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Erfolgreiche Ungleichheitsbekämpfung an der Wiege der westlichen Kultur?

Wie in Athen und Sparta angeblich die eskalierende Ungleichheit bekämpft wurde und wie daraus die mächtigsten Staaten der Antike entstanden

Während über die Details sicherlich gestritten werden kann, steht außer Zweifel, dass die Ungleichheit im Westen erheblich zugenommen hat und drängende ökonomische und damit soziale Probleme verursacht. In der Neuzeit steht ein eskalierender Unterschied zwischen Reich und Arm (wie er etwa um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und zur Zeit des Wall Street-Crashs von 1929 verzeichnet wurde) im Zusammenhang mit Zeiten, in denen diese Ungleichgewichte teils krisenhaft und teils sehr langsam und durch zufällige historische Entwicklungen abgebaut wurden.

Gehen wir in der Geschichte jedoch weiter zurück, finden wir im antiken Griechenland mit Athen und Sparta zwei legendäre Beispiele, wo die ausufernde Ungleichheit zu gesellschaftlichen Reformen geführt hat, die die beiden Kleinstaaten später zu den führenden Mächten ihrer Zeit machten.

Nun sind die damaligen Verhältnisse sicherlich nur schwer mit heutigen vergleichbar - allein schon was die formale Rechtlosigkeit der Frauen, die Normalität der Sklaverei oder die Bedeutung der militärischen Tüchtigkeit angeht. Weil in den Sozialwissenschaften aber kein anderes Experimentallabor existiert, als die Geschichte, sei hier einmal ein Blick auf die Anfänge unserer Zivilisation erlaubt. Die ersten derartigen Umverteilungsvorfälle, von denen uns halbwegs detaillierte Schilderungen überliefert sind, sind wohl die Reformen des Spartaners Lykurg, die auf absolute Gleichheit und militärische Stärke abzielten und später vor allem den Hitler-Faschisten als Vorbild dienten. Und jene des Atheners Solon, der die Ungleichheit zwar grundsätzlich bestehen ließ, aber die Schuldenlast verringerte, das Handwerk aufwertete und Athens Weg in die Demokratie ebnete.

Die "absolute Gleichmacherei" des Lykurg in Sparta

Was wir von Lykurg (bzw. Lykurgos) wissen, haben wir weitgehend von Plutarch1 [1], einem Autor des zweiten Nachchristlichen Jahrhunderts, der heute als "Vater der Biografie" gilt. Plutarch weist seine Leser darauf hin, dass man über Lykurg, der im 8. oder 7. vorchristlichen Jahrhundert im griechischen Lakedaimon (bzw. "Lakonien" mit der Hauptstadt Sparta) gelebt und Gesetze gegeben hat, die für mehr als ein halbes Jahrhundert gültig sein sollten, bereits zu seiner Zeit "schlechthin nichts sagen [konnte], was nicht umstritten wäre". Heute hält ihn die historische Forschung sogar eher für eine mythische als für eine historische Person. Trotzdem ist ein Blick auf ihn nicht uninteressant - besonders im Hinblick auf heutige Probleme.

Zu Lykurgs Zeit herrschte Plutarch zufolge "eine furchtbare Ungleichheit", weshalb "viele erwerbs- und besitzlose Menschen dem Staat zur Last fielen und der Reichtum in ganz wenigen Händen zusammengeflossen war". Der Grund für diese Entwicklungen war, dass die Könige sich "bald durch Gewaltanwendung gegenüber der Masse verhasst gemacht, bald ihr zu gefallen oder aus Schwäche die Zügel locker gelassen [hatten], so dass in Sparta lange Zeit Gesetzlosigkeit und Unordnung herrschten". Den unschönen Verhältnissen sei übrigens auch Lykurgs Vater zum Opfer gefallen, der König von Sparta war und bei dem Versuch, einen Streit zu schlichten, mit einem Schlachtermesser erstochen worden sei, wie Plutarch zu berichten weiß.

