Erdoğan und PKK: Auge um Auge!?

Seite 3: Demokratie im Ausnahmezustand

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gerade erst wurde vom Parlament offiziell die Verlängerung des Ausnahmezustands bestätigt, der als Folge des vereitelten Putschversuchs vom 15. Juli 2016 verhängt worden war. Erdoğan kann sein Tayyipistan also vorerst weiter nach seinen Vorstellungen beherrschen.

Allerdings ist es mit einer Diktatur so eine Sache. Der beste Diktator kann sein Reich nicht allein unter Kontrolle halten. Also stützt er sich aufs Militär, um diejenigen per Gewalt zu bekehren, die seine Herrschaft partout nicht anerkennen wollen. Und er stützt sich auf jene, die mit großem Enthusiasmus alle ans Messer liefern, die sie für gefährlich halten: Oppositionelle, Minderheiten, oder - im Falle der Türkei - Anhänger des früheren Erdoğan-Spezis Fetullah Gülen.

Um jene dingfest zu machen, hatte Erdoğan um aktive Mithilfe gebeten, er ließ eine Telefonnummer freischalten. Der Aufruf zum Denunziantentum ist sehr erfolgreich: Bislang wurden allein in der Hauptstadt Ankara 40.000 Menschen über diese Hotline gemeldet, die angeblich Kontakte zur sog. FETÖ ("Fethullah Terrororganisation") haben.

Der Fernsehjournalist Dieter Sauter, der in Istanbul lebt, konstatiert eine Zunahme der Gewalt auch im Alltag:

Man gewöhnt sich daran, dass überall die Gewalt zunimmt: Da schlägt ein Mann in Istanbul bei einem nichtigen Disput in einem Bus dem Busfahrer mit dem Regenschirm solange auf den Kopf, dass der die Kontrolle über das Fahrzeug verliert: Zehn Menschen werden verletzt. Ein Gast in Istanbul erschlägt einen Restaurantbesitzer, weil er mit der Rechnung nicht einverstanden ist. In der Stadt Bursa wird eine Frau niedergeschlagen, weil sie kurze Hosen trug. In der Stadt Yükesekova streiten sich zwei wegen einer Rechnung. Es kommt zur Schlägerei zwischen zwei Gruppen, die Polizei kommt und schießt: 4 Tote, 2 Verletzte. In der Stadt Urfa attackieren Einwohner Urlauber aus dem Fernen Osten: Was wollt ihr hier, haut ab!"

Dieter Sauter

Insbesondere der Islam ist auf dem Vormarsch. Sauter erwähnt eine an sich banale Veränderung:

Ab sofort dürfen z.B. Frauen bei der Polizei auch Kopftuch tragen - und Männer Bärte. Der Verwaltungsgerichtshof hatte diese Anordnung des türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdo?an bestätigt. Es gab keine Zeitung ohne das Foto: Die erste Polizistin mit Kopftuch. Nur ein Kommentator (Mehmet Yilmaz, 31.08.) gab zu bedenken: Eigentlich könnte das ein Zeichen für Gleichberechtigung sein. Doch er befürchte, bald werde keine Frau mehr Polizistin werden, wenn sie kein Kopftuch trage.

Dieter Sauter

Eine Entwicklung, die auch Schamberger mit Sorge betrachtet:

Die türkische Diyanet-Religionsbehörde hat in einem vom Ministerium veröffentlichten Bericht gefordert, eine an alle Moscheen des Landes angebundene Jugend-Struktur aufzubauen. Dies solle bei der Schaffung einer "idealen Jugend" helfen. Um eine solche Struktur zu schaffen, sollen überall entsprechende Führungskader eingesetzt werden. Was ist mit einer "idealen Jugend" gemeint? Aus welchen Personen rekrutieren sich die Führungskader? Diese Entwicklung ist gruselig.

Kerem Schamberger

Fazit

Alles in allem nimmt die Türkei derzeit einen Kurs, der nur als katastrophal bezeichnet werden kann: Kritische Medien sind ausgeschaltet, zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes wurden willkürlich vom Dienst suspendiert, Schulen, vor allem im Südosten des Landes, können die suspendierten Kolleginnen und Kollegen nicht ersetzen, die Folge sind Unterrichtsausfall oder gar Schulschließungen, Akademikerinnen und Akademiker, die sich für eine friedliche Zukunft engagieren, wurden ebenfalls vom Dienst suspendiert, den Schließungen der Medien folgt die Amtsenthebung demokratisch gewählter Politikerinnen und Politiker, den Massenverhaftungen von Staatsbediensteten die der Journalistinnen und Journalisten, und nun auch oppositioneller Politikerinnen und Politiker.

Die Bevölkerung wird zunehmend religiöser, die islamisch-konservativen Vorstellungen werden zunehmend gewaltsam durchgesetzt, z.B. Angriffe auf Frauen, die sich nicht entsprechend züchtig und devot - oder gar "haram", sprich westlich - bekleiden.

Die Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und der PKK werden zunehmend heftiger, und die Guerilla sieht als einzige Möglichkeit, darauf mit Terror zu antworten. Eine Entwicklung, die nicht nur den fortschrittlichen Menschen in der Türkei, oder fortschrittlichen Menschen mit türkischen oder kurdischen Wurzeln in Europa zu denken geben sollte. Sondern allen fortschrittlichen Menschen. Und vor allem den Regierungen der EU-Länder, die endlich, endlich von den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Gebrauch machen müssen, auf Erdoğan einzuwirken, damit er an den Verhandlungstisch zurückkehrt, und die vielleicht letzte Chance auf Frieden mit der PKK nutzt.