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Erdogan - Pressekontrollwahn

Das fragwürdige Verständnis von (medialer) Meinungsfreiheit im Sultanat

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist schnell verschnupft. Nein, nicht die Anfälligkeit für die gemeine Influenza plagt den Mann, sondern die Vorstellung, dass in seinem "Tayyipistan" (Deniz Yücel, Die Welt) und über sein Tayyipistan nur geschrieben und gesagt werden darf, was ihm beliebt. Wer sich nicht daran hält, wird mit Prozessen überzogen oder bekommt zumindest den Unmut Erdogans zu spüren, dessen Argusaugen offensichtlich überall sind, mindestens aber bis Almanya reichen.

Den Unmut spüren Journalisten, wie z.B. Can Dündar und Erdem Gül, Chefredakteur und Büroleiter des Hauptstadtbüros der links-liberalen Tageszeitung Cumhüriyet, die sich wegen Spionage vor einem Gericht verantworten müssen, dazu die rechts-konservative Tageszeitung Zaman, deren Redaktionsräume die türkische Regierung Anfang März 2016 stürmen ließ, und die mittels Gerichten unter Staatsaufsicht gestellt wurde.

Dazu knapp 2.000 Personen, Journalisten, Blogger, aber auch Jugendliche, gegen die ein Verfahren wegen "Präsidentenbeleidigung" eingeleitet wurde, ausländische Journalistinnen und Journalisten, denen ein Presseausweis verweigert wurde, was einem Berufsverbot gleichkommt, europäische Diplomaten, die den Cumhüriyet-Prozess beobachten wollten, speziell der britische Generalkonsul Leigh Turner und der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, und last, but sicher not least, das NDR-Satire-Magazin extra3.

Das Leben ist die beste Satire

Kein Witz: Erdogan bestellte in der vergangenen Woche den deutschen Botschafter Erdmann ein, um sich bei ihm über einen etwa zwei-minütigen Beitrag [3] des Satire-Magazins vom 17.3.2016 zum Thema "Pressefreiheit und Menschenrechte in der Türkei" zu beschweren. Nach der Melodie von Nenas "Irgendwie, irgendwo, irgendwann" wurde sich in "unser Song für Istanbul" über den in Sachen Pressefreiheit und Menschenrechte diplomatisch ausgedrückt verhaltenskreativen "Erdowie, Erdowo, Erdogan" belustigt.

"Politiker am Rande des Nervenzusammenbruchs" macht extra 3 Werbung für den satirischen Wochen-Rückblick. Zumindest bei Erdogan scheint der Nervenkaschper nicht weit. Die Vorladung Erdmann war kein Scherz, keine Einladung zu einem netten Plausch, sondern eine hochernste Angelegenheit, die nur noch durch die Ausweisung Erdmanns aus der Türkei gesteigert werden könnte.

Medienberichten zufolge beschwerte sich Erdogan nicht nur über den Spot, sondern forderte Erdmann auf, Sorge dafür zu tragen, dass dieser künftig nicht mehr ausgestrahlt werde.

Ein Streisand-Effekt

Das klappt allerdings nicht so ganz. Landauf, landab spielen Radiostationen mittlerweile den Song, der ursprünglich ja tatsächlich nur für eine einmalige Ausstrahlung gedacht war. Erdogan hat also genau das Gegenteil dessen erreicht, was er wollte: einen, diplomatisch ausgedrückt, verhaltenskreativen Streisand-Effekt.

Extra3-Redaktionsleiter Andreas Lange sagte in einem NDR-Interview, die Redaktion sei durch Hörerzuschriften in sozialen Netzwerken darauf aufmerksam geworden und habe es nicht glauben können. Daraufhin habe das ARD-Hauptstadt-Studio recherchiert und festgestellt, dass es sich um keine Ente, sondern bittere Realität handele. Er sei traurig ob des Verständnisses der Meinungsfreiheit in der Türkei, so Lange.

