Er lebe hoch, der tote Lumpenprolet!
Bild: manfredrichter, Pixabay
Linke feiern postum "Deutschlands bekanntesten Langzeitarbeitslosen". Das zeigt ihren Bankrott – politisch und menschlich. Denn Leben und Tod von Arno Dübel waren tragisch.
Deutschlands bekanntester Langzeitarbeitsloser, Arno Dübel, ist gerade einmal 67 Jahre alt geworden [1]. Als wäre das für ihn nicht schon doof genug, bekam er in den vergangenen Tagen auch noch die Nachrufe allerlei Linker hinterhergeworfen. Sie hatten denselben Grundtenor: Arbeit ist irgendwie Mist. Gut, dass wenigstens einer von uns den Mut aufgebracht hat, sie konsequent zu verweigern!
Man feierte die freiwillige Selbstzerstörung eines Menschen von links ab – der Grünen-Wähler im Boomer-Alter war so begeistert wie der antiautoritäre Business-Punk von nebenan; der sozialmedial engagierte Ex-Trotzkist so angetan wie der sich dialektische Feuilletonist der linken Tageszeitung –, und schusterte sich Dübel gar als Vorbild für die zwar bedauernswerte, aber letztlich verständliche, stille Rebellion von Proletariern zurecht.
Und das nur, weil Dübel (angeblich) den, wie es immer so blöd heißt, "Hass" der Kapitalstaatsanhänger und sonstiger braver Bürger auf sich zu ziehen vermochte.
Das stellt aber leider nur die nahezu ebenso falsche Gegenposition zur neoliberalen Selbstoptimierung dar.
Denn Leute wie DĂĽbel treffen sich in ihrer Art der letztlich destruktiven "Selbstoptimierung" als in Talkshows vorzeigbarer Vollzeit-Hartzler mit den besserverdienenden (und ebenso vom Kapitalismus verhetzten) Selbstoptimierern, die sich nicht mit Alkohol, sondern mit Edeldrogen kaputtmachen.
Es geht um die Banalität des Pöbels: Viele Deutsche fanden Arno Dübel wohl vor allem deshalb sympathisch, weil sie insgeheim wissen, dass Leute wie er systemnotwendig sind.
Und bevor sie die kapitalistischen Grundlagen des Systems infrage stellen, ergötzen sie sich lieber an seinem als Nonkonformität und Widerständigkeit missverstandenem, aber auch freimütig und harmlos daherkommenden Elend – ohne dabei die Notwendigkeit der ständigen Erzeugung von Pöbel anzuzweifeln, in welchem nach Hegel "das Böse" entsteht, "dass er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht [2]".
Auch quer durch die Intellektuellenszene – und die Linken, um die es hier geht, gelten nun mal, es hilft nichts, nahezu ausnahmslos als Intellektuelle – dürften Existenzen wie Dübels für stete Erleichterung gesorgt haben: Zunächst einmal steigert es das eigene Selbstbewusstsein, dass man um Menschen weiß, die es zu noch weniger im Leben gebracht haben.
Und wie ein Grundbestand an Obdachlosen ein wichtiges Element des bürgerlichen Vernichtungskonkurrenzsystems darstellt, in dem jeder Bettler noch den Arbeitslosen als Mahnung dient, dass auch seine staatlich alimentierte Mietwohnung keinesfalls sicher ist und diese ihm nur gewährt wird, solange er nicht frech wird, gibt der Einzelfall des als frech aufgefassten Arbeitslosen die Versicherung für die prekär und anderweitig Beschäftigten ab, dass ihnen zumindest von dieser Seite her keine Konkurrenz droht.
Der Job des Medienintellektuellen ist umso gemütlicher, je weniger das auf das soziale Abstellgleis gestellte Mitglied der Arbeiterklasse kämpfen kann [3], um sich in seine gesellschaftliche Wirkungslosigkeit und Isolation einzufügen.
