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Europa auf dem Weg in die Katastrophe

Nach dem Lockdown ein Blackout? (Teil 1)

Abstract

Das europäische Stromversorgungssystem befindet sich in einem fundamentalen Umbruch. Was aus klimaschutzpolitischer Sicht unverzichtbar ist, führt durch eine nicht systemische Vorgangsweise zu einer immer größer werdenden Fragilität des Verbundsystems. Statt fundiertes Grundlagenwissen bestimmen Einzelinteressen, Ignoranz, Wunschvorstellungen und Aktionismus die Vorgangsweise, was in der größten Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg enden könnte.

Noch haben wir die Möglichkeit, diesen fatalen Pfad zu verlassen. Dazu wäre aber ein rasches und entschlossenes politisches Handeln erforderlich, das derzeit nicht erkennbar ist. Insbesondere in Deutschland, wo das durch den bevorstehenden Wahlkampf noch weniger zu erwarten ist.

So müsste umgehend ein systemischer Umbau des europäischen Stromversorgungssystems in robuste Energiezellen in die Wege geleitet werden, um die sich abzeichnende Störanfälligkeit zu reduzieren. Technisch wäre das kein Problem, da das notwendige Wissen vorhanden ist und dieser Umbau im laufenden Betrieb erfolgen könnte.

Die größte Hürde stellt unser bisher erfolgreiches großtechnisches Denken dar, das durch ein komplementäres Komplexitäts- und vernetztes Denken ergänzt und zur Maxime gemacht werden müsste. Dazu sind jedoch entsprechende Rahmenbedingungen erforderlich. Der derzeitige Weg geht aber in die gegengesetzte Richtung, in die Zentralisierung, womit aber ein zunehmend komplexer werdendes System nicht beherrschbar ist.

Die Stromversorgung ist unsere wichtigste Lebensader, ohne der unsere moderne Gesellschaft binnen weniger Tage zerstört werden könnte. Das sollten wir verhindern.

Executive Summary

Das Österreichische Bundesheer sowie die Österreichische Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV) rechnen binnen der nächsten fünf Jahre mit einem europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall ("Blackout") [1].

Besonders entscheidend sind hierfür die Entwicklungen in Deutschland, wo in den nächsten Monaten rund 20 GW gesicherte Leistung (acht GW Atom und zwölf GW Kohle) vom Netz gehen sollen. Bereits im Januar 2021 mussten nach der ersten Teilabschaltung (~ fünf GW) nach wenigen Tagen Kraftwerke, die stillgelegt werden sollten, wieder reaktiviert und zum Teil in den Hot-Stand-by-Modus versetzt werden.

Deutschland setzt derzeit den Zweiten vor dem ersten Schritt, indem systemrelevante Elemente entfernt werden, ohne gleichwertige Ersatzlösungen zur Verfügung zu stellen. Besonders kritisch wirkt sich das bei der systemkritischen Momentanreserve (der rotierenden Masse der Generatoren) aus, da diese bisher kaum in den Sicherheitsbetrachtungen eingeflossen sind.

Der deutsche Bundesrechnungshof kritisiert im März 2021: "Die Annahmen des BMWi für die Bewertung der Dimension Versorgungssicherheit am Strommarkt sind zum Teil unrealistisch oder durch aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklungen überholt. Zur Bewertung der Dimension Versorgungssicherheit am Strommarkt hat das BMWi kein Szenario untersucht, in dem mehrere absehbare Risiken zusammentreffen, die die Versorgungssicherheit gefährden können."

Besonders gravierend stellt sich die Speicherproblematik dar, ohne welche die steigende Volatilität in der Erzeugung durch die neuen Erneuerbaren nicht beherrschbar ist. Dabei müssen mehrere Zeitdimensionen, von inhärent (Momentanreserve) bis saisonal berücksichtigt werden. In Deutschland gibt es derzeit eine Speicherkapazität von rund 40 GWh (Österreich 3.300 GWh), bei einem gleichzeitigen Verbrauch von rund 1.500 GWh pro Tag!

In den letzten Jahren wurden in den meisten Ländern bisherige Kraftwerksüberkapazitäten stark reduziert.

Hinzu kommt, dass der Infrastrukturumbau (Netze, Speicher, Betriebsmittel) nicht mit der Geschwindigkeit der Abschaltungen bzw. den neuen Kraftwerksstandorten mithalten kann und um Jahre verzögert ist.

