Es geht um Leidenschaft!
Die ganze Wahrheit über die Klagelieder der Musikindustrie
Die Popbranche steckt bis über beide Ohren in der Krise. Vom 15.- 17. August 2002 trifft man sich zur 14. Popkomm in Köln zu Requiem und Totentanz. Wo geht die Reise hin: "Highway to Hell“ oder "Melodien für Millionen“? Wer Zukunft haben will, muss aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Und die sind wirklich Grund genug für eine schallende Ohrfeige zu Händen der Damen und Herren Musikverwalter.
Wann haben Sie sich das letzte Mal eine CD gekauft? Nein, keine irgendwo vom Wagen gefallene Promo-CD oder beim Mitbewerber erbetteltes Finish-Product. Gekauft! So richtig schön rein in den Plattenladen und 16,99 Euro auf den Tisch gelegt. Okay – Sie arbeiten in der Plattenbranche. Dann fragen Sie mal rum in der Familie, bei Freunden und Bekannten. Sie werden staunen. Und erschrecken. Musik ist fürchterlich out. Man könnte fast auf den Gedanken kommen, sie liegt im Sterben. Die Verkaufszahlen dieses Jahr, dazu muss mein kein Prophet sein, werden markerschütternd ausfallen. Wer kümmert sich bei Ihnen im Hause eigentlich um die Sparte Requiem?
Copy kills Music, sagen die einen. Also alles die Schuld von pickeligen Internetpiraten, die fremde Töne im Netz stibitzen und brennen. Mal ehrlich, haben wir das nicht früher auch gemacht? Jedenfalls so ähnlich. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich aus dem Radio auf Kassette mitgeschnitten habe. Aber bitte in Dolby. Wenn der Moderator ins Liedende reingequatschte oder zu früh ausblendete, gab es jedes Mal kübelweise Protestpost und wutschnaubende Anrufe. Guten Moderatoren war damals des Hörers Wille noch Gesetz. Sie spielten fortan die Songs aus und machten Musikklau damit quasi legal. Der Plattenindustrie war das offenbar egal, es ging ja allen gut.
Alles Peanuts im Vergleich zum digitalen Zeitalter, mag man einwenden. Nun, dann bleibt die Frage, wie diese Rotzlöffeln von Internetpiraten so hundsgemein sein können? Majors in die Knie zwingen, indirekt Leute vor die Tür setzen, die Konjunktur verhunzen und damit am Ende Stoiber an die Macht bringen. Haben diese kleinen Ballerballer-Teufel denn gar keine Seele? Tja – aus Taschengeldsicht sind Handy, Spiele für PC und Konsole sehr teure Konkurrenten der nicht weniger exklusiven CD. Dass Moral beim Geld aufhört, lernen die Kids direkt von den Majors. Die Plattenmultis als skrupellose Geldvermehrer im feinen Zwirn, die je nach Marktlage auch mit Rüstungsgütern statt mit CDs handeln, wie es EMI vor wenigen Jahren belegte. Da ist das Raubkopieren dann auch noch politisch korrekt. Weil es die Richtigen trifft. Die globalisierten Kapitalisten.
Marketing wichtiger als die Musik
Der Hauptgrund im Brenner-Boom liegt jedoch anderswo. Nämlich in dem Mist an Musik, den die Plattenindustrie unters Fußvolk streut. Wenn zwei Hits auf einem Album sind, dann ist das schon viel. Der Rest ist meist überflüssig wie Baustellenlärm. Da brennt man sich doch lieber gleich die Highlights zusammen. Oder wartet – auch diesen Service bieten die Label – bis die nächste Kompilation auf den Markt kommt. Da sind ja dann alle Hits drauf. Von einem Interpreten auf der Kompilation das Album zu kaufen, das lohnt eigentlich nie. Ein sauberes Eigentor der Musikstrategen. Ja gibt es denn keine Alben mehr, die man durchhören kann?
Ein Hit, ist ein Hit, ist ein Hit. Die Hit-Maschine ist ein tolles Lotterie-Spiel für die Majors. Wenn eine Band keinen Hit raushaut, ist sie eben eine Niete. Sauber stromlinienförmig wird der Nachwuchs auf Chartbreaker geklont. Telegen muss er sein, ein bisschen Trällern reicht und den Rest erledigen Tonstudio und Werbung. Label-Praktikanten mögen sich gleich merken: Marketing ist viel wichtiger als Musik. Hauptsache Heavy Rotation. Dazu wird schnell noch für 50.000 Euro ein fesches Video gedreht und dann hängt das ganze Schicksal der Investition an einem 20-jährigen Musikredakteur mit Irokesenschnitt bei Viva oder MTV.