Der Verlierer als Held der Linken
Eine gewisse Gewohnheit hat man unter Linken bereits, die Konkurrenzverlierer zu sanften Helden eines imaginierten Widerstands gegen die Unzumutbarkeiten des Kapitals umzuinterpretieren, freilich mit dem gerne hingenommenen Nebeneffekt, dass der arbeitslose Pöbel auch weiterhin Ruhe gibt und nicht aufbegehrt.
Solange die Verlierer nicht allzu aufmüpfig werden und den liberalen Konsens in Frage stellen – wie das etwa Gelbwesten-Demonstranten, Aufrüstungskritiker oder sogenannte Hasstrolle im Internet tun –, werden sie gemocht.
Hierin, wie auch in der Verachtung der Arbeit, trifft sich die linke Romantik mit der bürgerlichen Romantik: Dass die Arbeit den Menschen erst zum Zivilisierten macht, hat nicht Elon Musk oder sonst ein Arno Dübel für Reiche gesagt, sondern Friedrich Engels. Und sicher hatte auch Arno Dübel in dieser auf Arbeitszwang beruhenden Gesellschaft auf seine Weise tagtäglich zu "arbeiten", freilich ohne Lohn dafür zu bekommen.
Ein Großteil der auch aus bürgerlich-liberalen Kreisen stammenden, ehrend gemeinten Nachrufe auf Dübel dürften ihre Ursache in der Vorstellung von einem romantisierten Arbeitslosenleben haben, in denen die Gruppe der Arbeitslosen lediglich, wie Christian Baron es in seinem Buch "Proleten, Pöbel, Parasiten" formulierte, "eine abstrakte Referenzgruppe" darstelle, von deren Lebensrealität vor allem die akademische Linke keinen blassen Schimmer habe.
Dem Marxismus war jedenfalls von Beginn an klar, dass Arbeitslose – bei Marx: Die "industrielle Reservearmee" – im Sinne des Arbeitsmarktprinzips eine in ihrem Gesamtwert nicht zu unterschätzende "Arbeit" leistet – wie etwa die, als ideologische Begründung für ständige Lohndrückerei zu dienen.
Forderten Marxisten früher noch das Recht auf eine den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen gemäße Arbeit für alle, begnügen sich ihre heutigen Karikaturen mit der Verehrung einzelner Reservearmisten des Arbeitsmarktes.
Diese haben, um diesem heute gerne angebrachten Vorurteil entgegenzutreten – auch wenn sie offiziell als "Unbrauchbare", Nicht-mal-mehr-Ausgebeutete oder "Surplus-Bevölkerung" gelten mögen – von ihrer objektiven Funktion nichts eingebüßt.
Sie müssten, wenn man auch nur den Hauch eines materialistischen Verständnisses der bestehenden gesellschaftlichen Zustände hätte, sehr wohl als – sogar eine der brutalsten – Formen von Ausbeutungsopfern anerkannt werden.
Denn nur, weil sich der Arbeitslose, der sich, notwendig krank werdend, nur noch als halbmobiles Staatsinventar zum Zwecke der Konsum- und Profitsteigerung eignet, werden in seiner Reduktion auf Konsum und damit allgemeine Passivität (oder, im besten Falle, Pseudoaktivität, also gesellschaftlich irrelevantes, privates Herumwerkeln) seine menschlichen Qualitäten trotzdem ausgebeutet.
Man muss sich also den Arbeitslosen als Ausgebeuteten vorstellen, wenn man es mit den Kategorien des Klassenkampfs halten will, denn der Entzug von sozial wirksamer Tätigkeit ist nicht weniger menschenfeindlich als der Zwang zu ihr.
Der diesen Vorstellungen entsprechende Vorzeigearbeitslose Arno DĂĽbel, der dem "sanften Despotismus" (Alexis de Tocqueville) des Staates mit der ebenso sanften Rebellion des nur noch halben StaatsbĂĽrgers begegnet, entspricht den Erwartungen an den StaatsbĂĽrger in dieser Form des Despotismus und widersteht ihr mitnichten.
