Entstehung von Hybridgebilden
Künstliche Intelligenz und Mensch. Ab wann gestaltet KI den Menschen um – statt in seinem Dienst zu stehen? (Teil 2 und Schluss).
In Teil 1 dieses Überblicks wurde die Veränderung des Menschenbildes durch zwei aktuelle Stoßrichtungen an der Mensch-KI-Schnittstelle beschrieben: erstens die Maschinisierung des Menschen (Cyborgisierung), zweitens die Vermenschlichung der Maschine (Anthropogenisierung). Dazu wurden einige Fragen formuliert.
In diesem abschliessenden Teil 2 kommt als dritte zeitgenössische Stossrichtung die Entstehung von Hybridgebilden dazu. Gemeinsam stellen die drei Stoßrichtungen die Frage nach der Zukunft der Schnittstelle KI-Technik-Mensch in den Raum. Auf diese Frage gibt es derzeit noch wenig Antworten. Trotzdem liegen Strategien zu ihrer Bearbeitung vor.
Stoßrichtung 3: Die Entstehung von Hybridgebilden
Ein dritter und letzter Trend neben der Maschinisierung des Menschen und der Vermenschlichung der Maschine ist die Entstehung von Hybridgebilden zwischen technischen und biologischen Intelligenzen sowie zwischen verschiedenartigen biologischen Intelligenzen, darunter Gehirn-Gehirn-Verschaltungen zwischen unterschiedlichen biologischen Spezies mittels der Zwischenschaltung von KI-basierten Übertragungs- und Übersetzungssystemen.
Ein aktuelles Beispiel dafür sind sogenannte Brain-Brain-Interfaces oder BBIs. Sie ergänzen seit der Veröffentlichung einer bahnbrechenden Studie am 4. Februar 2019 in der Fachzeitschrift Nature die bereits routinemässig bestehenden Gehirn-Computer-Verschaltungen (Brain-Computer-Interfaces, BCIs) und Gehirn-Maschine-Verschaltungen (Brain-Machine-Interfaces, BMIs).
Gehirn-Gehirn-Verschaltungen oder BBIs bilden einerseits einen neuartigen Schnittpunkt zwischen Maschinisierung des Menschen und Vermenschlichung der Maschine, andererseits aber auch zwischen Tier und Mensch sowie zwischen lebendiger und künstlicher Intelligenz.
Die Verschaltung zwischen organisch-biologischen Gehirnen ist auf die Vermittlerfunktion einer technologischen Hochleistungs-"Umrechnungs"-Einheit angewiesen, die ohne KI so nicht möglich wäre.
Die vollen Folgen dieser Hybridisierungs-Experimente sind noch unbekannt. Dies auch deshalb, weil in der Forschung und ständigen Weiterentwicklung multidimensionaler Hybridisierung autoritäre, nicht-demokratische und expansive Kontroll- und Überwachungsstaaten wie China inzwischen eine führende Rolle spielen – was nicht wenigen europäisch-westlichen Beobachtern Anlass zur Sorge gibt.
"Gedankenkontrolle lebendiger Wesen"
2018 verschalteten chinesische Wissenschaftler erstmals ein menschliches mit einem technisch modifizierten Rattengehirn: nämlich mit einem von ihnen sogenannten "Cyborg-Rattengehirn". Sie veröffentlichten das Verfahren und die Ergebnisse dieser spezieszusammenführenden Gehirn-Gehirn-Verschaltung im Februar 2019 in der renommierten Fachzeitschrift Nature. Die Versuche bauten unter anderem auf vorherige Überlegungen der Duke Universität und der Harvard Universität auf.
Laut den Wissenschaftlern erlaubte das Experiment, das Verhalten der Ratte mittels menschlichen Gedanken zu beeinflussen und in Teilen sogar direkt zu steuern – und zwar nicht nur in der Orientierung, sogar bis in das Fress- und teilweise sogar Fortpflanzungsverhalten hinein.
Das würde faktisch die Entstehung einer Mensch-Tier-Hybridsteuerungstechnologie bedeuten, die bis in das Selbsterhaltungssystem hineinreicht. Die Wissenschaftler gingen in ihrer – keineswegs von allen geteilten – Interpretation ihrer Versuche davon aus,
dass es seit jeher der Traum von Menschen ist, direkte Kommunikation zwischen Gehirnen zu ermöglichen… Gehirn-Maschine-Schnittstellen (Brain-Machine Interfaces, BMIs) stellen einen vielversprechenden Informationskanal zwischen dem biologischen Gehirn und externen technischen Geräten dar und werden für den Bau von Gehirn-zu-Gerät-Kontrollen angewandt.
Vorausgehende Studien haben die Machbarkeit einer Gehirn-Gehirn-Schnittstelle (Brain-Brain Interface, BBI) zwischen verschiedenen Gehirnen mittels der Kombination verschiedener BMIs erwiesen. Der Gebrauch eines BBI zur Verwirklichung einer effizienten Multigrad-Kontrolle eines lebenden Wesens, etwa einer Ratte, zum Abschluss einer Steuerungsaufgabe in einer komplexen Umgebung musste jedoch erst bewiesen werden.
Dem widmeten sich die chinesischen Wissenschaftler laut eigener Darstellung wie folgt:
In unseren Studien haben wir die Gehirn-Gehirn-Schnittstelle eines menschlichen Gehirns zu dem einer Ratte verlegt, das mit Mikroelektroden implantiert war (das heisst streng genommen zu einem Ratten-Cyborg). Dabei wurden Elektroenzephalogramm-generierte Bewegungsbilder und Gehirnstimulation integriert, um menschliche Gedankensteuerung (human mind control) der kontinuierlichen Bewegung der Ratte zu erreichen.
Kontrollanweisungen wurden von fortgesetzten Bewegungsbildern transferiert und die Resultate mit vorprogrammierten Kontrollmodellen dekodiert, um dann mittels mikro-elektrischer Gehirnstimulation drahtlos an den Rattencyborg gesendet zu werden.
Die Ergebnisse zeigen, dass Ratten-Cyborgs problemlos und erfolgreich durch das menschliche Denken (the human mind) navigiert werden können, um ein Bewegungsziel in einem komplexen Zusammenhang zu absolvieren. Unsere Experimente wiesen darauf hin, dass die Zusammenarbeit (cooperation) zwischen zwei Gehirnen mittels der Übertragung multidimensionaler Information durch ein Computer-assistiertes BBI vielversprechend funktioniert.