Daraufhin war die Regierung auf einen älteren Bruder Lykurgs übergegangen, der ebenfalls bald ermordet wurde, sodass nun Lykurg die Königsherrschaft angetragen wurde. Er lehnte jedoch ab, was ihm in der Bevölkerung einen guten Ruf verschaffte. Stattdessen ging er zuerst nach Kreta, wo er "die Verfassungen studierte und mit den angesehensten Männern in Verkehr trat". Später reiste er nach Asien, "um mit der kretischen einfachen und strengen Lebensweise die ionische Schwelgerei und Üppigkeit zu vergleichen", und weiter ging es nach Ägypten, wo er die strenge "Absonderung des Soldatenstandes von allen anderen Ständen" kennenlernte.

Jedoch riefen ihn die Spartaner immer eindringlicher zurück und "selbst den Königen war seine Heimkehr nicht unerwünscht, denn sie hofften, dass sie, wenn er ihnen beistünde, die Menge weniger ungebärdig finden würden". Endlich zu Hause wurde er sofort mit Reformen beauftragt, und seine erste Aufgabe war, den Staat - "ungewiss schwankend und bald zu den Königen nach der Tyrannis hin, bald zur Menge nach der Massenherrschaft hin sich neigend" - zu stabilisieren. Dazu setzte er zwischen König und Masse einen Ältestenrat aus 28 "Geronten" der "dem Staat die sicherste Ruhe und Stetigkeit" verleihen sollte. Denn wenn die "Massenherrschaft drohte, schlugen sich die Ältesten auf die Seite der Könige, wenn aber eine Tyrannis zu entstehen schien, stärkten die Geronten das Volk" - wodurch Lykurg in der weiteren Antike zu den Befürwortern einer Oligarchie gezählt wurde.

Die "gewagteste politische Maßnahme" war laut Plutarch aber die "Landverteilung", die zum Ziel hatte, "Übermut, Neid, Verbrechen, Schwelgerei und die noch bedeutsameren und größeren Gebrechen eines Staates, Reichtum und Armut auszutreiben". Leider gibt uns Plutarch keine erschöpfende Auskunft, wie ihm das gelingen konnte - doch überredete Lykurg ihm zufolge das Volk, "den gesamten Grund und Boden zur Verfügung zu stellen und neu aufzuteilen, um danach alle gleich unter gleichen Lebensbedingungen zu leben und einen Vorrang nur durch die Tüchtigkeit zu erstreben". Daraufhin wurden den Bewohnern Spartas 9000 Lose Boden zugewiesen. 30.000 erhielten die Bürger Lakedeimons, wobei ein Los so groß war "das es einen Ertrag von 70 Scheffel2 [2] Gerste für den Mann, 12 für die Frau und eine entsprechende Menge an flüssigen Früchten brachte", was für "Wohlbefinden und Gesundheit" ausreichen sollte.

Das scheint erstaunlicherweise ohne gröbere Streitereien vonstatten gegangen zu sein - und erst als Lykurg die Verteilung des "Hausrates" anging, "um die Ungleichheit vollends auszumerzen", nahmen es die Leute "übel auf, wenn man ihnen die Sachen geradezu wegnahm". In diesem Zusammenhang dürfte Lykurg dann auch ein Auge ausgeschlagen worden sein, weshalb er nun "einen anderen Weg [beschritt], um diese Ungleichheit auszugleichen" - und der bestand aus der vermutlich ersten Währungsreform der Weltgeschichte. Ihr Ziel war "die Habsucht auch auf diesem Gebiet bekämpfen" und dazu "setzte er zuerst alles Gold- und Silbergeld außer Kurs und ordnete den Gebrauch nur eisernen Geldes an". Die neue Eisenwährung hatte nun "bei großem Gewicht und Volumen einen so geringen Wert, dass ein Tauschwert von zehn Minen einen großen Aufbewahrungsraum im Hause und zur Beförderung einen zweispännigen Wagen erforderte".

Der Erfolg soll überwältigend gewesen sein. So wären viele Verbrechen sofort verschwunden, denn "wer wollte schon stehlen, sich bestechen lassen, betrügen oder Raub verüben um einer Sache willen, die er nicht verbergen konnte, deren Besitz nicht glücklich machte". Dadurch "verschwand aller Luxus und die meisten unnützen und überflüssigen Gewerbe mussten wohl schon, auch ohne Verbot, zugleich mit der allgemeingültigen Währung aus dem Land verschwinden, da es keinen Absatz mehr für ihre Erzeugnisse gab". Unterbrochen wurde allerdings auch der kommerzielle Austausch mit anderen Regionen: "Das Eisengeld ließ sich auch nicht zu den anderen Griechen bringen, sondern war dort wertlos und verachtet, so dass man auch keine Flitterwaren aus dem Ausland kaufen konnte, keine Handelsfracht in die Häfen gesegelt kam und kein Lehrer der Beredsamkeit, kein Musiker, Dichter oder Bordellwirt Lakonien betrat".