Als Reaktion hat extra 3 Erdogan am vergangenen Dienstagmorgen bei der Redaktionssitzung zum "Mitarbeiter des Monats" gekürt und beschlossen, den Song mit türkischen und englischen Untertiteln zu versehen. Der NDR Chefredakteur Fernsehen, Andreas Cichowicz, und der "Deutsche Journalisten-Verband (DJV), kritisierten [4] die Einmischung Erdogans. Der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen bescheinigte Erdogan in einer mündlichen Stellungnahme im NDR- Radio fehlenden Sinn für Humor.

Zensur und diplomatische Verwicklungen

Über Humor lässt sich streiten, über Zensur nicht. Erdogan demonstriert nicht seine Humorlosigkeit, sondern offenbart seine Vorstellung von Pressefreiheit, die darin besteht, der Regierung genehme Berichte zu drucken und zu senden. Das gilt neuerdings anscheinend nicht nur für die türkische Presse, sondern auch für die deutsche.

Vermutlich fühlt sich Sultan Erdogan durch den Flüchtlings-Deal mit der EU legitimiert, nicht nur in der Türkei, sondern in ganz Europa in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit für Ordnung zu sorgen. Der deutsche Botschafter Erdmann und sein britischer Kollege Turner haben am vergangenen Freitag zudem Erdogans Zorn auf sich gezogen, weil sie sich als Beobachter bei dem Prozess gegen Dündar und Gül eingefunden hatten. Für den Sultan von Tayyipistan stellt das eine eklatante Protokollverletzung und Kompetenzüberschreitung dar.

In dem Prozess müssen sich Dündar und Gül wegen Spionage, Preisgabe von Staatsgeheimnissen, Vorbereitung eines Staatsstreichs und der Beihilfe zur Bildung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Beiden droht eine Haftstrafe von jeweils bis zu 15 Jahren.

Waffenlieferungen für den IS?!

Am 19. Januar 2014 ereignet sich ein Vorfall, der Stoff für einen international erfolgreichen Hollywood-Agententhriller hergeben würde, hierzulande diplomatisch ausgedrückt "seltsam anmutet", in der Türkei aber keine Besonderheit darstellt: Der türkische Staatsanwalt Aziz Takci ließ die Gendarmerie in der türkischen Provinz Adana drei Lastwagen auf dem Weg nach Syrien stoppen. Dieser LKW-Konvoi wurde begleitet von Mitarbeitern des Geheimdienstes MIT in einem Audi-PKW.

Die damalige Regierung, der Erdogan als Premierminister vorstand, erließ umgehend Nachrichtensperre. Zwar gab es Gerüchte, dass es sich bei der Lieferung um eine Waffenlieferung für al-Qaida gehandelt habe, aber es wurde nur verhalten darüber berichtet. Letztendlich ein Fall von vielen, bei denen die Unterstützung von islamischen Fundamentalisten durch die Türkei vermutet wurde. Ca. 1 Jahr später veröffentlichte eine Hackergruppe ein geheimes Papier, das Protokoll der Gendarmerie, das den Stempel "Gizli" (Geheim) trug. "Das zum Teil handschriftlich verfasste Dokument verstärkt den Verdacht, dass die Regierung Extremisten unterstützte, um damit dem verhassten syrischen Herrscher Baschar al-Assad zu schaden. Demnach war die Fracht für al-Qaida bestimmt, heißt es dort: Waffen, Raketen und Munition. Der Konvoi wurde von Geheimdienstlern in einem Audi begleitet", schrieb [5] der Türkei-Korrespondent des Nachrichtenmagazins Spiegel, Hasnain Kazim, am 17.1.2015.

