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Entzündet der Gaza-Krieg den arabischen Raum?

Angriff auf Funkturm im militärischen Schlagabtausch zwischen Israel und Hisbollah. Bild: Democracy Now

Israelische Jets bomben im Libanon, Hisbollah feuert Raketen. Der Krieg eskaliert. Wie reagieren arabischen Staaten, der Iran und nicht-staatliche Akteure? Gastbeitrag.

Israel hat seine Angriffe gegen den Libanon ausgeweitet. Israelische Kampfjets operieren im Libanon und dringen weit vor, während die Sorge vor einer regionalen Eskalation wächst.

Bomben und Raketen im Libanon und Israel

Letzte Woche traf eine israelische Drohne ein Auto außerhalb des palästinensischen Flüchtlingslagers von Rashidieh in der Nähe der südlibanesischen Stadt Tyrus und tötete beide Insassen. Es folgten zwei israelische Luftangriffe, bei denen im Nordosten des Libanon zwei Menschen getötet und neun verletzt wurden.

Rami Khouri ist palästinensisch-amerikanischer Journalist und Senior Public Policy Fellow an der American University of Beirut

Israel hat auch Gebiete in der Nähe der libanesischen Stadt Baalbek angegriffen. Die libanesische Hisbollah, ein Verbündeter der Hamas, reagierte mit über hundert Raketen auf den Norden Israels, was als schwerster Angriff seit dem 7. Oktober bezeichnet wird.

Über die Hintergründe haben Amy Goodman und Juan Gonzalez von Democracy Now mit Rami Khouri, dem palästinensisch-amerikanischen Journalisten und Senior Public Policy Fellow an der American University of Beirut ein Interview geführt. Sein jüngster Beitrag [1] für Al Jazeera trägt die Überschrift "Die Wachhunde im Auge behalten: Biden, die US-Medien und die arabisch-amerikanische Einflussmacht".

Wir sind Zeugen einer Eskalation

Sprechen Sie über den Libanon und die Kämpfe mit Israel. Was bedeutet das? Handelt es sich um eine Eskalation zu einem regionalen Krieg?
Rami Khouri: Wir sind definitiv Zeugen einer Eskalation. Die Kämpfe finden schon seit Beginn der aktuellen Phase der Gaza-Kämpfe seit Anfang Oktober statt. In den letzten zwei Wochen haben sie sich stark verschärft.
Die Israelis haben zwar in öffentlichen Erklärungen deutlich gemacht, dass sie die Hisbollah nicht zerstören wollen. Aber sie wollen ihre Macht verringern bzw. die Organisation als mögliche militärische Kraft, die sie bedroht, neutralisieren.
Denn sie sehen die Hisbollah, richtigerweise, sehr eng mit dem Iran verbunden, und sie sehen den Iran – ich bin mir nicht so sicher, ob das richtig ist –, als ihre größte Bedrohung in der Region an.
Die Israelis reden also ständig davon, dass sie etwas gegen die Hisbollah unternehmen müssen. Und sie sind bereit, einen Krieg zu führen, von dem sie erwarten, dass die US-Amerikaner ihnen dabei helfen, so wie die Vereinigten Staaten ihnen beim Völkermord [der Internationale Gerichtshof spricht von "nachvollziehbarem Völkermord"] in Gaza helfen.
Und jetzt helfen die Amerikaner ihnen kurioserweise bei den humanitären Lebensmittellieferungen nach Gaza. Die Vereinigten Staaten scheinen also eine Art Knopf zu sein, den Israel drückt, wenn es Unterstützung bei einer dramatischen, meist illegalen und oft unwirksamen Aktion braucht.

Kommt ein vollumfänglicher Krieg?

Israel drückt den Knopf in Washington, und Washington springt auf und sagt: "Ja, Sir. Was kann ich tun?" Die Israelis erwarten von den USA, dass sie ihnen helfen, die Macht der Hisbollah zu brechen. Es ist nicht klar, dass das leicht zu bewerkstelligen ist.
Der Grund, warum die Hisbollah so stark ist, liegt darin, dass sie Israel 2006, im letzten großen Krieg zwischen dem Libanon und Israel, zu einem Waffenstillstand und zu neuen Einsatzregeln gezwungen hat, die mehr oder weniger eingehalten wurden und auch jetzt noch gelten.
Es ist eine Art Schutz vor wechselseitiger Vergeltung. Die folgt nach dem Prinzip: Ihr tötet einen von uns, wir töten einen von euch. Ihr greift einen militärischen Posten an, wir attackieren einen von euch.
Aber das Ganze eskaliert jetzt, und es ist nicht klar, ob Israel wirklich zu einem ausgewachsenen Krieg bereit ist oder ihn führen will. Ich denke, keine der beiden Seiten wird viel erreichen, außer massiver Zerstörung in beiden Ländern.
Ich bleibe also skeptisch, was einen vollen Krieg angeht. Aber ich erwarte, dass sich die Geplänkel auf diesem Niveau fortsetzen und sogar noch mehr Attentate verübt werden, vielleicht hier und da ein paar Infrastrukturen getroffen werden. Ich gehe davon aus, dass sich das ein wenig steigert, aber nicht zu einem großen Krieg führt.

