Erst Abschottung, dann Spaltung?
Beim EU-Gipfel in Brüssel stehen sich Merkels "Koalition der Willigen" und die Osteuropäer unversöhnlicher denn je gegenüber. Auch die Türkei heizt die Spannungen an
Es ist schon erstaunlich, wie schnell der Wind in Brüssel dreht. Jahrelang war es für die EU kein Problem, dass Flüchtlinge ungehindert nach Spanien, Malta, Italien und schließlich auch Griechenland einreisen konnten. Als der Ansturm in der Ägäis im September einen dramatischen Höhepunkt erreichte, forderte niemand einen "Schutz der Außengrenzen". Im Gegenteil: Viktor Orban aus Ungarn war der Böse, weil er es wagte, Zäune hochzuziehen.
Drei Monate später, rein zufällig kurz nach dem CDU-Parteitag in Karlsruhe, kommen aus Brüssel ganz andere Töne. Nun will die EU-Kommission plötzlich eine eigene Küstenwache aufbauen, die zur Not auch gegen den Willen Griechenlands die Seegrenze "sichern" soll. Sie folgt damit nicht nur den Forderungen Orbans und der osteuropäischen Hardliner. Auch Kanzlerin Angela Merkel fordert nun, die Grenze zu sichern. Und zwar schnell.
Und so rückte der Vorschlag, der erst am Dienstag in Straßburg vorgestellt worden war, sofort auf die Tagesordnung des EU-Gipfels. Und alle 28 EU-Staaten waren spontan begeistert. Es gab zwar noch eine Diskussion um die Frage, ob die vorgesehenen 1500 Grenzschützer auch ohne Zustimmung eines EU-Staats mobilisiert werden dürfen. Ratspräsident Donald Tusk forderte "schmerzhafte Schritte". Doch am Ende stimmten auch Polen und Ungarn zu.
Das neue, harte Grenzregime soll nun im Eilverfahren eingeführt werden, bis Juni 2016 wird mit Beschlüssen gerechnet. Kurz darauf sorgte eine zweite Meldung für Erleichterung: Die Türkei führt eine Visumpflicht für Syrer ein. Sie soll vom 8. Januar an gelten, kündigte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Brüssel an. Sie dürfte zwar nur Migranten treffen, die aus Drittstaaten wie Jordanien oder Ägypten einreisen - und nicht Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsgebieten.
Dennoch ist es das Signal, auf das Merkel und andere Freunde der Türkei sehnlichst gewartet haben. Die Türkei schottet sich wunschgemäß ab, die Grenze zu Syrien ist schon weitgehend dicht. Nun muss nur noch Griechenland mitziehen, zur Not mit neuem Druck, und die Debatte um "Obergrenzen" hat sich erledigt. Doch wer glaubt, damit sei die Flüchtlingskrise abgehakt, täuscht sich.
Beim Geld hört die Einigung auf, bei der Umverteilung der Flüchtlinige sowieso
Denn die Türkei fordert für ihr Entgegenkommen an die Europäer einen hohen Preis. Sie möchte Geld sehen - zunächst drei Milliarden Euro hatte die EU Ende November auf einem von Merkel initiierten Sondergipfel mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu versprochen. Und sie will syrische Flüchtlinge nach Europa exportieren, auch das ein Versprechen der Kanzlerin.
Beide Forderungen führen in der EU zu neuen, schwer lösbaren Konflikten. Denn die 28 Mitgliedstaaten können bisher nicht mehr als eine Milliarde Euro bieten, die aus dem EU-Budget freigeschlagen werden soll. Die restlichen zwei Milliarden möchte niemand aus der eigenen Tasche finanzieren, eine ursprünglich für den EU-Gipfel angekündigte Einigung wurde aufs nächste Jahr verschoben.
Noch schwerer fällt die Umsiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei. Schließlich hat es die EU bisher nicht einmal geschafft, 160.000 bereits in Griechenland und Italien angekommene Migranten umzuverteilen. De facto ist der Plan, der gegen die Stimmen Ungarn und Sloweniens angenommen wurde, gescheitert. Gerade einmal 232 Flüchtlinge wurden bisher über die EU-Quote verteilt.