Glaubt man dem Protokoll, protestierten die MIT-Agenten lautstark gegen die Durchsuchung. Doch weder Staatsanwalt Takci noch die Kontrolleure scherten sich darum, sondern beschlagnahmten die drei Lastwagen und ließen sie in eine nahe gelegene Kaserne fahren. Während 13 Soldaten dort die Ladung durchsuchten, wurden sie von den Geheimdienstlern beschimpft. Unbeirrt suchten sie weiter und öffneten sechs Behälter, in denen sich Raketen und Munition befanden. Das Protokoll zählt den Fund genau auf. Die Kisten seien mit kyrillischen Buchstaben beschriftet gewesen, ein Hinweis auf die russische Herkunft. (…)

Noch während der Durchsuchung tauchte der Gouverneur von Adana auf, Hüseyin Avni Cos. Er wies die Gendarmerie an, die Fahrzeuge unverzüglich weiterfahren zu lassen. "Die Lastwagen fahren auf Anordnung des Premierministers persönlich", erklärte er und überreichte dem Staatsanwalt ein Schreiben vom regionalen MIT-Chef und von ihm selbst. Den Kontrolleuren blieb nichts anderes übrig, als den Konvoi weiterfahren zu lassen. Seither haben Erdogan und sein Nachfolger im Amt des Premierministers wiederholt betont, es habe sich bei der Lieferung um Hilfsgüter für Turkmenen gehandelt. Warum dann ausgerechnet der Geheimdienst den Versand koordinierte, ließen sie bislang unbeantwortet.

Hasnain Kazim [6]

Nicht wirklich verwunderlich, dass Kazim zu den Auslandskorrespondenten gehört, die die Türkei inzwischen verlassen mussten … (Newroz und die Lage der Kurden in der Türkei [7]).

Cumhüriyet bricht Nachrichtensperre

Am 29. Mai 2015 berichtete Cumhüriyet über den Vorfall - und setzte sich damit über die immer noch geltende Nachrichtensperre hinweg. Veröffentlicht wurden Fotos von der Durchsuchung der LKWs im Januar 2014. Das Büro für Terrorismus und organisierte Kriminalität der Staatsanwaltschaft Istanbul gab daraufhin noch am gleichen Tag bekannt, dass es gegen die Zeitung sowie den Chefredakteur Dündar Ermittlungen wegen des Verdachts auf terroristische Aktivitäten aufgenommen habe.

Die zuständige Behörde untersagte umgehend die weitere Veröffentlichung der Nachricht. Zudem stellte Erdogan persönlich Strafanzeige gegen Dündar. Im Oktober 2015 durchsuchte die türkische Staatsanwaltschaft die Büros von Cumhüriyet in Istanbul und Ankara. Am 26. November 2015 wurden Dündar und Gül festgenommen.

Am 25. Februar 2016 erklärte das türkische Verfassungsgericht die Verhängung der Untersuchungshaft für nicht rechtens. Es seien ihre Rechte auf persönliche Freiheit und Sicherheit verletzt worden. Die beiden Journalisten wurden daraufhin am 26. Februar 2016 aus der Untersuchungshaft entlassen.

Die Selbstherrlichkeit des Verfassungsgerichtes gefiel dem Sultan von Tayyipistan überhaupt nicht. Türkischen Medien zufolge denkt er über dessen Verbot nach. Unter großem internationalem Interesse begann am vergangenen Freitag der Prozess gegen Dündar und Gül. Etwa 200 Personen aus dem In- und Ausland hatten sich zu Beobachtung eingefunden. Der Herrscher vom Bosporus, der als Nebenkläger zugelassen wurde, reagierte äußerst ungehalten. Fürderhin wird das Verfahren hinter verschlossenen Türen fortgesetzt werden [8].

Eine der älteste Tageszeitungen der Türkei

Cumhüriyet wurde 1924 gegründet, und fühlt sich dem Kemalismus verbunden, bzw. den kemalistischen Grundsätzen wie Volkssouveränität, Laizismus, einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik sowie einem liberalen Wirtschaftskonzept. Diese Verbundenheit drückt sich schon im Namen aus: Cumhüriyet heißt übersetzt Republik.