Arabischen Bevölkerungen sind machtlos

Der Schlagabtausch hat bereits zu erheblichen Vertreibungen geführt. Etwa 90.000 Menschen mussten aus dem Südlibanon fliehen. Gleichzeitig hat die israelische Regierung etwa 80.000 Israelis aus den Städten und Dörfern im Norden evakuiert. Wie würden sich Ihrer Einschätzung nach die Auswirkungen eines größeren Konflikts auf den gesamten Nahen Osten auswirken?
Rami Khouri: Das ist immer schwer vorherzusagen. Was wir sagen können – und wir sehen es jetzt – ist, dass die arabischen Regierungen nichts riskieren werden, um den Palästinensern zu helfen oder sich den Israelis entgegenzustellen.
Sie werden Erklärungen abgeben und Pressekonferenzen abhalten, sie werden etwas Hilfe schicken, aber man wird nichts Strategisches oder Substanzielles riskieren, um Israel zu konfrontieren, während die Mehrheit der arabischen Bevölkerung Israel kritisch gegenübersteht.
Doch sie ist hilflos. Sie hat keine Macht. Früher waren sie Bürger. Jetzt sind sie im Wesentlichen zu Konsumenten geworden. Alles, was sie machen können, ist, einkaufen gehen und sich im Kino einen Film anschauen, aber sie haben keinen Einfluss.
Die arabischen Bürger sind machtlos. Sie sind politisch kastrierte Wesen. Daher wird die Politik der arabischen Regierungen tendenziell dominieren. Und deshalb haben wir in den letzten 30 Jahren den Aufstieg dieser sehr mächtigen nicht-staatlichen bewaffneten Akteure erlebt – die Hisbollah und die Hamas, Ansar Allah [Huthi] im Jemen, die Mobilisierungseinheiten im Irak und in Syrien und viele andere.
Wir würden also erwarten, dass einige dieser nicht-staatlichen, sehr mächtigen Akteure im Falle eines totalen Krieges verstärkt militärisch gegen Israel vorgehen und die arabischen Länder um einen Waffenstillstand bitten.

Was ist mit dem Iran?

Die Iraner sind das große Fragezeichen. Würden sich die Iraner auf eine direkte Konfrontation mit Israel einlassen? Mein Verdacht ist, dass sie das wahrscheinlich nicht tun wollen, weil sie wissen, dass das die Vereinigten Staaten auf den Plan rufen würde.
Jetzt argumentieren einige Leute: "Nun, das ist es, was sie wollen. Sie wollen, dass die Amerikaner in ein weiteres unvernünftiges militärisches Abenteuer gezogen werden, wie in Vietnam, Afghanistan oder im Irak. Sie möchten, dass die USA noch eines mit dem Iran eingehen."
Das sind also alles spekulative Ideen. Niemand weiß es wirklich. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass die Hisbollah und die Hamas sowie die Huthi im Jemen bereit sind, zu kämpfen.
Ob es eine selbstmörderische, unkluge Politik ist, wird uns die Geschichte zeigen. Aber was wir bisher gesehen haben, ist, dass sie in der Lage sind, sich mit Israel – und in einigen Fällen mit den USA – in kämpferische Auseinandersetzungen zu begeben und es am nächsten Tag erneut zu tun.
Das ist nichts, was wir feiern sollten. Der Nahe Osten ist ein Schmelztiegel permanenter Gewalt, einschließlich der von Ihnen erwähnten riesigen Zahl vertriebener Zivilisten. Das ist für die Familien mit sehr viel Leid verbunden.

Verlogenheit des Westens: Es besteht Gefahr eines größeren Krieges

Ich habe das im Libanon, in Palästina, Jordanien und Syrien miterlebt, wenn ich den Flüchtlingen begegnete, die in Kriegen herumirrten. Das war im Irak der Fall. Es geschah in Kuwait, im Jemen und überall sonst. Und wir wollen nicht, dass sich so etwas wiederholt.
Aber das ist die unvermeidliche Konsequenz, wenn man zulässt, dass sich der arabisch-israelische Konflikt hundert Jahre lang ausweitet, ein Jahrhundert lang, mit direkter, ausdrücklicher, permanenter und expandierender US-amerikanischer und britischer Hilfe sowie Waffen und politischem Schutz in der UNO.
Wenn man das tut, ist das oben Beschriebene die Folge. Es ist also unaufrichtig, ziemlich infantil und lächerlich, wenn US- oder britische Regierungsvertreter sagen: "Es besteht die Gefahr eines Krieges."
Natürlich besteht die Gefahr eines größeren Krieges. Denn ihre Politik in Verbindung mit der israelischen Politik und einiger Araber hat uns an diesen Punkt gebracht, sodass sie, wenn sie einen künftigen Krieg verhindern wollen, die zugrunde liegenden Bedingungen angehen müssen.
Warum gibt es im Moment keinen großen Krieg in Afghanistan oder Vietnam? Das liegt daran, dass die zugrunde liegenden Bedingungen beseitigt wurden, und deshalb gibt es dort eine Art Normalzustand.

