Erdogan: Vater der Nation
Seite 2: Die Rolle der Medien für die Bindung der deutschen Türken
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In ihrem Buch "Graue Wölfe heulen wieder" stellen die Autoren Fikret Aslan und Kemal Bozay anschaulich dar, wie groß die (emotionale) Anbindung vieler hier lebender türkisch-stämmiger Menschen an ihr Herkunftsland ist. Und wie dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit in Zeiten von Satelliten-Übertragungen über Tausende Kilometer Entfernung wunderbar funktioniert. Und zwar von beiden Seiten.
Erdoğan hat mehrfach unter Beweis gestellt, dass er diese emotionale Nähe vieler türkisch-sprachiger Menschen wunderbar auszunutzen weiß. Z.B. im Wahlkampf. Aber auch, indem er z.B. im Fall der ermordeten Studentin Tuğçe ganz klar Stellung bezog und so den hier lebenden türkisch-stämmigen Menschen ein Stück Geborgenheit vermittelte. Ein Gefühl, das ihnen die weiße, deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht bietet. Schon gar nicht, wenn mal wieder "eine von ihnen" Opfer einer Gewalttat wurde.
Auch in der Nacht der Nächte hat Erdoğan die Seinen im fernen Europa nicht vergessen: "P.S im Moment bekommen alle Bürgerinnen und Bürger eine SMS von Erdoğan auf ihre Mobiltelefone, mit dem Inhalt, daß der Putschversuch niedergeschlagen worden ist", schrieb die Kölner Sozialdemokratin Lale Akgün am Morgen des 16. Juli auf Facebook.
Viele fühlen sich der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht zugehörig
Die Identitätsstiftung passiert natürlich nicht nur durch eine Telefonbotschaft oder eine Kurzmitteilung. Sondern vor allem durch das straff organisierte Netzwerk nationalistischer und islamischer Organisationen, das über Jahrzehnte hinweg geschaffen wurde.
Auch im Vorfeld der Kundgebung wurde dieses Netzwerk mobilisiert. In den Moscheen wurde kräftig die Werbetrommel gerührt und die Botschaften nutzen ihre PR-Abteilungen. Dieses Netzwerk, so der Politikwissenschaftler und Publizist Ismail Küpeli, habe sich etablieren können, weil die deutsche Politik froh war, dass die Türkei "ihre Leute" quasi selbst mit Religion versorgt.
"Deswegen wurde sich viel zu wenig mit den Akteuren in diesem Netzwerk beschäftigt", so Küpeli. Auch er konstatiert ein auffallendes Interesse innerhalb der türkisch-stämmigen Community an der Innenpolitik in der Türkei. "Sehr viel stärker als für die deutsche Innenpolitik."
Seiner Ansicht nach hat das damit zu tun, dass Erdoğan das Image des "Machers" habe. Er biete das Bild des starken Mannes, des Machers, gemäß dem Wahlspruch der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung): "Die anderen reden. Wir machen es!"
Und es sei nicht von der Hand zu weisen, dass die AKP-Regierung tatsächlich bis zum erneuten Ausbruch des Kriegs in Kurdistan im vergangenen Jahr "mit einer Phase von Stabilität und relativem Wohlstand" verbunden sei. Zumindest für einen Teil der Bevölkerung stimme das so. Außerdem würden den anderen Parteien, etwa der sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei) oder der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) nicht zugetraut, eine Alternative zu sein.
Das erklärt allerdings nicht, wieso diejenigen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sich so stark auf Erdoğan beziehen.
"Es geht dabei um Fragen der Wahrnehmung und der Identität. Und da sieht es ebenso aus, dass die Deutschtürken sich als benachteiligt ansehen und ihnen von der Mehrheitsgesellschaft gezeigt wird, dass sie nicht ganz dazu gehören. Wenn so eine positive Identität nicht als Teil der deutschen Gesellschaft herzustellen ist, dann schafft man sich diese positive Identität durch eine (z.T. virtuelle) Zugehörigkeit zur türkischen Nation", erläutert Küpeli gegenüber Telepolis.
Viele Türken in Deutschland sehen für sich keinen Platz, sie fühlen sich isoliert und hinausgedrängt. Die deutschen Parteien haben nach wie vor große Probleme, türkisch-stämmige Menschen in ihre Organisationen zu integrieren. Die Folge davon ist, sich stärker abzukapseln.
Ismail Küpeli
Folgen der Repression
Die derzeitige Repressionswelle in der Türkei hat auch Auswirkungen auf die familiären und freundschaftlichen Beziehungen. In besagter Sendung des Hessischen Rundfunks schilderte Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, dass er über soziale Netzwerke mit Verwandten in der Türkei kommuniziert habe. Einige der Beteiligten seien inzwischen aus dem Diskussionszirkel ausgestiegen. Aus Angst vor Repression. "Weil die Polizei momentan auch auf der Straße junge Leute anhält und deren Handys z.B. kontrolliert. Was sie so auf Facebook posten oder bei Whatsapp schreiben."
Einer der Neffen ist bereits nach Berlin geflüchtet, da er in Istanbul an der Uni attackiert wurde. Da ist er sicher nicht der einzige. Aktuelle Zahlen gibt es nicht. Allerdings wies das Bundesamt für Migration daraufhin, dass die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei steige. Vor allem aus den kurdischen Gebieten sei ein Anstieg zu verzeichnen. Im ersten Halbjahr sei die Zahl dieser Asylanträge beinahe so hoch wie im Jahr 2015 insgesamt gewesen, berichtete der Berliner Tagesspiegel.
Eine Mitarbeiterin der linken Tageszeitung Evrensel (Universal) wurde auf der Straße von einer Gruppe muslimischer Frauen angegriffen, die die hochschwangere Frau übelst beschimpften, weil sie kein Kopftuch trug.
Verschiedene Medien berichteten über den Fund einer grausam zugerichteten männlichen Leiche, bei dem es sich um einen syrischen Homosexuellen handeln soll, der aus seinem Heimatland geflohen war.