Erdogans neo-osmanische Träume: Krieg, offen und verdeckt – ein Jahresrückblick
Seite 2: Braindrain und Fluchtbewegungen aus der Türkei
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Diese Entwicklung, weg von demokratischen und westlichen Werten hin zu einem rückwärtsgewandten, autoritären islamistischen Staat, fördert den seit Jahren andauernden Braindrain. Die hohe Inflationsrate, steigende Preise und die andauernde Abwertung der türkischen Lira verstärken die Abwanderung ins Ausland noch.
Das betrifft mittlerweile nicht nur die demokratischen, an westlichen Werten orientierten Bevölkerungsschichten. Auch konservative Unternehmer bauen sich sicherheitshalber ein Standbein in Europa auf, man weiß ja nie, wie lange die AKP-Seilschaften noch halten.
Auch die Zahl der türkischen Geflüchteten hat von Januar bis September 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 254 Prozent zugenommen. Die Zahl der geflüchteten Syrer in Europa übersteigt 2022 mittlerweile die Zahl der geflüchteten Syrer von 2015. Syrische Geflüchtete in der Türkei suchen ebenfalls verstärkt den Weg nach Europa und begeben sich auf die lebensgefährlichen Fluchtrouten übers Mittelmeer oder den Balkan.
Sie fliehen vor dem wachsenden Rassismus in der Türkei und der Zwangsrückführung in die türkisch besetzten Gebiete Nordsyriens. "Der stellvertretende türkische Innenminister Ismail Catakli beziffert die Zahl der bereits zurückgeführten Syrer:innen selbst auf insgesamt über eine halbe Million. Nur: Die türkische Regierung spricht dabei nicht als Abschiebungen, sondern von freiwilliger Rückkehr.
Als Beweis dienen unterschriebene Dokumente, in denen die Betroffenen die angebliche Freiwilligkeit bestätigen. Allerdings entstehen diese nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen oft unter Androhung von Haft und zum Teil massiver Misshandlung. Zwar seien die Zwangsabschiebungen gut belegt. "Aber wo kein Kläger, da kein Richter."
Nordsyrien wird durch den IS und die Türkei destabilisiert
"Fluchtursachen verhindern" ist eine gern gebrauchte Floskel unserer Bundesregierung, wenn es um die Präsentation ihres humanitären oder entwicklungspolitischen Engagements geht. Dass nun aber ausgerechnet der türkische Präsident Erdogan durch seine völkerrechtswidrigen Angriffe auf Nordsyrien und Nordirak für neue Fluchtursachen sorgt, wird von unseren Politikern und den Verantwortlichen im Auswärtigen Amt geflissentlich übersehen.
Dabei bedient sich die türkische Regierung seit Jahren der von ihr geschaffenen sogenannten "Syrischen Nationalen Armee" (SNA), ein Sammelbecken ehemaliger IS-Kämpfer und islamistischer Milizen von z.B. Al Qaida und der "Freien syrischen Armee" (FSA). Die SNA terrorisieren nicht nur die Bevölkerung in den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens.
Sie greifen auch immer wieder die Gebiete der demokratischen Selbstverwaltung an, versorgen mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes IS-Schläferzellen mit Waffen und Logistik und koordinieren gezielte Angriffe auf die Sicherheitskräfte der Selbstverwaltung. Im Januar 2022 gab es etliche Artillerieangriffe aus der Türkei mit zivilen Opfern.
In einer offensichtlich koordinierten Aktion zwischen türkischem Militär, Proxy-Truppen und IS-Schläferzellen kam es zu einem großen Ausbruchsversuch im Gefängnis für IS-Angehörige bei Hasaka, der von Artillerieangriffen aus der Türkei begleitet wurde, um die Kräfte der Syrian Democratic Forces (SDF) abzulenken und zu binden.
Dabei gab es auch etliche Tote unter den SDF und dem Wachpersonal. Im Februar wurde ein Umspannwerk in Dêrik durch einen Luftangriff stark beschädigt, so dass es in Dêrik und Umgebung zu längeren Stromausfällen kam. Im November wurde das gleiche Umspannwerk durch die Bombardierung von Kampfflugzeugen komplett zerstört. Seitdem haben die 60.000 Einwohner der Stadt und die umliegenden Dörfer keinen Strom und kein Wasser mehr, denn die Trinkwasserbrunnen werden mit Strom betrieben.
Die offiziell als Vergeltung für den Terroranschlag auf der Istanbuler Konsummeile Istiklal vom 13. November deklarierten türkischen Angriffe auf Nordsyrien fanden von der Sheba Region im Nordwesten, wo sich mehr als 100.000 Geflüchtete aus dem türkisch besetzten Afrin befinden, entlang der türkischen Mauer bis in den Nordirak statt.
Die angebliche Vergeltung konzentrierte sich auf die zivile Infrastruktur: In Kobane wurden das Covid-Krankenhaus und Schulen durch türkische Kampfbomber zerstört, bei Dêrik wurde das Gaswerk schwer beschädigt, Ölfelder wurden bombardiert, wie auch Getreidesilos.
Inzwischen kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass auch der Terroranschlag in Istanbul einen islamistischen Hintergrund hatte und nicht etwa von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verübt worden war.
Alle kurdischen Organisationen distanzierten sich umgehend von dem Attentat. Es ist auch unmöglich, angesichts der geschlossenen Grenze und der türkischen Mauer unbemerkt vom türkisch besetzten Idlib und Afrin in die Türkei zu gelangen, wie es die Attentäterin angeblich getan hatte. Auch international wurde eine "False-Flag-Operation" der Türkei vermutet.