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Erdogan, Gülen und der Putsch

Generalstabschef Akar mit Präsident Erdoğan am 22. Juli 2016. Bild: simsek hb/CC BY-SA-2.0

Die EU sieht Gülen nicht als Drahtzieher des Putschversuches. Vor dem Referendum zur Verfassungsreform wird in der Türkei die Jagd auf Gülen-Anhänger intensiviert

In den letzten Jahren fand die Radikalisierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan schrittweise statt. Erst verschärfte er die Rhetorik, dann griff er in Bürgerrechte ein, schuf schließlich einen Polizeistaat und weichte die Gewaltenteilung auf. Am Ende ging alles ganz schnell.

Nach dem gescheiterten Putschversuch vom Sommer 2016 brauchte Erdogan nur noch ein knappes halbes Jahr, um eine angeschlagene Demokratie zu einer lupenreinen Diktatur umzubauen. Und nachdem in der vergangenen Woche seine Partei AKP mit Unterstützung der rechtsnationalistischen MHP alle Punkte der geplanten Verfassungsreform durchs Parlament gepaukt hat, ist nun der Weg für das Referendum frei, das Erdogan uneingeschränkte Macht einräumen soll. Anfang April sollen die türkischen Bürger im In- und Ausland mit ihren Stimmen die Demokratie ganz offiziell abschaffen.

Dabei liegen viele Details zum Anlass dieses Staatsumbaus, also zum Putschversuch, noch immer im Dunkeln. Erdogan beschuldigt den im US-Exil lebenden Geistlichen Fethullah Gülen und dessen Anhänger und führt seither eine gnadenlose Hexenjagd auf jeden, der Gülen tatsächlich oder vermeintlich nahesteht. Nur eines hat er bis heute nicht geliefert: Beweise für die Anschuldigungen. Und das obwohl die AKP vehement behauptet, sie hätte welche. Diese Beweise, so bekräftigen Regierungsquellen mantrahaft, müssten genügen, um eine Auslieferung Gülens zu erwirken. Aber bislang sehen die US-Behörden das anders: Die Türkei habe keine überzeugenden Beweise vorgelegt, man sehe keinen Grund, Gülen auszuliefern.

Nun hofft Ankara auf den neuen US-Präsidenten Donald Trump. Am Tag von dessen Amtseinführung bekräftigte [1] der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim die "hohen Erwartungen" und erneuerte die Aufforderung, Gülen auszuliefern. Ob Trump dem nachkommen wird, ist freilich völlig offen. Bislang deutet nichts darauf hin, dass Washington seine Haltung ändert. Zuletzt hatte die AKP die USA immer wieder heftig für die Unterstützung kurdischer Gruppen in Syrien angegriffen und die NATO in die Nähe von Terrororganisationen gerückt.

EU: Gülen nicht in Putschversuch involviert

Der Haltung der USA zu Gülen schloss sich im Januar auch der Auswärtige Dienst der EU (EUINTCEN) an, wenn auch nur inoffiziell. Laut Die Presse [2] geht ein internes Papier der EU-Behörde davon aus, dass Gülen nichts mit dem Putschversuch zu tun hatte. Demnach sei der Putschversuch von "Gülenisten, Kemalisten, Opportunisten sowie generell Gegnern der Regierungspartei AKP" ausgegangen - eine Theorie, die schon unmittelbar nach der Putschnacht von Beobachtern geäußert worden war.

Schon wenige Tage danach war offensichtlich geworden, dass Säuberungen und Massenverhaftungen nicht als spontane Reaktion kamen, sondern bereits lange zuvor geplant waren. Es gilt als wahrscheinlich, dass die am Putschversuch beteiligten Generäle wussten, dass ihre Namen auf den Verhaftungslisten standen und dem zuvorkommen wollten. Das sieht laut Presse auch die EU so: "Der Umsturzversuch war nur der Auslöser einer Säuberungswelle, die lange im Voraus vorbereitet wurde."

Dementsprechend wurden die Säuberungsaktionen rasch auch auf kurdische Politiker, Aktivisten, auf Journalisten und Schriftsteller und andere AKP-Gegner und Regierungskritiker ausgeweitet. Anstatt die genauen Hintergründe der Putschnacht zu untersuchen und öffentlich zu machen, findet seit Monaten ein Rundumschlag statt. Um echte Aufklärung ist die AKP offensichtlich nicht bemüht.

