.

Michael Menzel erklärte gegenüber dem MDR, die Aussagen des Kripobeamten G. seien "gelogen". Er habe "nie die Löschung des Dokuments angeordnet". Er bestätigte aber, damals bei der Kriminalpolizeistation in Weimar aufgetaucht zu sein. Er habe die Aussagen Dienels geprüft und einen entsprechenden Bericht an die Staatsanwaltschaft Erfurt geschickt [3].

Fraglich ist unter anderem, in welcher Funktion Menzel eigentlich tätig geworden ist. Nach eigenen Angaben im NSU-Ausschuss des Bundestages war er im Juni 2001 Kripochef in Saalfeld. Als solcher dürfte er kaum weisungsbefugt gegenüber Kripobeamten in Weimar gewesen sein. Ins LKA jedoch will Menzel erst im Dezember 2001 gewechselt sein und danach ins Innenministerium. Welchen Auftrag hatte er also im Juni 2001 und von wem?

Steht in der Protokollaffäre Dienel-Menzel Aussage gegen Aussage? Andreas G. jedenfalls blieb dem Widerspruch Menzels zum Trotz jetzt bei seiner zweiten Zeugenvernehmung im Ausschuss nicht nur bei seiner Darstellung, sondern bekräftigte sie mit weiteren Details aus der damaligen Zeit. Mit seinem Kollegen M. steht außerdem ein zweiter Zeuge bereit.

Die "wilden 90er Jahre": Immobiliengeschäfte im ganz großen Stil

M. soll damals ins Innenministerium zitiert worden sein, wo ihm die "Marschrichtung" gezeigt wurde, so G., der sich selber zu jenem Zeitpunkt im Urlaub befand. Die Marschrichtung hieß: "Wir haben Dienels Angaben im Protokoll zu vergessen. Es war nicht erwünscht, dass wir weitermachen." Sprich: nicht ermitteln, vor allem zu Politikern, zum Verfassungsschutz und zur rechten Szene.

Nach einer Einschätzung gefragt, kommt der Experte für Organisierte Kriminalität auf die "wilden 90er Jahre" zu sprechen, jenem Nachwendejahrzehnt mit strukturellen Umbrüchen nach dem Ende der DDR. Er spricht von Immobiliengeschäfte jener Jahre "im ganz großen Stil", bei denen die Politik im Hintergrund "die Fäden gezogen" habe und von Projekten, die "vom Land gesponsert" wurden.

In Weimar führten sie Ermittlungen, bei denen es um Immobilien im Wert von über 30 Millionen gegangen sei. Es habe "illegale Treffen von Politikern mit Politikern anderer Länder gegeben". Es sei um Exportgeschäfte nach Russland gegangen. Einmal hätten sie Hinweise bekommen, dass sich ein Landespolitiker in Thüringen mit dem russischen Nationalisten und Duma-Abgeordneten Wladimir Schirinowski getroffen habe. Sie hätten dazu nicht ermittelt, stattdessen aber der BND.

Ein politischer und wirtschaftlicher Sumpf, in dem auch gewalttätige, kriminelle Neonazis gediehen und zu tun bekamen. In Jena trieb in den 1990er Jahren eine Bande ihr Unwesen, zu der aus dem späteren NSU-Kerntrio mindestens Uwe Böhnhardt gehörte. Die Anführer, zwei Brüder namens Ehrhardt, waren zugleich Informanten des LKA.

Dienel, der Zuträger, soll unter anderem von rechten Aktivisten aus Jena bedroht worden sein. Darunter mindestens ein V-Mann. Den Namen wollte er den Ermittlern nicht nennen, aus Angst.

Verräter

Kurz zuvor, im Mai 2001, war der V-Mann Tino Brandt, zugleich Anführer des rechtsradikalen Thüringer Heimatschutzes, enttarnt worden. Und zwar durch "einen Verräter aus den eigenen Reihen", wie der damalige Leiter der LfV-Abteilung für V-Mann-Werbung und -Führung, Eckhard Stelzer, jetzt gegenüber dem Ausschuss sagte. "Beschaffung" nennt der Nachrichtendienst das Anwerben von Spitzeln.