Bisher funktioniert das noch, weil Deutschland wie Österreich im gesamteuropäischen Verbundsystem (ENTSO-E) mit 36 Ländern eingebunden ist. Damit konnte bisher die Systemstabilität aufrechterhalten werden. Mitgehangen bedeutet jedoch auch mitgefangen und alle gehen gemeinsam unter, sollte etwas schiefgehen.

Am 8. Januar 2021 kam es zur bisher zweitschwersten Großstörung im europäischen Verbundsystem, welche wahrscheinlich durch zwei wesentliche Faktoren ausgelöst wurde: die reduzierte Verfügbarkeit von Momentanreserven und ein großflächiger Stromtransport (Stromhandel) vom Balken Richtung iberische Halbinsel.

Der Stromhandel soll gem. EU-Vorgabe bis 2025 massiv ausgeweitet werden. Gem. Vorgabe müssen bis 2025 mindestens 70 Prozent der Grenzkuppelstellen für den Stromhandel zur Verfügung gestellt werden, was ein Vielfaches der heutigen Praxis darstellt. Dafür wurde die Infrastruktur jedoch nie ausgelegt. Was im Alltag zu einer Optimierung führt, schafft gleichzeitig eine steigende Verwundbarkeit, da sich Störungen wesentlich rascher und flächiger ausbreiten können.

Das europäische Verbundsystem gehorcht nur einfachen physikalischen Gesetzen. Werden diese ignoriert _ was derzeit in vielen Bereichen passiert – droht ein Systemkollaps mit katastrophalen Auswirkungen, da derzeit niemand weiß, wie lange es dauern könnte, bis dieses System wieder hochgefahren werden kann. Ganz abgesehen von den unvorstellbaren Kaskadeneffekten und langwierigen Wiederanlaufzeiten in vielen anderen Bereichen. Damit drohen längerfristige und schwere Versorgungsunterbrechungen und -engpässe, auf die unsere Just-in-Time-Gesellschaft überhaupt nicht vorbereitet ist.

Für eine erfolgreiche Energiewende ist ein systemischer und koordinierter Systemumbau ("Energiezellensystem") im gesamten Verbundsystem erforderlich. Bisher dominieren jedoch Einzelinteressen, nationale Alleingänge und Wunschvorstellungen die Vorgangsweise, welche absehbar in Europa in die größte Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg führen!

Der Blick auf die Großstörungen

Am 8. Januar 2021 kam es zur bisher zweitschwersten Großstörung im europäischen Stromversorgungssystem (ENTSO-E/RG CE - Regional Group Central Europe). Diese verlief im Vergleich zur Ersten am 4. November 2006 noch sehr glimpflich. Damals mussten binnen 19 Sekunden zehn Millionen Haushalte in Westeuropa vom Stromnetz getrennt werden, um einen europaweiten Kollaps zu verhindern.

Diesmal waren "nur" große Unternehmenskunden in Frankreich und Italien betroffen, die sich für einen solchen Fall vertraglich dazu bereit erklärt haben. Durch die sich seit 2006 laufend verbessernden Vorsorge- und Kommunikationsmaßnahmen der 43 Übertragungsnetzbetreiber des europäischen Verbundsystems konnte die Störung nach rund einer Stunde behoben werden.

Daher hat auch kaum jemand mit dieser erneuten Großstörung gerechnet und niemand weiß, ob die vorgesehenen Sicherheitsmechanismen auch beim nächsten Zwischenfall rechtzeitig greifen werden. Im schlimmsten Fall könnte es zu einem europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall, einem sogenannten "Blackout", kommen, wie dies das Österreichische Bundesheer oder der Autor binnen der nächsten fünf Jahre erwarten [2]. Das Ereignis am 8. Januar 2021 [3] sollte daher als sehr ernst zu nehmende Warnung verstanden werden.

Seit Jahren steigen im europäischen Verbundsystem die Aufwände, um die Netzstabilität aufrechterhalten zu können. So sind etwa die österreichischen Engpassmanagementkosten [4], also jene Aufwände, um akut ein Blackout abzuwenden, von zwei Millionen Euro im Jahr 2011 auf 346 Millionen Euro im Jahr 2018 explodiert. Statt zwei Eingriffe waren binnen weniger Jahre Eingriffe an 301 Tagen erforderlich. Die Aufwände sind zwar 2019 und 2020 zurückgegangen, aber dennoch weiterhin auf sehr hohem Niveau. Die Ursachen liegen vor allem in der fehlenden Systemanpassung an die sich inzwischen stark geänderten Rahmenbedingungen, auch bedingt durch die notwendige Energiewende.