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist seelenloser Plastikpop ohne jede Idee. Sind vollkommen schmerzfreie Sendungen wie "Top of the Pops“ und immer neue Popstar-Bands in einer Kette endloser Gleichmacherei. Einweggruppen aus einer musikalischen Welt des Copy / Paste. Die Pet Shop Boys, also Chris Lowe und Neil Tennant, lästerten darüber jüngst in einem Artikel wie folgt: In den Hitparaden treffe man nur noch auf "junge Karrieristen, geboren in Fernsehshows und Talentwettbewerben; ausgesucht von Marketingleuten, die sich einbilden, sie könnten Musiker ersetzen. Der Hitparadenpop von heute gibt sich berechenbar und illusionlos, er hat nichts mehr mit Kreativität zu tun - und das ist katastrophal.“
Nachwuchs reift langsam wie guter Wein
Der glitzernde Traum, den die Popmusik einst präsentierte scheint perdu. Heute regiert der Schweiß. Der Angstschweiß in den Auswahlwettbewerben. Als im pop’schen Sinne unsexy gelten auch die meisten neuen Elektrotüftler, Remixer und DJs aus ihren unterbelichteten Kellerlöchern. Die Krise des Pop ist zugleich eine Krise der großen Stars. Herr Jackson klagt, Frau Carey wehklagt und dieser Sexbock ex-namens Prince – ja was macht der eigentlich? In Form offenbar nur Madonna, Britney und Robbie. Um den auslaufenden Vertrag des letzteren reißen sich jetzt schon die Majors. Abermillionen sind im Spiel, quasi Lebensabschnittsinvestitionen. Hoffentlich bleibt Robbie trocken.
Echte Stars haben eben den Vorteil, dass ihr Repertoire auch in vielen Jahren noch jemand hören will. Bei den No Angels ist das eher zweifelhaft. Und echte Stars - so richtige Musiker halt, mit Charisma, die noch Noten lesen können, lange Fingernägel zum Klampfen haben und auch mal Hotelzimmer zertrümmern – ja echte Stars, die kann man eben nicht einfach mal so von der Straße wegcasten. Nachwuchs reift langsam wie guter Wein. In der Tätigkeitsbeschreibung von A&Rs sucht man die Nachwuchsförderung vergebens. Man kommt so um zehn mit Sturbuck-Coffee und Sandwich ins Büro, fönt die Zahlen hitverdächtig, kotzt auf die ganze Popscheiße im Job und kümmert sich ab Mittag um Plätze auf der Gästeliste für das coolste Indie-Konzert am Abend. Du mach mal plus drei!
Liebe A&Rs, wenn wir schon bei der Aufgabenverteilung fürs nächste Jahr wären, dann dies noch: Denken Sie bitte an die Käuferschicht der 20+. Nicht nur Teenager brauchen was auf die Ohren - Erfolgsbeispiel Santana. Noch reifere Jahrgänge könnten Sie gut aus dem Repertoire bedienen. Und lassen Sie ab von dieser Hitsucht. Ich würde so gerne mal wieder ein Album kaufen, dass man ganz durchhören kann. Mit einem tollen Booklet drin, das geistreiche Nähe zu Band und Liedgut erzeugt. Ihren Chefs, den Herren Label-Leadern können Sie sagen, Sie sollen mit Macht der Majors den Spirit eines Indies suchen. Solange das Dinosauriersterben in der Musikbranche noch aufzuschieben ist.
Apropos aussterben. Es soll noch Leute geben, die nicht an das Aussterben physikalischer Tonträger durch das Web glauben. Wir leben in einer materiellen Welt. Tolle Sachen will man besitzen. Alles schmeißt man weg - Klamotten, Möbel, Geschirr –, nur Platten und CDs nicht. Musiksammlungen können so gut aussehen und lassen so tief blicken. Wenn einen die neue Bekanntschaft mit nach oben nimmt, wohin wandert dann wohl der zweite Blick? Und wie soll man denn ohne Tonträger Musik verschenken? Zum Geburtstag ein feuchter Händedruck mit den Worten "You’ve got mail!“. Ach ja, wo wir schon bei der Nostalgie sind. Vergessen Sie bitte nie: Musik ist ein Gemeingut, entstanden über Jahrhunderte aus der Inbrunst musikalischer Menschen. Es geht um Leidenschaft. Can you feel it?