Erdogans Krieg gegen die Bildung
Den Kampf um die Bosporus Universität kann Staatschef Erdogan gewinnen. Die Türkei wird dabei verlieren und um Jahrzehnte zurückgeworfen. Ein Kommentar
"Verstehst du jetzt, warum ich meine Studienzeit überzogen hab? Ich wollte hier einfach nicht weg!" Das sagte ein guter Freund, als ich mit ihm zusammen vor Jahren zum ersten Mal über den Campus der Bosporus Universität schlenderte, und ich verstand ihn sofort. Es ist die schönste Uni, die ich je gesehen habe. Weitläufig und sehr grün, vor allem aber: auf einem Hügel direkt am Bosporus auf der europäischen Seite von Istanbul.
Von den Seminarräumen aus geht der Blick nach Asien, wenn das Wetter gut ist, sitzt man auf Bänken unter Bäumen und der Blick in die Weite macht den Kopf frei. Man kann hier nicht unentspannt und gestresst studieren, völlig unmöglich. Allerdings muss man oft eine Weile auf einen der begehrten Bankplätze warten, denn neben den Studierenden sind die auch bei den Katzen beliebt, die hier überall sind - auch in den Hörsälen.
Wenn ich mich recht erinnere muss das 2013 gewesen sein, als die Gezi-Proteste gerade abgeklungen waren, in der Stadt aber noch eine angespannte Stimmung herrschte und an jeder Ecke Polizei stand. Viele der Studierenden hatten an den Demos teilgenommen. Die Unis, die jungen Gebildeten, sind traditionell nicht im Erdogan-Lager verortet, und das sieht der türkische Staatschef auch deshalb als Problem, weil dort längst nicht nur Kinder der bildungsbürgerlichen Mittel- und Oberschicht ausgebildet werden.
Viele haben es aus der anatolischen Pampa an die Elite-Uni mit Bosporusblick geschafft, und wenn sie einmal diese Luft der Welt, des Internationalen, geschnüffelt haben, sind die meisten für den kleinbürgerlich-autoritären Mief der AKP verloren.
Damals waren immer wieder renommierte Schriftsteller und Intellektuelle an der Uni zu Gast, nicht wenige von ihnen hatten selbst dort studiert. Die von Studierenden organisierten Gesprächsrunden waren meist bis auf den letzten Platz besetzt, zogen sich bisweilen über mehrere Stunden, und oft waren Studentinnen im Publikum in der Mehrheit, Studentinnen moderierten und organisierten die Gespräche. Es war offensichtlich, wie groß der Drang - und auch der Erfolg! - der jungen Frauen darin war, sich in einer männerdominierten Welt durchzusetzen.
Viele der Studierenden hatten bereits Auslandserfahrung oder planten ein Auslandssemester oder gar nach dem Studium, im Ausland zu arbeiten. Heute ist die Situation insofern anders, als dass sich die Gründe geändert haben: Ein Großteil der intellektuellen Elite der Türkei ist längst im Exil, viele im Gefängnis. Der freie Geist, der an der Bosporus Universität und an anderen Unis herrscht, läuft dem System Erdogan diametral entgegen.
Unis und Studierende gegen Allmachtsansprüche
Es waren in den letzten Jahren immer zuerst Universitäten und Studierende, die sich gegen die mit Repressionen durchgepaukten Allmachtsansprüche des Präsidenten gestellt hatten und regelmäßig ins Visier der Staatsmacht gerieten. Es verwundert daher kaum, dass Erdogan alles daransetzt, das akademische Millieu zu entmachten. Seit Jahren schon werden die Rektoren, aber auch unliebsame Dozenten und Verwaltungsmitarbeiter, durch AKP-treue Kader ersetzt.
Und nun ist die Bosporus Universität an der Reihe, die - wie viele Unis - ihren Rektor traditionell aus den eigenen Reihen bestimmt, jemanden auf den Posten setzt, der sich im Unibetrieb bewährt hat, Forschung, Lehre, Studierende und die Strukturen kennt. Das soll nun anders werden.
Zum Jahreswechsel wurde der Finanzwissenschaftler Melih Bulut zum neuen Direktor ernannt. Nicht, weil er als vormaliger Rektor der Halic-Universität Erfahrung mitbringt; nicht, weil er als herausragender Akademiker aufgefallen wäre. Nein, Bulut ist ein Urgestein der AKP, ein treuer Parteisoldat. Es ist allzu offensichtlich, was die Personalie bezweckt: Eine freie, international und oppositionell denkende Uni soll auf Linie gebracht werden.
Von den Studierenden wurde das in den letzten Tagen mit den AKP-Zwangsverwaltern verglichen, die in den kurdisch geprägten Landesteilen gewählte Bürgermeister ersetzen. Sie protestieren gegen die rein machtpolitische Entscheidung, erhalten dafür viel Unterstützung auch von anderen Unis, die bereits dasselbe erleben mussten, einer ihrer Slogans lautet #BoaziciDireniyor - Die Bosporus Universität wehrt sich.
Das erinnert frappierend an die Slogans des Gezi-Aufstands, und das ist natürlich kein Zufall. Auch die Bilder in den sozialen Medien erwecken diese Erinnerungen: Junge Menschen, die auf dem Campus für ihre Freiheit und ihre Rechte, insbesondere für ihr Recht auf eine gute Ausbildung auf internationalem Niveau demonstrieren - und ihnen gegenüber vermummte und bewaffnete Hundertschaften der Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas, Schlagstöcken.
In den frühen Morgenstunden treten martialisch uniformierte Spezialeinheiten die Türen von Studierendenwohnungen und Wohnheimen ein, nehmen Menschen fest, behandeln sie wie Terroristen. Eine Behandlung, die spätestens seit 2016 jeder erfährt, der es wagt, sich in der Öffentlichkeit gegen Regierungsentscheidungen zu stellen.
Exodus kluger Köpfe
Je weiter Erdogans Umfragewerte abstürzen, umso energischer schlägt er um sich. Er scheint entschlossen, jegliche Opposition zu ersticken, jeden Widerspruch niederzuknüppeln. Dass er dabei die Türkei selbst niederknüppelt, scheint für den Präsidenten und seine Anhänger keine Rolle mehr zu spielen.
Dass in dieser Atmosphäre der Repression von der Bosporus Universität ein neuer, mit Gezi vergleichbarer Aufstand ausgehen wird, ist zwar nicht unmöglich, aber doch höchst unwahrscheinlich. Aber es wird mit Sicherheit zu einem erneuten Exodus kluger Köpfe führen, die ihre Arbeit fortan in der EU, den USA und anderswo fortsetzen werden - ebenso wie viele der Studierenden.
Als Erdogan einst antrat, die Türkei zu reformieren und zu demokratisieren, wollte er sie wirtschaftlich zu einem der großen Player der Welt machen. Dieser Zug ist endgültig abgefahren. Denn um das zu erreichen braucht es gute Universitäten, braucht es gebildete und gut ausgebildete Menschen. Doch von denen vergrault er einen nach dem anderen. Erdogans Krieg gegen die Bildung ist vielleicht der schwerste Schlag den der dem Land überhaupt je zugefügt hat.