Fehlenden Speicher und Puffer

Wind und Sonne stehen nicht immer zur Verfügung und zum Teil kommt es zu erheblichen Abweichungen zwischen den Prognosen und der tatsächlichen Produktion. In einem System, wo während 31.536.000 Sekunden pro Jahr die Balance zwischen Erzeugung und Verbrauch [5] ausgeglichen sein muss, ist das eine enorme Herausforderung, da vor allem System-dienliche Speichern und Puffer fehlen, was nur durch weitreichende Kraftwerksinterventionen behoben werden kann. Das kann keine Dauerlösung darstellen. Zudem steigt durch die permanente Stresssituation auch die Störanfälligkeit des Gesamtsystems.

Während in Österreich theoretisch rund 3.300 GWh an Pumpspeicherkapazität zur Verfügung [6] stehen, sind es in ganz Deutschland nur rund 40 GWh. Ohne nennenswerte Ausbaupläne. Bei einem aktuellen Stromverbrauch von 60 bis 80 GW könnte Deutschland damit nicht einmal eine Stunde des eigenen Stromverbrauches decken. Ganz abgesehen davon, dass das technisch gar nicht möglich wäre, da nur elf GW an Engpassleistung zur Verfügung stehen.

In ganz Europa stehen derzeit Speicher mit einer Turbinenkapazität von rund 47 GW zur Verfügung, zwei Drittel davon mit Pumpmöglichkeit, um bei Stromüberschuss die Speicherbecken wieder füllen zu können. Damit kann nur ein Bruchteil des europäischen Verbrauches gedeckt bzw. zwischengespeichert werden.

Das Speicher-Thema reicht zudem von inhärent bis saisonal [7], wozu unterschiedliche Technologien erforderlich sind. Bei der bisherigen Energiewende wurde nämlich außer Acht gelassen, dass konventionelle Kraftwerke den Speicher in der Primärenergie (Atombrennstäbe, Gas, Kohle, Öl) integriert haben, womit man die ständigen Verbrauchsänderungen ausgleichen kann. Aber nun gibt es einen steigenden und zunehmend schwieriger zu prognostizierenden Verbrauch und gleichzeitig eine volatile Stromerzeugung. Zwei Dinge, die ohne entsprechende Speicher und Puffer nicht in Einklang zu bringen sind.

Power-to-X

Für die saisonale Speicherung gilt Power-to-X als große Hoffnung, insbesondere die Nutzung von Wasserstoff. Grundsätzlich klingt das sehr verlockend, da mit dem Gasnetz bereits eine bestehende Infrastruktur zur Verfügung stehen würde. Das dazu aber noch einige große Herausforderungen zu lösen sind, wird meist nicht erwähnt. Schon gar nicht, die Kosten.

Durch die Ankündigung einer großen finanziellen Förderwelle wurde aber eine Goldgräberstimmung ausgelöst und viele Ankündigungen überschlagen sich. Es ist zu erwarten, dass das eine oder andere Goldnugget auch gefunden wird. Aber das damit binnen der nächsten wenigen Jahre ein großer Durchbruch und eine breite Umsetzung möglich sein werden, sollte eher nicht erwartet werden. Wir brauchen aber rasch umsetzbare Lösungen, nicht erst in zehn oder 20 Jahren. Zum anderen wissen wir noch relativ wenig über die potenziellen Nebenwirkungen, etwa des Wasserdampfs, der bei der Rückverstromung im großen Stil freigesetzt wird. Was noch mehr bei der geplanten Methanisierung zu berücksichtigen ist, da hier die Auswirkungen bereits bekannt sind: Methan ist deutlich klimaschädlicher als CO2.

Widersprüchlichkeit

Ganz generell gilt, dass es keine Energieform gibt, die ohne Nebenwirkung wäre. Auch für Wind und PV-Anlagen werden enorme Ressourcen benötigt, was leider meist verzerrt wahrgenommen wird. Die Einzelanlage ist klein und überschaubar. Aber wenn die konkrete Leistungsfähigkeit und das auch noch über einen Zeitraum eines Jahres betrachtet werden, schaut die Welt gleich anders aus. Durch eine falsche Betrachtungsweise werden meistens Äpfel mit Birnen verglichen, oder Durchschnittswerte herangezogen.