Ein ehemaliger Verfassungsschützer bestätigt damit den Verdacht, dass Brandt aus dem Amt heraus verraten worden war. Aber wozu? War das nur Ausdruck von Machtkämpfen in dem Dienst? Oder war der V-Mann vielleicht den Gesuchten, Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe, zu nahe gekommen, und es drohte ihr Auffliegen? Sollten sie also durch Brandts Enttarnung geschützt werden?

Neu auch das: Nach der Affäre Brandt habe das LfV, so der damalige Beschaffungschef, sämtliche Quellen abgeschaltet. Alle hätten Angst gehabt selber aufzufliegen. Die Folge sei gewesen, dass der Landesverfassungsschutz fast "ein dreiviertel Jahr lang keine Zugänge" zur rechten Szene mehr gehabt habe, ehe neue Quellen angeschafft werden konnten. Das sei durch zwei große Anwerbeaktionen namens "Saphira 1" und "Saphira 2" unter Federführung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) geschehen. So wie Jahre zuvor durch die Operation "Rennsteig".

Kuriositäten

Das Trio wurde damals noch mit Haftbefehlen gesucht. Allerdings, und auch das muss stutzig machen, habe seine V-Mann-Abteilung von der Abteilung "Auswertung" in jenen Jahren "keinen einzigen Auftrag erhalten, nach den Untergetauchten zu forschen", so Stelzer weiter. Die Auswerter sind die, die im Nachrichtendienst das Sagen haben. Sie erteilen den Beschaffern die konkreten Aufträge - oder eben nicht. Im Dienst gilt der Grundsatz: "Die Auswertung steuert die Beschaffung."

Und noch eine Kuriosität ergab die Vernehmung des Geheimdienstpensionärs. Nach dem Untertauchen der drei verhandelte das Amt mit den Eltern von Böhnhardt und Mundlos über die Möglichkeit, dass sich die Gesuchten stellen. Der Deal scheiterte. Die Rechnung für die Anwälte der Familien Böhnhardt und Mundlos aber bezahlte der Verfassungsschutz. Er habe diese Rechnung selber in den Unterlagen im Amt gefunden, so Stelzer.

Abgeschaltete V-Leute in einer Zeit, als die Terrorgruppe des NSU mit dem Morden und Rauben begonnen hatte? Oder vielleicht Umwidmungen von Mitarbeitern für einen anderen Dienstherren? Denn nach wie vor sind zahlreiche Quellen nicht enttarnt, die für das BfV gearbeitet haben.

Anlass zu einer solchen Überlegung gibt ausgerechnet die Figur Thomas Dienel. Auch er soll abgeschaltet worden sein, hinterließ allerdings Spuren, die dem Kriminalisten Andreas G. seltsam vorkamen. Plötzlich sei Dienel im Bereich Suhl aufgetaucht, dann in Sachsen. Wie könne es sein, dass ein V-Mann "quer durch Deutschland reist und nirgends auf einer Liste steht"?

Denn auf den einschlägigen Verzeichnissen von Rechtsextremisten in Thüringen sei der Name Thomas Dienel nicht zu finden gewesen. Der seines Bruders Torsten dagegen schon. Welche Listen?, will der Ausschuss wissen, die mit möglichen Unterstützern des NSU? "Genau!", so Andreas G.

Dass die Jahre alte Aussage dieses Neonazis und V-Mannes heute wieder Aktualität hat, ist auf die ungelösten NSU-Ermittlungen und die ungeklärten Hintergründe der Mordserie zurückzuführen. Das Dienel-Protokoll müsse neu bewertet werden, meinte der Zeuge G. Der Fall müsse verfolgt werden.

Von dem ganzem Vorgang erfahren hat der Ausschuss übrigens durch einen unbekannten Hinweisgeber.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.mdr.de/thueringen/protokoll-nsu-dienel-100-downloadFile.pdf
[2] http://www.mdr.de/thueringen/protokoll-nsu-dienel-100.html
[3] http://www.mdr.de/thueringen/-thueringer-nsu-untersuchungsausschuss-dienel-protokoll-100.html