Angestrebt war "absolute Gleichmacherei". Um das zu erreichen führte Lykurg "für die männlichen Bürger verpflichtende gemeinsame Mahlzeiten" ein - laut Plutarch sein "beste[r] politische[r] Schachzug". An diesen kargen Mahlzeiten mussten die Bürger teilnehmen - sie durften nicht "gelagert auf üppigen Polstern vor kostbaren Tischen im Finstern gemästet von den Händen ihrer Kochkünstler" zu Hause speisen. Hingegen sollten sich die Bürger voll und ausschließlich dem Kriegshandwerk widmen, das Lykurg mit höchster Effizienz vorantrieb und bei dessen Förderung er anscheinend wenig Tabus kannte: So wurden die Knaben mit sieben Jahren unter staatliche Obhut gestellt, härtestem Drill und Wettbewerb unterworfen und auch wechselseitig aufeinandergehetzt; homoerotische Verhältnisse zwischen Älteren und Jungen wurden gefördert um die Erfahrungsweitergabe und den Zusammenhalt in der Schlacht zu fördern, behinderte Babys wurden sofort ermordet und alte oder unfruchtbare Ehemänner mussten fähigen Spartanern ihre Frauen zwecks Kindeszeugung zur Verfügung stellen.

Möglich war das alles nur, weil sich die Spartaner in der angenehmen Situation befanden, dass sie das Land einst samt den Einwohnern erobert hatten und sich die ansässige Bevölkerung seither als eine Art von "Staatssklaven" hielten, die als "Heloten" bezeichnet wurden und "durch schwere Arbeit niedergehalten werden mussten". Aus heutiger Sicht positiv erscheint immerhin die Position der spartanischen Frauen, die (vielleicht auch weil sie die Aufsicht über die Heloten führten und dadurch an die Unterdrückung von Männern gewohnt waren) stärker war als überall sonst in Griechenland. Denn da die Männer permanent mit militärischen Übungen und Einsätzen beschäftigt waren, blieb die Führung des Hauses den Frauen überlassen, die auch bei den Staatsangelegenheiten ein zwar nur informelles, dafür aber entscheidendes Mitspracherecht genossen.

Solons "Lastenabschüttelung" in Athen

Um die Wende vom siebten zum sechsten vorchristlichen Jahrhundert, rund hundert Jahre nach Lykurg, hatten sich auch in Athen bzw. der "Attika"3 [3] die Ungleichheit verschärft. Die Macht lag in Händen einer kleinen Oligarchie - und wie Sparta hatte Athen jahrelang schwache Regierungen gehabt, die von der Oligarchie kontrolliert wurde. An Regierung und Rechtssprechung durfte nur teilnehmen, wer einen berittenen Soldaten ausrüsten und die passende Abstammung vorweisen konnte. Diesen "Hippeis" ("Ritter") waren alle höheren Ämter vorbehalten - und nach ordnungsgemäßer Amtsführung gebührte ihnen ein Sitz im "Senat", einem Rat von 401 Männern, der alle Ämter vergab, alle politischen Entscheidungen fällte und die Einhaltung der Gesetze überwachte.4 [4]

Die oberste Schicht lebte in den Städten, verachtete körperliche Arbeit und ließ ihre Güter von Knechten und Sklaven bewirtschaften. Am unteren Ende der sozialen Schichtung fanden sich kleine Bauern, die als Folge der Erbteilung über immer weniger Land verfügten und den kargen agrarischen Verhältnissen zunehmend ohne Reserven ausgeliefert waren. Folglich mussten sie sich nach jeder Missernte verschulden, galten dank ihres verbliebenen Landbesitzes aber noch immer als freie Bürger, die jedoch zu manueller Arbeit gezwungen waren, da es in Attika noch kaum Sklaven gab. Mit der Einführung der Geldwirtschaft und dem Aufblühen von Handel und Handwerk war mit den "Demiurgoi" zudem eine Mittelschicht aus Industriellen und Kaufleuten entstanden, die zunehmend mehr zum Staatshaushalt beitrug und auch entsprechenden Einfluss verlangte.