Der von Merkel und Kommissionschef Jean-Claude Juncker lancierte Plan, nun noch einmal zusätzlich 400.000 oder 500.000 Syrer aus der Türkei nach Europa zu holen, scheint vor diesem Hintergrund völlig illusorisch. Auch dass diese "legalen" Flüchtlinge auf die Quote für die "Illegalen" angerechnet werden sollen, wie Juncker überraschend verkündete, macht die Sache nicht besser.
Aus der "Koalition der Willigen" wird den "Unwilligen" gedroht - mit Geldentzug
Um ihr Ziel doch noch zu erreichen, versuchte es Merkel mit einem Trick: Noch vor dem EU-Gipfel scharte sie eine "Koalition der Willigen" um sich. Damit es nicht allzusehr als deutsche Kopfgeburt auffiel, durfte Merkels neuer Freund Werner Faymann in die österreichische EU-Vertretung nach Brüssel einladen. Der Sozialdemokrat sollte linke Regierungschefs überreden, Merkel wollte sich um Christdemokraten und Liberale kümmern.
Doch die Charmeoffensive zeigte nur sehr begrenzte Wirkung. Zwar nahmen diesmal drei Länder mehr teil als beim ersten Treffen Ende November. Portugal, Frankreich und Slowenien sind hinzugekommen. Zusammen mit Belgien, Finnland, Griechenland, Luxemburg, den Niederlande und Schweden geben sie dem Merkel-Kreis mehr Gewicht.
Doch Frankreichs Staatschef Francois Hollande ließ sich entschuldigen, Italien war gar nicht vertreten - genauso wenig wie Polen oder andere osteuropäische Länder. Die Elferrunde kann also nicht für sich beanspruchen, für die Mehrheit der 28 EU-Länder zu sprechen, auch wenn Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz mit dabei waren.
Vor allem brachte sie keine Ergebnisse. Die elf Willigen konnten sich auf keine Zahl einigen - weder beim Geld für die Türkei, noch bei den Kontingent-Flüchtlingen. Belgien und die Niederlande wollen gar keine Migranten mehr übernehmen, Griechenland kann nicht mehr, Frankreich hat andere Probleme. Mehr als 50.000 dürften es am Ende nicht werden, ließ Faymann durchblicken.
Doch statt das eigene Scheitern einzuräumen, luden die "Willigen" ihren Ärger bei den "Unwilligen" ab. "Wer mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhält als er einzahlt, sollte sich bei einer fairen Verteilung der Flüchtlinge nicht einfach wegducken", sagte Faymann der "Welt". Wer sich dennoch verweigere, mache es "Nettozahlern wie Österreich künftig sehr schwer, weiterhin so viel Geld einzuzahlen".
Das ist eine kaum verhüllte Drohung, den Osteuropäern den EU-Geldhahn zuzudrehen. Unterstützt wurde sie von SPD-Mann Schulz: Faymanns Worte zeigten, "wie dramatisch die Lage ist", sagte er. Später setzte Schulz noch einen drauf: Es gehe nicht, dass die Osteuropäer Merkel die Solidarität verweigern, "die Spaltung der Europäischen Union in dieser Frage ist unübersehbar."
Die Frage ist nur, wer hier der Spalter ist - und ob sich der Riss noch kitten lässt. Bis zum Frühjahr, so hieß es am Rande des EU-Gipfels, sei noch Zeit. Doch wenn die Grenzen bis dahin nicht abgeschottet, die türkische Rechnung bezahlt und die Kontingent- und Quoten-Flüchtlinge verteilt sind, dürfte es zum Showdown kommen. Es könnte der Anfang vom Ende der EU-28 sein.
Merkels "Koalition der Willigen" liebäugelt schon mit der Idee eines "Mini-Schengen", ohne die Osteuropäer. Aber auch Wolfgang Schäubles alte Idee eines deutsch dominierten "Kerneuropas" findet wieder neue Anhänger. Die Frage ist nur, ob Frankreich oder Italien bei Merkels Kern wären. Bei diesem EU-Gipfel sah es nicht danach aus.