Für den Betrieb ist aber nur relevant, welchen Beitrag die jeweilige Energieerzeugung für die permanent notwendige Balance gewährleisten kann. Also nicht statistisch übers Jahr gerechnet, sondern planbar, verlässlich und konstant. Würde das gemacht werden, wäre rasch klar, dass dazu weit mehr als nur eine Erzeugungsanlage erforderlich ist.

Genau diese Betrachtungsweise ist aber erforderlich, um einen systemischen Umbau unserer wichtigsten Lebensader sicherstellen zu können. Wir werden hier mit unserem entweder-oder-Denken nicht weiterkommen. Es braucht ein Sowohl-als-auch-Denken [8], um die vor uns stehenden Herausforderungen zu meistern. Der CO2-Ausstoß kann mit erneuerbaren Energien deutlich verringert werden, jedoch brauchen wir gleichzeitig auch andere Systemelemente, um die bisher gewohnte sehr hohe Versorgungssicherheit gewährleisten zu können.

Momentanreserve

Ein anderes kaum beachtetes und sehr kritisches technisches Detail betrifft die Momentanreserve [9], also die rotierenden Massen konventioneller Kraftwerke. Denn mit der Stilllegung von Atom- und Kohlekraftwerken, werden auch diese im großen Stil vom Netz genommen. Die Schwungmassen der Synchrongeneratoren sind aber für die Frequenzerzeugung und -haltung von zentraler Bedeutung, da hier permanent ohne Steuerungseingriffe mechanische in elektrische Energie umgewandelt wird und umgekehrt. Ein rein physikalischer Vorgang.

Das kann man sich auch als große Stoßdämpfer für Belastungsstöße vorstellen, die bisher dafür gesorgt haben, dass das europäische Verbundsystem so stabil funktioniert. Diese werden aber nun nach und nach reduziert und gleichzeitig kaum ersetzt, weil PV- und Windkraftanlagen diese Systemfunktion nicht mitbringen. Damit steigt die Störanfälligkeit des Systems.

Die Momentanreserve ist ein inhärent vorhandener Energiespeicher, der einen kurzfristig auftretenden Energieüberschuss zwischenpuffern kann. Die erzeugte Frequenz des Wechselstromes zeigt daher auch immer an, ob ein Leistungsmangel oder ein Leistungsüberschuss im Gesamtsystem vorhanden ist. Über die Frequenz können daher IT-unabhängig Regeleingriffe zielgerichtet erfolgen und das Gesamtsystem stabil gehalten werden.

Umsetzungsgeschwindigkeit

Es gibt bereits Ansätze mit großen System-dienlichen Batteriespeichern und einer entsprechenden Leistungselektronik, wie sie etwa bereits in Südaustralien, Großbritannien oder nun auch in Texas zum Einsatz kommen, um die Momentanreserve nachzubilden und zu kompensieren. Das ist eine Ergänzung, welche jedoch niemals die komplette Momentanreserve ersetzen kann. Auch hier gilt wieder ein Sowohl-als-auch. Diese Systeme müssen aber im ENTSO-E RG CE Netz erst im größeren Stil implementiert werden. Wie so oft scheitert es nicht am Wissen oder an der Technik, sondern an der Umsetzung. Und zwar in der gleichen Geschwindigkeit, wie die anderen Maßnahmen getroffen werden.

Der deutsche Alleingang

Das größte Problem stellt derzeit der deutsche Alleingang dar, wo der Zweite vor dem ersten Schritt gesetzt wird: So werden in den nächsten Monaten konventionelle Kraftwerke im großen Stil abgeschaltet, ohne einen gleichwertigen Ersatz dafür zur Verfügung zu haben. Bisher wurde fast nur auf den raschen Ausbau von Wind- und PV-Kraftwerken Wert gelegt bzw. dieser massiv gefördert. Es fehlt jedoch an der unverzichtbaren Systemanpassung, beginnend bei den fehlenden Speichern und Puffer und geht weiter über die fehlenden Transportmöglichkeiten, also Leitungen.