Jedoch waren die einfachen Bürger Attikas völlig von den Regierungsgeschäften ausgeschlossen (wobei es nicht einmal eine Volksversammlung gab, bei der sich das Volk zu wesentlichen politischen Fragen hätte äußern können). Seit etwa 30 Jahren galten zudem die Gesetze Drakons, nach denen heute noch besonders harte, "drakonische" Strafen benannt werden, weil sie auch für geringere Verbrechen oft nur den Tod als Strafe kannten. Allerdings konnten die einfachen Bürger bei Streitigkeiten mit einem Reichen die Gerichte ohnehin nicht anrufen (wobei laut Aristoteles diese Demütigung auch zuvor schon häufig zu Unruhen geführt hatte, als die Ungleichheit noch nicht solche Ausmaße angenommen hatte). Nun war die Situation allerdings "höchst kritisch" geworden, weil "die Ungleichheit zwischen Reich und Arm ihren Höhepunkt erreichte […] und das ganze niedere Volk bei den Reichen verschuldet war".

Damals entstand übrigens die heute noch übliche Bezeichnung eines mit Grund und Boden besicherten Kredits als "Hypothek". Denn die Gläubiger galten - bis die Schulden abgetragen waren - als "hypothetische Besitzer" des Landes, die anstelle des heute üblichen Eintrags in ein Grundbuch Marksteine einpflanzten. Wie Plutarch schreibt: "Entweder bearbeiteten (die Armen) das Land für sie und lieferten den Sechsten ab, oder wenn sie unter Verpfändung ihres Leibes Schulden aufgenommen hatten, wurden sie von den Gläubigern abgeführt, und dienten teils im Land als Sklaven, teils wurden sie in die Fremde verkauft. Viele waren auch genötigt, ihre Kinder zu verkaufen - denn kein Gesetz verbot das - und [wegen] der Hartherzigkeit der Gläubiger das Land zu verlassen".

Die dadurch verursachte "Solonische Revolution" bietet einen der wenigen Momente in der Geschichte, in dem große soziale Lösungen nicht von massenhaftem Blutvergießen begleitet waren, sondern planvoll und friedlich am Verhandlungsweg gefunden wurden.

Dabei konnte sich der Reformer Solon (anders als Lykurg) nicht auf eine besondere Abstammung stützen. Er gehörte zwar zur Oberschicht, zählte aber nicht zu den besonders Reichen, was Plutarch mit der übermäßigen Freigiebigkeit seines Vaters erklärt. Im Gegensatz zu den meisten seiner Standesgenossen hatte er sich jedoch im Seehandel engagierte und kam schon in jungen Jahren weit herum. Wenn Plutarch von Solons Vermögenslosigkeit spricht, ist das wohl in Relation zu den damaligen Reichtümern der Oberschicht zu sehen, die in dieser Zeit gerade enorm angewachsen waren. Weil das mit normalen landwirtschaftlichen Erträgen aber kaum möglich gewesen wäre und dem Adel die aktive Handelstätigkeit als unschicklich galt, dürfte der Zuwachs der großen Vermögen vor allem aus Finanzgeschäften, gestammt haben: also aus dem Geldverleih.

Die Armen ließen sich das aber ohnehin nicht auf Dauer gefallen und "die meisten und kräftigsten" schlossen sich zusammen, "um einen zuverlässigen Mann zum Führer zu wählen, die Ausgepfändeten aus der Schuldhaft zu befreien, das Land zu verteilen und überhaupt die Verfassung umzustürzen". Plutarch nennt die drei Gruppen, deren Interessen Solon unter einen Hut zu bringen hatte: "Die am Berg", die verarmten Besitzer winziger Landparzellen im kargen Bergland, "wollten die Demokratie. Die in der Ebene", denen das fruchtbare Land gehörte, "bevorzugten die Oligarchie. Und die am Meer", wo Handel, Finanzwesen und Industrie angesiedelt war, wollten "etwas von beidem, wodurch sie die beiden anderen Parteien daran hinderten, sich durchzusetzen".