Die Zeitung ist kein linkes Kampfblatt, bietet keinen Boulevard-Journalismus, gilt als seriös und intellektuell und fällt eher durch zu viel Text als bunte Bildchen auf. Von 1979 bis 99 kam es acht Mal zu Anschlägen auf Mitarbeiterinnen des Blattes. Sieben Menschen, darunter prominente Film- und Medienschaffende, die z.T. als freie Autorinnen und Autoren für das Blatt gearbeitet hatten, kamen dabei ums Leben. Die Autorin Server Tanilli erlitt schwere Verletzungen und trug eine Querschnittslähmung davon.

Der hierzulande wohl berühmteste Fall ist der Tod des Journalisten Uğur Mumcu, der am 24. Januar 1993 durch eine in seinem Auto installierte Bombe getötet wurde. Mumcu schrieb über innenpolitische Themen, angefangen von Korruption, Waffenschmuggel, Islamismus bis zur Situation der Kurdinnen und Kurden in der Türkei. Vor allem Letzteres - 1993 war die vorläufige Hochzeit des bewaffneten Konflikts zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Guerilla PKK und regierungskritische bis pro-kurdische Berichterstattung in türkischen Medien war nicht eben selbstverständlich - brachte ihm die Sympathie der türkischen Linken sowie der kurdischen Bewegung ein.

Schon während seines Wehrdienstes wurde Mumcu aufgrund eines kritischen Artikels über die türkische Armee wegen Verunglimpfung der Armee angeklagt und zu sieben Jahren Haft verurteilt. Am Tag nach seinem Tod protestierten Zehntausende Menschen in verschiedenen Großstädten der Türkei. Auch in Europa wurde sein Tod zur Kenntnis genommen, und gegen die Ermordung protestiert. Die Täter wurden indes bis heute nicht gefasst.

Mit wem verhandelt die EU da eigentlich?

Nachdem Erdogan mit seinem Verhalten, das eher dem eines trotzigen Kindes denn eines Staatsmannes gleicht, den Ausschluss der Öffentlichkeit beim Prozess gegen Dündar und Gül durchsetzen konnte, ist fraglich, wie sich dieser weiterhin entwickeln wird.

Bislang sieht es so aus, als sei das Gericht eher auf Seiten Erdogans denn auf der der Presse- und Meinungsfreiheit. Eine Verurteilung der beiden Journalisten wäre ein weiterer Schritt in Richtung Feudalherrschaft, die Erdogan ja bereits durch die Parlamentswahlen im Juni 2015 zu erreichen gedachte. Der Wahlerfolg der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) hatte ihm gleich zwei Mal einen Strich durch diese Rechnung gemacht.

Auch wenn die Einbestellung des deutschen Botschafters wegen der extra3-Sendung wie eine Realsatire anmutet, so lässt auch das tief blicken was das Verständnis des türkischen Staatspräsidenten von Presse- und Meinungsfreiheit anbelangt. Es stellt sich erneut die Frage, ob ausgerechnet Sultan Erdogans Tayyipistan der richtige Partner zur Lösung der durch weltweit zunehmende Fluchtbewegungen entstehenden Probleme ist.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://commons.wikimedia.org/wiki/Recep_Tayyip_Erdo%C4%9Fan#/media/File:Erdogan20120326.jpg
[2] http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/cl/deed.en
[3] http://daserste.ndr.de/extra3/sendungen/Song-Erdowie-Erdowo-Erdogan,extra11036.html
[4] https://www.ndr.de/nachrichten/-NDR-Satire-erregt-tuerkische-Regierung-,erdogan182.html
[5] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkischer-geheimdienst-soll-waffen-an-al-qaida-geliefert-haben-a-1013499.html
[6] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkischer-geheimdienst-soll-waffen-an-al-qaida-geliefert-haben-a-1013499.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Newroz-und-die-Lage-der-Kurden-in-der-Tuerkei-3379092.html
[8] http://www.spiegel.de/politik/ausland/can-duendar-und-erdem-guel-prozess-gegen-tuerkische-journalisten-beginnt-a-1084149.html