Hinzu kommt, dass der Strom nicht mehr nur im Einbahnverkehr verteilt werden muss, sondern dass die bisherigen Konsumenten immer häufiger auch zu Produzenten, also zu sogenannten Prosumern werden und es dadurch auch zu Lastflüssen in die entgegengesetzte Richtung kommt, wofür das System und die Schutzeinrichtungen nie ausgelegt wurden.

Außerdem wird davon ausgegangen, so zumindest die aktuellen Planungspapiere, dass Deutschland in Zukunft einfach bei Bedarf Strom aus den Nachbarländern importieren wird [10]. Nur wird die Rechnung ohne Wirten gemacht. Denn immer, wenn es in den vergangenen Jahren eng wurde, haben diese Länder aus Deutschland importiert. Außerdem werden überall konventionelle Kraftwerke stillgelegt. Und das immer irgendwo der Wind weht, ist eine Mär, die der Realität nicht Stand hält.

Ganz abgesehen davon, dass dafür die Transportinfrastruktur fehlt. Der Wunsch nach einer europäischen Kupferplatte ist verständlich, entbehrt aber jeglicher Realität und ignoriert physikalische Rahmenbedingen. Dies hat auch kürzlich der deutsche Bundesrechnungshof im Bericht zur "Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit" [11] festgestellt: "Die erwartbaren Engpässe im Stromnetz werden bis zum Jahr 2025 nicht beseitigt werden können". Des Weiteren wurde festgehalten, dass: "wesentliche Annahmen, auf denen die derzeitige Bewertung der Versorgungssicherheit am Strommarkt beruht, unrealistisch oder überholt sind."

Dezentrale funktionale Einheiten

Hinzu kommt, dass sich Millionen von Kleinstkraftwerken und neuen Akteuren nicht mehr mit der bisher erfolgreichen zentralen Struktur und Logik steuern lassen. Es braucht stattdessen ein "Orchestrieren" dieser Vielzahl von Komponenten [12] und Akteuren, die sich dann wie ein "Schwarm" selbstorganisiert durch eine für alle zugängliche Sicht auf die Situation im Gesamtsystem automatisch an der Gewährleistung der Versorgungssicherheit beteiligen.

Das erfordert jedoch eine Neustrukturierung in sogenannte robuste Energiezellen [13], da die steigende Komplexität nicht anders beherrschbar sein wird. Denn komplexe Systeme lassen sich nicht zentral steuern [14], sie erfordern vielmehr dezentrale autonome Einheiten [15], wo Bedarf, Speicherung und Erzeugung möglichst lokal bzw. regional ausgeglichen werden und nicht wie derzeit, wo Probleme großräumig verschoben werden. Dabei sind auch systemübergreifende Synergien (Strom, Wärme, Mobilität) zu nutzen. Es geht also um eine ganzheitliche Energieversorgung in zellularen Strukturen, wozu häufig erst ein umfassendes Umdenken erforderlich ist.

Ein solcher Ansatz steht auch nicht im Widerspruch zum bisherigen Großsystem, das auch weiterhin benötigt wird, da große Industrieunternehmen oder Städte noch länger nicht anders versorgt werden können. Aber man kann mit diesen dezentralen Strukturen und funktionalen Einheiten die Robustheit des Gesamtsystems Bottom-up und im laufenden Betrieb, ohne Unterbrechungen, erhöhen. Zellularen Strukturen sind nicht so effizient wie unser bisheriges Großsystem, was aber nur so lange stimmt, bis es zu einer Großstörung in Form eines Blackouts kommt.

Denn dann würden mit einem Schlag alle bisherigen Effizienzgewinne vernichtet und unfassbare gesellschaftliche Schäden verursacht werden. Resilienz und Robustheit stehen im Widerspruch [16] zu unserem rein betriebswirtschaftlich motiviertem Effizienzdenken, wodurch gerne auf die überlebenswichtigen Redundanzen und Reserven verzichtet wird.

Keine hundertprozentige Sicherheit

Hinzu kommt, dass es schlicht und einfach kein ausfallsicheres System gibt, wie das die europäischen Übertragungsnetzbetreiber bereits 2015 in ihrem Untersuchungsbericht zum Blackout in der Türkei [17] klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht haben: "A large electric power system is the most complex existing man-made machine. Although the common expectation of the public in the economically advanced countries is that the electric supply should never be interrupted, there is, unfortunately, no collapse-free power system."

