zurück zum Artikel

Erd-Fieber: Temperaturen der unteren Atmosphäre alarmierend

Karte mit Temperaturanomalien am 13. September 2023 im Vergleich zum Zeitraum 1979 bis 2000. Bild: Climate Reanalyzer / CC BY 4.0

Energie und Klima – kompakt: Studie zeigt, welche planetaren Grenzen bereits überschritten sind. Besonders besorgniserregend: Temperatur-Rekordsprung. Was bedeutet das für die Biosphäre?

Schaut man sich die aktuelle, über den ganzen Planeten gemittelte Lufttemperatur an, so kann einem angst und bange werden. Seit Anfang Juni befindet sie sich nun schon kontinuierlich auf Rekordniveau, das heißt in einem Bereich, der nie zuvor in der jüngeren Geschichte erreicht wurde.

Das ist ziemlich ungewöhnlich, denn natürliche Schwankungen sorgen eigentlich dafür, dass die Werte immer etwas hin und her zittern und selbst in neuen Rekordjahren mal über und mal unter den vorherigen täglichen Tagesrekorden liegen.

Davon kann aber seit vielen Wochen nicht die Rede sein. Nur einmal kurz Mitte August waren die aktuellen Werte der Lufttemperatur, die standardmäßig in zwei Metern Höhe über dem Erdboden gemessen wird, in der Nähe des bisherigen Rekords, der aus dem Jahre 2016 stammte. Sonst immer darüber, und zwar erheblich. Es hat den Anschein, als habe der Zustand des Planeten einen regelrechten Satz gemacht.

Ein Blick auf eine vom Climate Reananlyzer der Universität des US-Bundesstaates Maine zur Verfügung gestellte interaktive Grafik [1], die für jeden Tag seit 1979 die über den ganzen Erdball gemittelte Temperatur wiedergibt, zeigt, wie ungewöhnlich die letzten Monate waren. Der dargestellte Mittelwert (fein gestrichelte Linie) wurde über die Jahre 1979 bis 2000 gebildet, eine Periode, die bereits deutlich wärmer als die vorhergehenden 100 Jahre war, die durch Wetterdaten einigermaßen überblickt werden können.

Auffällig ist, dass die aktuellen Temperaturwerte nicht nur sehr weit, meist um fast ein Grad Celsius, über diesem Mittelwert, sondern auch deutlich über dem sogenannten Konfidenzintervall (Linie mit langen Strichen) liegen. In diesem sollten sich, sofern es sich um normal verteilte Messwerte ohne Trend handelt, 95,45 Prozent aller Messungen liegen. Die starke Abweichung der aktuellen Werte der letzten mehr als drei Monate ist ein sehr starkes Indiz für den Trend, das heißt für die Veränderungen im Klimasystem. (Siehe Wahrscheinlichkeitsverteilung [2] auf Wikipedia.)

Die Daten des Climate Reanalyzer beruhen auf den rund um den Globus mehrmals täglich an tausenden Stationen sowie mit Radiosondenaufstiegen und mit anderen Methoden erhobenen Wetterdaten [3], die für die Vorhersagemodelle aufbereitet (reanalysiert) werden.

Die aktuell besonders hohe Temperatur der unteren Atmosphäre ist nur eines der vielen Alarmzeichen, die inzwischen rot aufleuchten. Forscherinnen und Forscher des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) haben gemeinsam mit Kollegen von anderen Instituten am gestrigen Mittwoch im Fachblatt Science eine neue Studie [4] über die sogenannten planetaren Grenzen veröffentlicht, die sie in sechs von neun Fällen erreicht sehen.

Der übergewichtige Raucher mit Bluthochdruck

Was den Ozonabbau angeht, eine der neun planetaren Grenzen, gebe es Fortschritte. Das in den 1980er-Jahren verabschiedete Montreal Protokoll zum Schutz der Ozonschicht in der höheren Atmosphäre zeige Wirkung. Diese Ozonschicht wird von industriell erzeugten florierten Kohlenwasserstoffen angegriffen, deren Emissionen inzwischen weitgehend zurückgegangen sind.

Beim Eintrag von Plastik und anderen Schadstoffen in die Umwelt sieht es deutlich schlechter aus. Ebenso bei der Entwaldung, der globalen Erwärmung, den Stickstoffkreisläufen, der Verfügbarkeit von Süßwasser und dem Zustand der Biosphäre. Diese planetaren Grenzen sieht der Bericht bereits überschritten. Koautor Mitautor Wolfgang Lucht, der am PIK die Abteilung Erdsystemanalyse leitet, erklärt:

Neben dem Klimawandel ist die Funktionsfähigkeit der Biosphäre die zweite Säule der Stabilität unseres Planeten. Und wie beim Klima destabilisieren wir derzeit auch diese Säule, indem wir zu viel Biomasse entnehmen, zu viele Lebensräume zerstören, zu viele Flächen entwalden usw. Unsere Forschung zeigt, dass in Zukunft beides Hand in Hand gehen muss: die globale Erwärmung begrenzen und eine funktionierende Biosphäre erhalten.

Eine Grenzüberschreitung sei zwar nicht gleichbedeutend mit drastischen, sofort sichtbaren Veränderungen, heißt es beim PIK. Aber sie würde eine kritische Schwelle für erheblich steigende Risiken markieren. Hauptautorin Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen beschreibt das so:

Wir können uns die Erde als einen menschlichen Körper vorstellen und die planetaren Grenzen als eine Form des Blutdrucks. Ein Blutdruck von über 120/80 bedeutet zwar nicht, dass ein sofortiger Herzinfarkt droht, aber er erhöht das Risiko. Deshalb arbeiten wir daran, den Blutdruck zu senken.

Wir sollten es zumindest, aber im Augenblick ähnelt die Klimapolitik der Bundesregierung und die der meisten anderen Industriestaaten eher der des übergewichtigen Rauchers mit zu hohem Blutdruck, der sich weiter von Pommes und Bratwurst ernährt, aber jedes Jahr zu Silvester den Vorsatz fasst, damit nun wirklich endlich aufzuhören. Aber natürlich technologieoffen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9304700

Links in diesem Artikel:
[1] https://climatereanalyzer.org/clim/t2_daily/?dm_id=world
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Normalverteilung
[3] https://community.wmo.int/en/activity-areas/global-observing-system-gos
[4] https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adh2458