Es bleibt ja in der Familie
Die Weibchen der Großen Hufeisennase teilen sich die Männchen mit ihren weiblichen Verwandten und festigen so die Familienbande.
Polygynie definiert der Duden als Vielweiberei, als Ehegemeinschaft eines Mannes mit mehreren Frauen. Die Vorstellung jedoch, dass sich Enkelin und Großmutter dabei denselben Sexualpartner teilen könnten, fällt vermutlich auch in den Kulturen aus dem Rahmen, in denen Polygynie praktiziert wird. Bei den Weibchen der Großen Hufeisennase (Rhinolophus ferrumequinum) allerdings ist das eher die Regel, denn die Ausnahme. Bei ihnen bleiben die „Liebhaber“ in der Familie. Trotzdem wird Inzucht vermieden. Dies ist das Ergebnis einer Langzeitstudie von Biologen der Universität London und der Universität Bristol.
Etwa sieben Zentimeter (ohne Schwanz) groß wird die Große Hufeisennase, eine Fledermausart; mit einer Flügelspannweite von bis zu 40 Zentimeter ist sie die größte europäische Hufeisennasenart. Auf dem Rücken besitzt sie ein graubraunes, leicht rötlich getöntes Fell, am Bauch geht es in ein Grauweiß über. Ihre Größe sowie die Ausprägung des „Sattels“ auf der Nase machen die Art unverwechselbar. Ebenso markant ist aber auch ihr Paarungsverhalten, wie ein Biologenteam des Queen Mary Colleges der University of London und der University of Bristol unter Leitung von Stephen Rossiter jetzt im aktuellen Nature dokumentiert hat.
Treue bewahrt vor Inzucht
Üblicherweise leben die Weibchen einer Hufeisennasen-Kolonie in größeren Gruppen zusammen und teilen sich einen Schlaf- und Brutplatz. Die Männchen hingegen frönen dem Dasein als Einzelgänger in ihren Revieren. Nur zur Paarungszeit suchen sie Frauengesellschaft auf – und dabei kommt es zu interessante Verbindungen, wie die britischen Biologen herausfanden.
Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren untersuchten sie das Brutverhalten von rund 40 Weibchen der Großen Hufeisennase, die in Woodchester Mansion in Gloucestershire ansässig sind. Mittels der Genotypisierung der einzelnen Tiere anhand von Gewebeproben aus den Flügeln erstellten die Forscher Stammbäume, an denen sich die Verwandtschaftsverhältnisse und damit das Paarungsverhalten ablesen ließen.
Zu ihrer großen Überraschung stießen sie darauf, dass die Weibchen sich bevorzugt mit demselben Partner wie Mutter oder Großmutter paarten. Dieses Verhalten führte zu erstaunlichen Konstellationen, aber auch Verirrungen: In einigen Fällen waren ein Weibchen und ihre Halbtante mütterlicherseits auch Halbschwestern auf der väterlichen Seite!
Nun ist bekannt, dass Fortpflanzungsstrategien, die enge Verwandtschaftsbeziehungen bei sozialen Arten schaffen, die Fitness des Individuums erhöhen, sie können allerdings auch zu Inzucht führen. Die Weibchen der Großen Hufeisennase stellen durch ihre Partnerwahl solche engen verwandtschaftlichen Verhältnisse her. Anzeichen von Inzucht konnte das Team um Rossiter jedoch nur in wenigen Fällen feststellen (bei 16 von 350 Nachkommen). Der Grund: die Weibchen sind ihren Partnern in der Regel über mehrere Jahre treu.
Starke Familienbande erhöhen die Kooperation
Wie hat sich dieses äußerst komplexe Paarungsverhalten entwickelt? Die Biologen vermuten, dass beides – die Treue der Weibchen und die Polygynie – dazu dienen, die verwandtschaftlichen Bande zu stärken und die Kooperation innerhalb der Gruppe zu erhöhen. „Eine Möglichkeit ist, dass wenn man die verwandtschaftliche Nähe erhöht und die Sexualpartner teilt, die sozialen Beziehungen gestärkt und die Kooperation innerhalb der Kolonie gefördert wird“, vermutet Rossiter. „Außerdem hat die Studie noch den zweiten Weg entdeckt, mit dem diese Fledermäuse die verwandtschaftliche Nähe erhöhen: indem die Weibchen über viele Jahre zu den gleichen Männchen zurückkehren.“
Bei der Ausbildung von sozialem Verhalten spielt Verwandtschaft eine große Rolle. Dies wurde in der Forschung besonders am Beispiel sozialer Insekten wie Termiten mehrfach analysiert. Rossiter kritisiert in diesem Zusammenhang, dass sich die meisten dieser Studien zu wenig mit dem Anteil der weiblichen Tiere an der Partnerwahl auseinandersetzten, obwohl es hinreichend Beispiele dafür gebe, dass Weibchen ihre Partner ganz gezielt zur Erhöhung der Fitness ihrer Sprösslinge auswählten.
Unsere Ergebnisse zeigen die Komplexität, die dem polygynen Verhalten zugrundeliegt und beleuchten eine potenzielle neue Route, über die die Partnerwahl des Weibchens die soziale Evolution beeinflusst haben könnte.
Die Forscher vermuten darüber hinaus, dass dieses ungewöhnliche Paarungsverhalten unter wilden Tieren verbreiteter sein könnte als bekannt.
Die Untersuchungen von Rossiter und seinem Team gehen weiter. Auch in den nächsten Jahren wird der Fledermausnachwuchs in Woodchester Mansion einem DNS-Profiling unterzogen werden.