Warum Arno Dübel ein besseres Leben verdient hätte
Der dialektische Materialismus sollte nicht hinter dieser Erkenntnis zurückfallen, nur weil es einige Marx'sche Sansculottisten immer wieder in den Fingern juckt, ihren mit Neid behafteten Fremdstolz auf irgendwelche von der Hartz-Life-Propaganda geförderte Verelendete zu richten.
Man sollte um Arno Dübel trauern, weil er ein besseres, gehaltvolleres, aktiveres, schöneres Leben hätte haben können als das des schon mittags betrunkenen Sozialwohnungsinsassen vor dem Trash-TV-Programm.
Ein Leben, das etwa der Sozialismus herstellen könnte, dessen selbsternannte Vertreter sich aber heute über die Opfer des Kapitalismus lustig machen, indem sie dessen Symptome zum Widerstand gegen ihn schönlügen.
Marxisten taten immer gut daran, im Sinne der Klassentheorie das Lumpenproletariat auch als solches zu bezeichnen. Aber jene kulturkritischen Sansculottisten, die sich für die besseren Marxisten halten, sind längst identitätspolitisch und zudem tonangebend geworden: Für sie gelten die bildzeitungskonform zusammengeschusterten Stereotyp-Arbeitslosen – zumindest, solange sie sich nicht in ihrer Nachbarschaft, sondern in den Medien aufhalten – als Helden einer längst entmarxten Arbeitswertlehre.
Und schwerkranke sowie obdachlose Alkoholiker, früher "Penner" genannt, geraten ihnen im besten Sozialpädagogenjargon nun zu "Wohnungslosen", damit ihr Elend besser verharmlost werden kann. In ihrer Sprache pennt der aufs Pennen reduzierte Mensch nicht mehr, er wohnungslost.
Zwar sind der entscheidende Ton und die Manier, womit man sich das Ansehen eines marxistischen Geistes zu geben denkt, in dem Kreise dieser linken Kritik nichts weniger als neu; aber auch die Rückfälle einzelner Menschen in ein roheres Zeitalter, in welchem der schnöde Mammon nichts und die Gutwilligkeit des Typs alles galt, sind zu bemerken.
Arno DĂĽbel hat die wĂĽrdigend gemeinten Nachrufe modernster Arbeitsmarkt-MaschinenstĂĽrmer nicht verdient. Diese entwĂĽrdigen ihn vielmehr, indem sie ihn nur als Maskottchen fĂĽr die Darstellung ihrer wertkritisch camouflierten Arbeitsverachtung ernst nehmen. Und indem sie gerade jene Eigenschaften an ihm, die fremdbestimmt und entfremdet waren, als seine ureigensten Charaktermerkmale darstellen.
Das Ideal solcher Linken scheint zunehmend der staatlicherseits in wahlweise Homeoffice oder Quarantäne untergebrachte Stubenhocker zu sein, der sein Schicksal still erträgt, aber laut im Social-Media-Raum aufbrüllt, wenn am anderen Ende der Welt ein alter, weißer Sack Reis umfällt.
Solche Existenzen gefährden weder die Produktionsverhältnisse noch das Selbstverständnis der herrschenden Klassen sogenannter westlicher Sozialstaaten als Mildtätige.
Selbstverständlich muss die Würde eines Menschen wie Arno Dübel gegen reaktionäre Ressentiments verteidigt werden. Aber ebenso gegen die lebensreformerischen Romantiker der Totalverweigerung, welche sich dann irgendwann eben auch die eigene Würde verweigert.
Zumindest für Linke, die noch ein paar Zentimeter über den Tellerrand des Gegebenen zu blicken gewillt sind, kann sich die Auseinandersetzung mit Wohlstand und Armut, mit Arbeit und Ausbeutung, mit Verweigerung und Teilhabe nicht in der bloßen Verteidigung der seinerseits aus bürgerlich-liberalen Vorstellungen zurechtgeschusterten Projektionen eines – angeblich – glücklich-arbeitslosen Lebens erschöpfen.
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