Anscheinend wurde dieser zunehmend blutige Bürgerkrieg nur unterbrochen, wenn es äußere Gefahren zu bestehen gab, bei denen Solon erstmals als historische Figur in Erscheinung tritt und sich das persönliche Ansehen verschaffte, dass ihn später zum Reformator bestimmte. Zuvor hatte er sich bereits als Dichter, Sänger und Geschichtenerzähler hervorgetan und eine umfangreiche Reisetätigkeit entwickelt, wobei er Handels- und Bildungsreisen kombinierte.

Er hatte sich aber auch in zwei Angelegenheiten eingemischt, die wesentlich zum späteren Aufschwung Athens beitragen sollten. Eine davon war die Einnahme der Insel Salamis, die Athen dringend zur Errichtung eines leistungsstarken Seehafens benötigte, die zweite war die Befreiung des Orakels, das in die Hände des Volks der Kirrhäer gefallen war, welches hohe Abgaben für den Zugang verlangte. Beide Angelegenheiten konnte Solon in führender Position und unter Anwendung diverser Finten und Schmierenkomödien im Sinne Athens lösen, woraufhin sich die "einsichtvollsten Athener" an den Mann wandten, der mittlerweile als einer der "sieben Weisen" Griechenlands galt. Das taten sie mit der Begründung, dass er "allein oder doch am ehesten außerhalb des Streits stand, weil er weder Teil hatte an der Ungerechtigkeit der Reichen, noch von der Not der Armen mit ergriffen war".

Jedoch habe Solon erkannt, dass die "Schuld am Bürgerkrieg die Geldgier und Überheblichkeit der Reichen" trüge. Und nachdem das Orakel von Delphi Solon beauftragt habe, in Athen Frieden zu stiften, spielte er sein lyrisches Talent aus und versprach Armen wie Reichen in poetischer Form eine Rückkehr zu den "guten alten Verhältnissen". Dabei konnte er offenbar allen Seiten den Eindruck vermitteln, er würde ihre Interessen vertreten, weshalb auch erzählt wird, er habe beide Seiten "hinters Licht geführt und den Armen heimlich die Aufteilung des Landes und den Geldleuten die Aufrechterhaltung ihrer Forderungen versprochen.

Angeblich hatten sich die Führer beider Gruppen sogar darauf geeinigt, Solon "als dem Weisesten und Gerechtesten" die Tyrannis anzutragen, damit er seine Reformen ungehindert und wirkungsvoll durchführen könne, was Solon jedoch ablehnte. Aber wenn er auch auf die absolute Macht verzichtete, ging er doch nicht "allzu gelinde an seine Aufgabe heran und gab seine Gesetze weder mit schwächlicher Nachgiebigkeit gegen die Mächtigen noch zum Gefallen derer, die ihn gewählt hatten". Was er weder "durch gütliche Überredung", noch "durch einigen Zwang" durchzusetzen können glaubte, das setzte er seinen eigenen Worten nach um, indem er "Gewalt zugleich und Recht zusammenkoppel[te]".

Seine erste Aktion wurde als die "Lastenabschüttelung" bekannt, die laut Aristoteles so genannt wurde, weil man mit ihr tatsächlich eine drückende Last abschüttelte. Laut Plutarch wandte Solon hier erstmals einen Kunstgriff an, der den Athenern später generell nachgesagt wurde, "wenn sie etwa die Huren Freundinnen, die Tribute Beiträge, die Besatzungen der Städte Wachen und das Gefängnis Zelle nennen": Er versteckte "die hässlichen Dinge mit höflicher Umschreibung hinter hübschen und freundlich klingenden Worten".

Während als gesichert gilt, dass Solon verbot, mit dem eigenen Körper für Darlehen zu haften, ist das tatsächliche Ausmaß des Schuldenerlasses strittig. Plutarch schildert beide Varianten, neigt aber zur Auffassung, dass eine "komplette" Schuldenstreichung erfolgt sei, während Aristoteles5 [5] eher der zweiten Variante zuzuneigen scheint, die wie eine ausgesprochen moderne monetäre Lösung wirkt: Danach reduzierte Solon nur die Zinsen und ließ die Schulden nominell unverändert. In realiter verringerte er die Schuldenlast aber um rund ein Drittel, indem er das Talent (die höchste Währungseinheit in Athen) von 36 auf 26,2 Kilogramm Silber absenkte.