Stattdessen orientieren sich die Aktionen gegen vermeintliche Gülen-Anhänger an der Nutzung der Messenger-App ByLock, die laut türkischen Behörden von insgesamt 215.000 Personen genutzt worden sein soll. Gegen all diese Personen sollen gerichtliche Untersuchungen laufen. Der Grund: Die App soll von Gülen-Anhängern entwickelt und in der Putschnacht genutzt worden sein. Dass in der Putschnacht aber nachweislich auch WhatsApp und SMS eine Rolle spielten, wird ausgeblendet. Der Hack, mit dem der türkische Geheimdienst MIT zahlreiche ByLock-Nutzer identifizieren konnte, soll laut n-tv allerdings schon vor der Putschnacht stattgefunden [3] haben. Ein weiterer Hinweis darauf, dass dieses Ereignis lediglich als Grund dafür herhalten musste, lange vorbereitete Aktionen umzusetzen.

Gülen eine "globale Bedrohung"?

Die Haltung der EU und der US-Behörden tangiert Erdogan nicht. Im Gegenteil: Bei einem Staatsbesuch in Tansania zum Wochenanfang bezeichnete er die Gülen-Bewegung als "globale Bedrohung" [4], deren offizielle Ziele nur vorgeschoben seien.

Der deutsche Verfassungsschutz hat dazu eine andere Haltung und sieht keinen Anlass, die Bewegung zu beobachten. Auch der Erfurter Theologe Prof. Christoph Bultmann sieht die Vorwürfe Gülen gegenüber als unbegründet an. Gülen stehe "politisch für die Demokratie und den Schutz der Grundrechte und insofern für einen modernen Islam", sagt [5] der Wissenschaftler, der in einem Buch zum Thema dem Nachrichtenmagazin Spiegel in dem Zusammenhang gar eine Zitatfälschung vorwarf, mit der ein verzerrtes oder gar falsches Bild von Gülen geliefert worden sei. Gülen predige "ein friedliches Zusammenleben der Religionen als unverzichtbare Bedingung für religiöse Glaubwürdigkeit", sagt Bultmann weiter.

Fakt ist, dass die Gülen-Bewegung, oder zumindest Teile von ihr, die AKP und Erdogan eine Zeitlang tatkräftig unterstützt haben, wie Günter Seufert in einer Analyse für die Stiftung Wissenschaft und Politik darlegt [6]: Demnach war sie sehr aktiv in die Ergenekon-Prozesse eingebunden, mit denen eine Verschwörung des Militärs gegen die AKP-Regierung zerschlagen wurde, die aber später in eine Hexenjagd auf Regierungsgegner unter Nutzung fingierter Beweise ausartete. Auch Erdogans Verfassungsreferendum im Jahr 2010 unterstützte Gülen in einem öffentlichen Aufruf. Die Gülen-Bewegung wirkte aktiv an der Entmachtung des türkischen Militärs mit, da sie ihm, wie auch andere religiöse Bewegungen, ein Dorn im Auge war.

Ercan Karakoyun, Sprecher der Hizmet (wie sich die Gülen-Anhänger selbst nennen) in Deutschland, hat Anfang 2017 unter dem Titel "Die Gülen-Bewegung. Was sie ist, was sie will" eine Selbstdarstellung in Buchform vorgelegt. Darin geht er recht offen auf diese Kritikpunkte ein: "Man muss sich selbstkritisch fragen, wie viel Mitschuld Hizmet am Aufstieg des Autokraten Erdogan trägt. (…) Als die AKP 2002 an die Macht kam und aus Mangel an eigenen loyalen und qualifizierten Leuten händeringend nach Personal für Staat und Verwaltung suchte, hatten die Menschen aus der Hizmet-Bewegung gern die offenen Posten und Ämter übernommen."

Darin sieht Karakoyun einen der Gründe für die mangelnde Solidarität, jetzt, da die Hizmet-Anhänger nicht nur in der Türkei, sondern durch Imame der DITIB auch in Deutschland verfolgt und bedroht werden. Die Zusammenarbeit mit der AKP bezeichnet Karakoyun aus heutiger Sicht als "Tiefpunkt".

Wichtig dabei ist: Wenn Erdogan von einer "Unterwanderung" des türkischen Staates durch Gülen-Anhänger spricht, dann ignoriert er wohlweislich, dass es die AKP selbst war, die diese Leute in die entsprechenden Posten gehoben hat. Zugleich lässt sich nachvollziehen, dass der Bruch zur AKP mit deren politischer Radikalisierung einherging. Bereits 2013 hatte Erdogan begonnen, Gülen-Anhänger aus dem Staatsdienst zu entfernen. Das macht die heutige Stilisierung zur Terrororganisation umso unglaubwürdiger.

In den Schriften Gülens, die zum Teil auch auf Deutsch vorliegen, gibt es durchaus viel Kritikwürdiges. Die Bewegung ist konservativ-islamisch und bestreitet das auch nicht. Sie geht aber zunehmend offen mit Kritik um und ist diskussionsbereit - ganz im Gegensatz zur AKP und ihren Anhängern. Die Gülen-Schulen in Deutschland sind staatlich anerkannt und unterliegen bis hin zu den Lehrplänen denselben Regeln wie staatliche Schulen; die Dialog-Vereine bekennen sich inzwischen offen zu Gülen und unterliegen dem deutschen Vereinsrecht. Durch Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen stehen sie jedem offen, der Interesse hat.

