Europa: Der dritte mögliche Pol?

Bild: European Commission

Die Entrüstung über Macrons Äußerungen: Er fordert eine eigene Position Europas gegenüber den USA und China. Die Transatlantiker geben sich schockiert. Was, wenn sie es sich zu einfach machen?

Der französische Präsident Macron hat nach sechsstündigen Gesprächen mit Chinas Staatschef Xi Jinping im Flugzeug nach Kanton gegenüber Journalisten Reflexionen über eine mögliche eigenständige Rolle Europas im derzeitigen Weltgeschehen geäußert. Kurz danach gab es, vorneweg in deutschen Medien, hauptsächlich entrüstete Reaktionen. Macron sei "auf dem Holzweg", war zu hören und zu lesen.

Die schnellste und lauteste Kritik kam von Norbert Röttgen, dem Spezialisten für Außenpolitik bei der CDU, in der Bild am Sonntag: "Macron scheint von allen guten Geistern verlassen", lautet die "Knallhart-Kritik", und dass Macrons Rhetorik gefährlich sei, weil er Europa mit seiner Naivität spalte und schwäche. Unverantwortlich sei seine Position. Hat der französische Präsident "nicht nur im Land, sondern auch in der Außenpolitik die Beziehung zur Realität verloren?", fragt Röttgens rhetorisch.

Aussagen aus dem Interview des Transatlantikers mit der Zeitung aus dem Springer-Verlag, zu dessen Essentials das transatlantische Bündnis gehört, rotierten am Ostersonntag in Nachrichtensendern im Viertelstunden-Takt als Top-Meldung.

Prominent herausgestellt wurde von der deutschsprachigen Springer-Zeitung das Interview, das Macron zwei Journalisten des Springer-Mediums Politico gegeben hat (englisch, französisch).

"Zu konziliant gegenüber China"

Bemerkenswert ist, dass dort – im Unterschied zum Interview, das Journalisten des französischen Mediums Les Echos mit Macron geführt haben – die Gefährlichkeit der Aussagen Macrons suggeriert oder gar unterstrichen wird.

Macron habe, nachdem Ursula von der Leyen die Dreierrunde verlassen habe, ein Vierstunden-Gespräch mit mit Xi Jinping geführt und habe danach einen "deutlich konzilianteren Ton" als die EU-Kommissionspräsidenten gegenüber Journalisten angeschlagen.

Am Ende des Politico-Artikels heißt es, dass der Elysée-Palast "einige Teile des Interviews, in denen der Präsident noch offener über Taiwan und die strategische Autonomie Europas sprach", herausgeschnitten habe.

Der härteste Vorwurf, der sich gegen Macron richtet, unterstellt, dass der französische Präsident mit seiner zu konzilianten Haltung, die mit geschäftlichen Interessen verknüpft ist, China dazu ermuntert, seine Macht- und Einschüchterungspolitik gegenüber Taiwan störungsfrei weiterzuverfolgen.

Bestätigendes Anschauungsmaterial bekam diese Perspektive durch ein chinesisches Militärmanöver. "China probt offenbar Abriegelung Taiwans", berichtete die Tagesschau am Montag. Die kurz nach dem Besuch Macrons und von der Leyens abgehaltenen Übungen würden sich "gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Taiwan richten", wird im Bericht der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, zitiert.

Europa soll kein Mitläufer des "Duopols" sein

Macron hatte auf die Frage von Journalisten von Les Echos zu Taiwan gesagt. Das Schlimmste wäre es, der Auffassung zu sein, dass die Europäer in der Taiwan-Frage nur dem folgen sollten, was die USA und China vorgeben, dass "wir Europäer Mitläufer (i. O. suivistes) sein sollten und uns dem amerikanischen Tempo und einer chinesischen Überreaktion anpassen sollten".

In Politico heißt es, dass Xi Jinping nach Aussage eines namenlosen Zeugen, der gegenwärtig war, sehr aufgebracht über Taiwan und den Besuch der taiwanesischen Präsidentin Tsai Ing-wen letzte Woche in den USA wie auch, dass außenpolitische Themen Chinas von den Europäern auf den Tisch gebracht wurden. Dies zu chinesischen Überreaktionen, zum US-Tempo gehört aktuell, dass man einen Zerstörer ins Südchinesische Meer geschickt hat.

Der größere Rahmen

Die zitierte Position Macrons zu Taiwan steht eingerahmt in einer Anfangsbemerkung zur Einheit Europas:

Als Europäer ist unsere Sorge unsere Einheit. Das war schon immer mein Anliegen. Wir zeigen China, dass wir vereint sind, und das ist der Sinn dieses gemeinsamen Besuchs mit der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Es sei wichtig, zu verstehen, wie China argumentiere, wenn es um Taiwan gehe, fährt er: "Auch die Chinesen sind um ihre Einheit besorgt, und Taiwan ist aus ihrer Sicht ein Teil davon." Dann kommt die Positionierung Europas:

Die Frage an uns Europäer lautet: Sind wir an einer Beschleunigung in der Taiwan-Frage interessiert? Nein.

Es liege im Interesse Europas aufzuwachen und nicht dem "Duopol" zu folgen, so Macron.

Warum sollten wir uns dem von anderen gewählten Tempo anpassen? An einem bestimmten Punkt müssen wir uns die Frage nach unserem eigenen Interesse stellen. Welches Tempo will China selbst gehen? Will es einen offensiven und aggressiven Ansatz verfolgen? Es besteht die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Strategie der Nummer eins und der Nummer zwei in dieser Frage. Wir Europäer müssen aufwachen. Unsere Priorität besteht nicht darin, uns in allen Teilen der Welt an die Agenda der anderen anzupassen.

Emmanuel Macron

Die Vorstellung, die er am Ende dieser Passage äußert, ist, dass Europa ein "dritter Pol" sein kann, "wenn wir ein paar Jahre Zeit haben, ihn aufzubauen". Es geht ihm um die "strategische Autonomie Europas" gegenüber den USA. Ohne diese Autonomie würde Europa aus der Geschichte ausscheiden, so Macron.

Dass dies Old-School-Transatlantiker, die sich mit substanzieller Kritik so schwertun wie Priester, gleich als "gefährlich" und "naiv" ins Reich der Häresie schicken, ist ihrerseits naiv und für Europa gefährlich.