Plutarch dazu: "Er setzte die Mine, die bis dahin dreiundsiebzig Drachmen gegolten hatte, auf hundert Drachmen6 [6], so dass zahlenmäßig bei gleicher, wertmäßig aber geringerer Rückzahlung die Zahlenden einen erheblichen Vorteil hatten, ohne dass die Empfangenden einen Schaden erlitten". Jedenfalls erreichte er mit seinen Reformen das, was laut Plutarch "für den Bestand und die Eintracht [im] Staat" ausgesprochen förderlich war: "dass es keinen Armen und keinen Reichen unter den Bürgern gab".

Allerdings dürfte ihm in diesem Zusammenhang ein kleines Missgeschick passiert sein. Denn seine drei besten Freunde hatten mitbekommen, dass es zwar keine Neuverteilung des Landes, aber eine komplette Schuldenstreichung geben werde, woraufhin sie bei den Reichen Kredite aufnahmen und damit große Ländereien kauften. Solon wurde daraufhin vorgeworfen, er stecke mit ihnen im Bunde und habe sich gleichfalls auf diese Weise bereichert - dann aber wurde bekannt, dass Solon selbst fünf (nach anderen Quellen sogar 15) Minen verliehen hatte und der erste war, der diese nicht zurück verlangte.

Da er den Armen die erhoffte Neuverteilung des Landes verweigert hatte und die Reichen auf ihre Forderungen verzichten mussten, hatte er sich zwar auf beiden Seiten kurzfristig viele Feinde gemacht. Die Athener sollen jedoch den Nutzen seiner Maßnahmen bald erkannt haben, und sie "ließen von den gegenseitigen Beschimpfungen ab und feierten ein gemeinsames Opferfest, dass sie Lastenabschüttelungsfest nannten".

Anschließend gaben die Athener Solon noch weit umfassendere Vollmachten - und der machte sich damit an umfassende Reformen, schaffte die Gesetze Drakons ab und reformierte das Ehe- und das Erbrecht. Zwar etablierte Solon nun keine moderne Demokratie, sondern eine Art von ständischer Ordnung, bei der die politischen Einflussmöglichkeiten mit zunehmendem Vermögen anstiegen. Wesentliche Fragen wurden jedoch der Volksversammlungen zur Letztentscheidung überlassen, wo auch die ärmsten Bürger stimmberechtigt waren.

Der Einfluss dieser Versammlungen wurde zudem gesteigert - und das laut Aristoteles ganz bewusst - indem die Gesetze sehr unklar formuliert waren, so dass möglichst viele Streitfragen der Volksversammlung vorgelegt werden mussten. Erstmals konnte auch jeder die Gerichte anrufen, Klage erheben und Schadensersatz verlangen. Vor allem konnte nun jeder Bürger durch eigene Leistung (d.h. durch den Erwerb des Mindestvermögens) die Voraussetzung für den Eintritt in öffentliche Ämter schaffen und in der gesellschaftlichen Rangordnung nach oben kommen.

Obwohl die Einführung etwas holprig erfolgte (und später noch einige Tyrannen und Aufstände verzeichnet wurden), erhielt Athen von Solon ein Staatskonzept, dass sich Jahrhunderte lang halten und die Stadt zeitweise ökonomisch intellektuell und militärisch an die Spitze der antiken Welt bringen sollte. Er schwang sich, obwohl von Volk und Aristokratie anscheinend dazu aufgefordert, nach Vollendung des Reformwerkes auch nicht zum Tyrannen auf, sondern begab sich "auf zehn Jahre in die Fremde". Das tat er (wie uns der griechische Historiker Herodot überliefert) nicht "wie er vorgab, [um] sich in der Welt umzusehen, sondern, um nicht genötigt zu werden, irgend eines der Gesetze, die er gegeben hatte, wieder aufzuheben: Denn den Athenern selbst war es nicht möglich, dies zu tun, weil sie sich durch unverbrüchliche Eide gebunden hatten, zehn Jahre lang die Gesetze anzuwenden, die ihnen Solon gäbe" - was Solon mit "nichts als dem guten Willen und der guten Meinung des Volkes" geschafft hatte.


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