Diese Offenheit hat seit den Vorwürfen nach dem Putschversuch deutlich zugenommen, das Bemühen, Vorbehalte der Gruppe gegenüber abzubauen, ist sichtlich gestiegen. Zweifellos gibt es Positionen der Gülen-Anhänger, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen sollte. Anzeichen dafür, dass es sich um eine bedrohliche Terrororganisation handelt, gibt es aber, vor allen in Deutschland, nicht.

Vertrauen ins Militär nimmt ab

Welche Auswirkungen aber hat die Jagd auf Gülen-Anhänger innerhalb der Türkei? Im Zuge dieser Säuberungen wurden weit über 100.000 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert, fast 45.000 wurden verhaftet, zahlreiche Unternehmen enteignet, ein großer Teil davon unter der Begründung der Nähe zu Gülen.

Vor allem innerhalb des Militärs wurden massive Säuberungen durchgeführt, was letztlich auch dem Ansehen der Armee in der türkischen Bevölkerung Schaden zugefügt hat. Nur noch rund 47 Prozent der Türken haben einer aktuellen Umfrage der Kadir Has Universität zufolge Vertrauen in die Streitkräfte [7]. Im Vorjahr lag der Wert noch bei rund 65 Prozent.

Dieselbe Umfrage zeigt, wie sehr das tägliche Propagandafeuerwerk der Regierung fruchtet. Vor allem die Bildungsfeindlichkeit steigt. Nur noch 24 Prozent der Türken haben Vertrauen in die Universitäten - das ist auch vor dem Hintergrund interessant, dass die Gülen-Bewegung in dem bildungsfeindlichen Land stets Bildung und Ausbildung propagiert hat. 2016 wurden tausende Universitäts-Mitarbeiter verhaftet oder suspendiert, darunter sämtliche Rektoren, deren Nachfolger nun von Erdogan persönlich ernannt werden. Nur noch 26 Prozent vertrauen NGOs, den Medien trauen gar nur noch rund 15 Prozent der Türken, und auch politische Parteien haben mit 21 Prozent Zuspruch einen Tiefpunkt erreicht.

Die Umfrage zeichnet das Bild eines Landes, das jegliches Vertrauen in demokratische und zivilgesellschaftliche Institutionen verloren hat, während zugleich die Popularität von Staatspräsident Erdogan wächst - auf derzeit 48 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Bevölkerung der Verfassungsreform im April zustimmen wird, ist folglich höher als angenommen. Man entscheidet sich gegen demokratischen Pluralismus und für einen Alleinherrscher, der brutal abweichende Positionen unterdrückt. Kurz: Die Türkei ist auf dem besten Weg, sich in einen autokratischen Musterstaat nach Vorbild anderer Staaten im Nahen Osten zu verwandeln.

Während die türkische Armee in Syrien gegen Kurden und IS kämpft, vergeht kaum eine Woche ohne große Verhaftungswellen beim Militär. Erst vergangene Woche wurden mehrere hundert Armeeangehörige wegen vermeintlicher Gülen-Verbindungen festgenommen [8]. Dennoch besteht die Regierung darauf, dass die Handlungsfähigkeit der Armee dadurch nicht beeinträchtigt sei, was wohl auch der Einsatz in Syrien demonstrieren soll. Ob das aber stimmt, ist fraglich. Denn zugleich ist man händeringend auf der Suche nach neuen Rekruten, von den Umstrukturierungen der Führungsebene seit dem Putschversuch gar nicht zu sprechen.


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https://www.heise.de/-3606530

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-hopes-for-gulen-extradition-more-support-in-terror-fight-from-trump-administration-yildirim.aspx?pageID=238&nID=108776&NewsCatID=510
[2] http://diepresse.com/home/ausland/eu/5155665/Tuerkei_Guelen-spielte-keine-Rolle-beim-Putschversuch
[3] http://www.n-tv.de/politik/Ankara-laesst-Bylock-Nutzer-festnehmen-article18684616.html
[4] http://www.hurriyetdailynews.com/gulenist-network-a-global-threat-erdogan-says-in-tanzania-.aspx?pageID=238&nID=108892&NewsCatID=510
[5] https://aktuell.uni-erfurt.de/2016/07/21/4113/
[6] https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S23_srt.pdf
[7] http://www.hurriyetdailynews.com/public-trust-in-military-plunges-after-turkeys-failed-coup-poll.aspx?pageID=238&nID=108704&NewsCatID=341
[8] http://www.hurriyetdailynews.com/police-apprehend-95-military-personnel-over-links-to-coup-attempt.aspx?pageID=238&nID=108714&NewsCatID=509