Steigende Komplexität

Daher sollten wir von der Natur lernen, wo alles Lebendige in zellularen Strukturen organisiert ist. Das hat sich offensichtlich bewährt und überlebt. Denn das, was zwar als dezentrale Energiewende gefeiert wird, ist derzeit alles andere als dezentral. Die gesamte bisherige Energiewende funktioniert nur aufgrund des vorhandenen zentralisierten Systems mit den erforderlichen Speichern und Puffern. Auch die propagierten "Smart Grid"- und Flexibilisierungsmaßnahmen hängen von einer umfassenden zentralisierten IT-Vernetzung und damit von einer steigenden Komplexität ab. Damit ergeben sich neben der Gefahr von Cyber-Angriffen weitere kaum beachtete Nebenwirkungen.

Komplexe Systeme

Komplexe Systeme weisen eine Reihe [18] von unangenehmen Eigenschaften auf, die mit unserer bisher erfolgreichen linearen Denkweise und Maschinenlogik nicht beherrschbar sind. So steigen mit der Anzahl der Akteure und Vernetzung die Komplexität und somit die Dynamik, was wir ja laufend beobachten können. Wir kommen kaum mehr hinterher.

Gleichzeitig sinkt die Prognostizierbarkeit des Verhaltens des Systems, weil es zu selbstverstärkenden Rückkopplungsprozessen kommen kann, wie wir diese gerade beim Kohleausstieg sehen: Immer mehr Kraftwerksbetreiber möchten frühzeitig aussteigen, weil sich der Betrieb nicht mehr lohnt. Gleichzeitig haben wir in den vergangenen zehn Jahren die bisher tatsächlich vorhandenen Überkapazitäten weitgehend abgebaut, womit immer weniger Handlungsspielraum bleibt.

Herbert Saurugg ist internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV), Autor zahlreicher Fachpublikationen sowie Keynote-Speaker und Interviewpartner zur europaweiten Strom-Infrastruktur sowie Versorgungsausfällen.

Er beschäftigt sich seit zehn Jahren mit der steigenden Komplexität und Verwundbarkeit lebenswichtiger Infrastrukturen sowie mit den möglichen Lösungsansätzen, wie die Versorgung mit essenziellen Gütern wieder robuster gestaltet werden kann. Unter www.saurugg.net betreibt er dazu einen umfangreichen Fachblog und unterstützt Gemeinden, Unternehmen und Organisationen bei der Blackout-Vorsorge.


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[1] https://www.saurugg.net/blackout
[2] https://www.saurugg.net/2020/blog/krisenvorsorge/blackout-gefahr-sehr-real-bundesheer-ruft-zur-vorsorge-auf
[3] https://www.saurugg.net/2021/blog/stromversorgung/bedenkliche-ereignisse-2021
[4] https://www.saurugg.net/blackout/risiko-eines-blackouts/aktuelle-situation/#epm
[5] https://www.saurugg.net/blackout/das-europaeische-stromversorgungssystem
[6] https://www.saurugg.net/blackout/risiko-eines-blackouts/aktuelle-situation/#speicher
[7] https://www.saurugg.net/energiezellensystem/die-zeit-in-der-elektrischen-energieversorgung
[8] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/#sowohl-als-auch
[9] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/#momentanreserve
[10] https://www.saurugg.net/2019/blog/stromversorgung/alle-wollen-importieren-nur-niemand-sagt-woher-der-strom-dann-wirklich-kommen-soll
[11] https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/sonderberichte/langfassungen-ab-2013/2021/umsetzung-der-energiewende-im-hinblick-auf-die-versorgungssicherheit-und-bezahlbarkeit-bei-elektrizitat-pdf
[12] https://www.saurugg.net/2018/blog/stromversorgung/weckruf-orchestrieren-statt-steuern
[13] https://www.saurugg.net/energiezellensystem
[14] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/vernetzung-komplexitaet
[15] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/vernetzung-komplexitaet/#systemdesign
[16] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/resilienz-und-anpassung
[17] https://www.entsoe.eu/Documents/SOCdocuments/Regional_Groups_Continental_Europe/20150921_Black_Out_Report_v10_w.pdf
[18] https://www.saurugg.net/hintergrundthemen/vernetzung-komplexitaet/