Erdogan treibt den Preis hoch
Der türkische Präsident benutzt die Flüchtlingskrise bei seinem Besuch in Brüssel zu brisanten Forderungen
So einen großen Bahnhof hat es in Brüssel schon lange nicht mehr gegeben. Die Präsidenten aller drei großen EU-Institutionen hießen den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Montag in der EU-Kapitale willkommen. Gleich dreimal durfte sich der selbstbewusste Sultan mit vorgefertigten Statements der Presse präsentieren (Fragen waren nicht zugelassen).
Nach Einzelgesprächen mit Jean-Claude Juncker (EU-Kommission), Donald Tusk (Rat) und Martin Schulz (Europaparlament) war Erdogan dann auch noch zu einem exklusiven (und natürlich vertraulichen) Arbeitsessen mit den drei EU-Chefs geladen. Zumindest unter der Juncker-Kommission hat es derlei Ehren für einen einzelnen Staatsmann noch nie gegeben. Erdogan wurde wie ein Herrscher empfangen, die EU-Politiker benahmen sich wie Bittsteller.
Das muss wohl an der Flüchtlingskrise liegen. Seit hunderttausende Syrer, Iraker und andere Migranten von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland und dann über die Balkanroute nach Deutschland gelangt sind, nimmt Erdogans Reich plötzlich eine strategische Schlüsselrolle ein - jedenfalls aus Sicht der EU. Denn ohne oder gar gegen die Türkei, so der neue Brüsseler Konsens, lässt sich die humanitäre und politische Krise in Europa nicht mehr lösen.
Wie Erdogan der EU helfen soll, hatte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" bereits am Vortag des Besuchs in Brüssel durchgestochen. Demnach wünschen sich Juncker und seine Kommission einen "Aktionsplan", mit dem die Seegrenze zu Griechenland abgeriegelt und Flüchtlinge in der Türkei zurückgehalten werden sollen. Erdogan soll dieser Plan mit Milliardenhilfen, einer Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche sowie Erleichterungen bei der Visavergabe schmackhaft gemacht werden.
Auf die Idee, den Plan nicht nur mit Zuckerbrot, sondern auch mit einer Peitsche zu versehen, waren die EU-Politiker offenbar nicht gekommen. Statt mit Druck, der den Nato-Partner Türkei und damit auch die USA verärgern könnte, versuchten sie es mit einer massiven, fast schon unterwürfigen Umarmungstaktik. Doch Erdogan machte zunächst nicht den Eindruck, als lasse er sich durch den großen Bahnhof und das politische Angebot beeindrucken. Im Gegenteil: Er teilte aus - gegen die EU.
Es sei falsch gewesen, "artifizielle Hindernisse" bei den EU-Beitrittsgesprächen aufzubauen. "Die EU-Mitgliedschaft ist weiter eine strategische Wahl für die Türkei", so Erdogan. "Es ist unmöglich, sich die Zukunft Europas ohne die Türkei vorzustellen." So ging es los. Der Horizont für ein mögliches türkisches Entgegenkommen war abgesteckt.
Danach kamen ein paar Lektionen und Seitenhiebe zur Flüchtlingskrise. Die Türkei habe mehr geleistet jedes anderes Land und mehr als 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. "Demgegenüber sind in ganz Europa nur 250.000 Flüchtlinge angekommen", behauptete Erdogan wahrheitswidrig (vielleicht meinte er die EU-Quoten; die betreffen allerdings nur 160.000 Menschen).
"Wir haben niemals Flüchtlinge in andere Länder geschickt", betonte Erdogan dann. Die massive Flucht über das Mittelmeer soll also nichts mit der türkischen Politik zu tun haben - im Gegenteil: "Wir haben die Menschen im Namen der internationalen Gemeinschaft aufgenommen" - was wohl heißen soll: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, ihr (die EU) dagegen nicht.
Erdogans eigentliches Thema war aber - wie so oft in letzter Zeit - der "Kampf gegen den Terrorismus". Es gelte, nicht nur den Islamischen Staat, sondern auch die kurdische Untergrundbewegung PKK zu bekämpfen, so der türkische Staatschef. Die PKK bedrohe die türkische Sicherheit und könne sich nicht damit herausreden, dass sie den Islamischen Staat bekämpft. Die EU dürfe nicht auf die "schwarze Propaganda" hereinfallen, warnte er. Der Kampf gegen den IS dürfe der kurdischen Organisation keinen "Mantel der Legitimität" verleihen.
Um die PKK zu bekämpfen, fordert Erdogan so genannte "Sicherheitszonen" in Syrien. Dies dürfte denn auch - neben der Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche - der zweite Knackpunkt in den Brüsseler Gesprächen sein. Beide Punkte sind heikel. Die Frage des EU-Beitritts ist nämlich eng mit der Frage verknüpft, ob die Türkei als "sicheres Herkunftsland" für Flüchtlinge bezeichnet werden kann, wie dies die EU-Kommission vorgeschlagen hat. Gegen beides gab und gibt es Bedenken im Europaparlament und im Ministerrat.
Und die "Sicherheitszonen" betreffen nicht nur die Minderheitenrechte der Kurden, die die EU bisher zumindest noch verbal verteidigt hat. Sie tangieren auch die Souveränität Syriens und könnten ein erster Schritt zur Teilung des Landes sein. Erdogan fährt also schweres geopolitisches Geschütz auf, offenbar will er den Preis für ein mögliches Entgegenkommen in der Flüchtlingsfrage in die Höhe treiben.
Geld spielt dabei fast schon keine Rolle mehr. Schließlich hat die EU bereits bei ihrem Krisengipfel vor zwei Wochen beschlossen, der Türkei mit einer Milliarde Euro unter die Arme zu greifen. Weitere Millionenbeträge könnten folgen - wenn Erdogan zusichert, den Flüchtlingen in seinem Land besser zu helfen. Die EU möchte den Präsidenten vor allem dazu bewegen, einen "Hotspot" zur Registrierung und Vorsortierung der Hilfsbedürftigen einzurichten.
Doch das hat die türkische Regierung bereits empört zurückgewiesen. Das Ansinnen sei "inakzeptabel und inhuman", empörte sich Ankara. Seitdem hat Brüssel seine Wünsche bereits zurückgeschraubt. Doch bei dem Treffen mit Erdogan sah es nicht so aus, als werde man sich rasch auf eine gemeinsame Linie einigen. Schließlich braucht die EU die Türkei derzeit viel mehr als umgekehrt. Und vor den Wahlen am 1. November dürfte sich Erdogan ohnehin nicht auf feste Zusagen einlassen.