Die Milizen sind ein zentraler Faktor in der Region

Sie bezeichnen die Hisbollah als einen nicht-staatlichen Akteur. Aber wie sieht es mit der Beziehung zwischen der Hisbollah und der libanesischen Zentralregierung aus?
Rami Khouri: Die Hisbollah ist militärisch stärker als die libanesische Regierung. Daran besteht kein Zweifel. Aber sie erkennen an, dass sie Teil der libanesischen Regierung sind.
Sie sind im Parlament vertreten. Sie haben Minister in der Regierung, mal mehr, mal weniger. Sie sind keine von außen kommende politische Kraft.
Aber sie expandierten und wurden stark, weil die libanesische Regierung in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren nicht in der Lage war, den Süden des Libanon zu schützen, als dieser zunehmend von Israel bedroht wurde. Als sich die palästinensische Guerilla irgendwann im Südlibanon niederließ, führte die zu israelischen Repressalien.
Da die libanesische Regierung nicht in der Lage war, den Libanon zu schützen, entwickelte sich die Hisbollah organisch zu der militärischen Kraft, die sowohl den Süden als auch den gesamten Libanon schützt, wobei sie mit anderen im Lande zusammenarbeitet. Es gibt andere kleinere linke und andere Kräfte, die mit ihr zusammenarbeiten.

Israel-Palästina-Konflikt muss gelöst werden

Sie haben eine sehr instabile Beziehung zur Regierung, weil sie so mächtig sind. Sie können einen Krieg auslösen, wie es schon einmal zwischen Israel und der Hisbollah geschehen ist, und die libanesische Regierung kann nichts dagegen tun.
Und das libanesische Volk leidet, weil der Flughafen bombardiert wird, die Stromversorgung ausfällt. Im Krieg passieren schreckliche Dinge.
Die libanesische Regierung versucht ständig, mit der Hisbollah eine Einigung über eine Koexistenz zu erzielen, aber das ist nahezu unmöglich, solange der zugrunde liegende arabisch-israelische, palästinensisch-israelische Konflikt nicht gelöst ist.
Sobald dieser Konflikt gelöst ist, braucht die Hisbollah nicht mehr all diese Waffen, um den Libanon vor israelischen Angriffen zu schützen, denn die Hisbollah wird nicht versuchen, Israel zu zerstören. Es ist unbestreitbar, dass diese Gruppen Israel kritisch gegenüberstehen, man redet abfällig über die israelische Führung und spricht Drohungen aus.

Hisbollah würde Friedenslösung akzeptieren

Aber sie verhandeln auch mit Israel, tauschen Gefangene aus. Sie haben insgesamt deutlich gemacht: Wenn die Palästinenser ein Abkommen mit Israel erreichen, das für beide Seiten fair ist und die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung es unterstützt, werden sie sich dem anschließen. Daran gibt es keinen Zweifel.
Wir müssen also unseren Blick immer wieder von den schrecklichen, furchtbaren Dingen abwenden, die jetzt passieren, oder von der Möglichkeit, dass noch Schlimmeres passiert, und uns auf die zentralen, entscheidenden Fragen in dieser Region besinnen.
Die eine betrifft die permanente ausländische Militärintervention seit Napoleon. Die militärischen Einmischungen von außen weiten sich sogar aus, wie wir jetzt sehen, insbesondere durch die USA, Russland, den Iran, die Türkei, Großbritannien und andere.
Die andere Frage beinhaltet den arabisch-israelischen Konflikt. Das sind die beiden wichtigsten Ursachen für die regionalen Spannungen, Kriege und Instabilitäten. Diese müssen angegangen werden.
Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum englischen Original [2]. Übersetzung: David Goeßmann [3].

Redaktionelle Anmerkung: In der Teaser-Unterzeile hieß es: "Wie reagieren arabischen Staaten wie Iran und nicht-staatliche Akteure?". Die Formulierung ist korrigiert worden in: "Wie reagieren arabischen Staaten, der Iran und nicht-staatliche Akteure?"


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9657313

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.aljazeera.com/opinions/2024/2/25/watching-the-watchdogs-biden-us-media-and-arab-american-political-power
[2] https://www.democracynow.org/2024/3/13/lebanon_israel
[3] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html